Wolfs Trott: Novelle
Von L. Manitas
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Buchvorschau
Wolfs Trott - L. Manitas
Tagebuch
Es will mir einfach nicht gelingen, mich von meinem alten Krempel zu trennen.
Nostalgisch abgelenkt wühle ich mich durch die Notizen und Aufzeichnungen meiner jungen Jahre, meine Gedichte, die es gerade mal geschafft hatten, sich auf Papier zu verewigen, meine jämmerlichen Versuche, Prosaisches in eine halbwegs lesbare Form zu bringen. All diese zu Wörtern, Worten und Sätzen geschmiedeten Buchstaben, die mich nun zu verhöhnen scheinen und die ich endlich auszumisten gedenke. Doch das ist schwer, zu viele Erinnerungen hängen daran.
Mein Blick fällt auf ein altes Tagebuch aus der Zeit, als ich glaubte, meine Erlebnisse nur aufschreiben zu müssen, damit sie sich anschließend auf magische Weise zu einer Geschichte formten. Lustlos und doch neugierig blätterte ich darin. Wer war dieser Mensch, damals, der dieses Tagebuch gefüllt hatte? War das ich oder jemand anders? Eine mir unbekannte Person, durch den Abgrund der Zeit von mir getrennt und entfremdet?
Plötzlich stolpere ich über einen knappen Eintrag mit der Überschrift »Wolf«.
Wunderlichen Schäfer getroffen. Hat mir abstruse Geschichte von einem sprechenden Wolf erzählt.
Mehr steht dort nicht. Doch das reicht. Mit entschiedener Gewalt drängen sich erste Erinnerungen an das diesem Eintrag zugrunde liegende Ereignis durch das Dickicht meiner Vergesslichkeit an die Oberfläche. Gleichzeitig wird mir bewusst, dass ich damals ein anderer Mensch gewesen sein MUSS; denn das Seltsame an diesem Wolf war gewiss nicht, dass er sprechen konnte. Es war etwas ganz anderes …
Entschlossen lehne ich mich zurück und erlaube meiner Erinnerung, mir die Geschichte noch einmal an die Oberfläche zu holen.
Schäfer
Wie jeden Tag, so begann ich auch an jenem Frühsommermorgen meinen Spaziergang, indem ich die Abkürzung über die Bahngleise nahm. Sie waren mir vertraut und ich wusste genau, wann ein Zug kam und wann nicht. Wie oft hatte ich am Bahndamm gesessen und dem Poltern eines schwer beladenen Güterzuges oder dem Rauschen eines vorbeieilenden Personenzuges gelauscht, zugesehen, wie die Waggons mit Licht und Schatten spielten, wie sie bizarre Formen schufen, einen Moment nur, um sie sogleich wieder auszuradieren und durch neue, noch großartigere Werke der Vergänglichkeit zu ersetzen.
Dieses Mal jedoch verweilte ich nicht, sondern wanderte über den alten Friedhof mit seinen majestätischen Eichen. Diese uralten Bäume erschienen mir stets wie ein vollkommener Gegenpol zu den von den Zügen erschaffenen fragilen Schatten, die ihre Sterblichkeit schamlos zur Schau stellten, indem sie schneller vergingen, als ein Atemzug dauerte. Die Eichen hingegen strotzten vor Kraft und Ewigkeit, obwohl den Tod bewachend – oder vielleicht deshalb; denn auch der Tod währt ewig.
Natur gegen Technik. Lag darin eine mir nicht verständliche Symbolik? Ich wusste es damals nicht – ich weiß es heute nicht.
Sinnend passierte ich das Totenfeld, bereit, mich der Schwermut hinzugeben, sodass ich nicht merkte, wie mich meine Wanderung zum Fluss hinunterzog. Dort unten, in der Aue, sah und hörte ich sofort die Schafherde, die dort grasend und blökend dafür sorgte, dass die Natur der Technik half, die Flussböschung durch Kurzhalten des Grases zu einem festen Wall gegen die Gewalten eines etwaigen Hochwassers zu befestigen.
Ich überlegte noch, ob ich denselben Weg wie die Schafe nehmen oder mich lieber in die entgegengesetzte Richtung bewegen sollte, um meine leichten, hellen Sommerschuhe nicht mit Schafkot zu beschmutzen, als mein Blick auf eine Trauerweide fiel, unter der eine dunkle Gestalt saß. Neben dieser Gestalt lag etwas – ein Paket vielleicht? – und so ging ich, neugierig geworden, zu dieser Weide hin.
Im Näherkommen erkannte ich, dass die Gestalt offensichtlich ein Schäfer war, an seinem traditionellen Mantel und Hirtenstab unschwer zu erkennen, der dort ausruhte und seiner Herde beim Grasen zusah. Das neben ihm liegende Paket hatte sich bereits wenige Schritte zuvor als Schäferhund entpuppt. Es war ein mächtiges Tier, mit schmutzig-grauem Fell und wachen, bernsteinfarbenen Augen. Offensichtlich war der Hund schon sehr alt und konnte deshalb nicht seinen Kollegen, zwei geschäftig hin und her rasenden Bordercollies, beistehen, um die Schafherde zusammenzuhalten. Er hob seinen mächtigen Kopf, da er mich nun bemerkt hatte, und sah mich einen Moment freundlich an; dann legt er sein schweres Haupt wieder auf seine Pfoten.
Der Schäfer sah mich ebenfalls an und deutete nach gründlicher Musterung meiner Person mit dem Kinn neben sich, ich möge mich dazusetzen. Obwohl ich eigentlich vorgehabt hatte, meinen obligatorischen Spaziergang nach ein paar belanglosen Worten fortzusetzen, nahm ich die Einladung an und setzte mich neben den Mann. Ich konnte nicht anders – irgendetwas faszinierte mich an diesem Kerl. War es seine Körperhaltung, die eine innere Ruhe ausstrahlte, wie ich sie noch nie bei einem Menschen gesehen hatte? Oder waren es seine Augen, braune, fast schwarze Augen, mit einem Blick, der zugleich das Nahe und das Ferne umfasste? War es sein Gesicht, dessen Alter ich nicht bestimmen konnte und das von Wind, Wetter und Sonne zu einer arkanen Landschaft modelliert worden war? Tiefe Täler, Hügel, Wälder und Ackerflächen, so schien es mir, waren in diesem