Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Ihr Tänzer war der Tod: Walther Rathenau und der Große Krieg
Ihr Tänzer war der Tod: Walther Rathenau und der Große Krieg
Ihr Tänzer war der Tod: Walther Rathenau und der Große Krieg
eBook302 Seiten3 Stunden

Ihr Tänzer war der Tod: Walther Rathenau und der Große Krieg

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Dem Tod hätte er gerne ins Auge gesehen. Daraus wird nichts. Er trifft ihn hinterrücks. Er, der Ästhet, stirbt keinen schönen Tod. Es gibt auch keine letzten Worte. Am 24. Juni 1922 macht sich Walther Rathenau, Außenminister der Weimarer Republik, auf den Weg zum Auswärtigen Amt. Es ist ein kühler Tag. Er fährt im offenen Wagen, weil er gerne noch seine Zigarre rauchen will. Vor einer Kurve wird sein Fahrzeug von einem anderen überholt. Zwei junge Leute in schwarzen Ledermänteln sitzen auf der Rückbank. Als sie etwa auf gleicher Höhe mit dem Wagen des Ministers sind, schießt einer von ihnen. Der andere wirft noch eine Handgranate hinterher.
Walther Rathenau war vielleicht verkannt, bestimmt gehasst, oft schwärmerisch verehrt. Wirkliche Freunde hatte er keine. Mit seiner Mutter spielte er jeden Tag nach dem Mittagessen eine Stunde vierhändig Klavier. Er kaufte sich ein Schloss in Freienwalde und baute sich eine Villa im Grunewald. Er sagte, dass er einfach lebe und keine Bedürfnisse habe. Er hatte wenigstens 80 Aufsichtsratsposten. Das wurde ihm übel genommen. Er wollte ein Mutmensch sein und fürchtete stets, ein Furchtmensch zu sein. Er war Jude und äußerte sich schlecht über die Juden. Erst Walther Rathenaus Ermordung durch Angehörige der Organisation Consul rief eine ungeheure Welle der Solidarität hervor. Seine Lebensgeschichte scheint nur auf diesen einen Punkt zuzulaufen, schicksalhaft.
Der Roman umspannt die Zeit vom Ersten Weltkrieg bis hin zu seinem gewaltsamen Tod an diesem Junimorgen 1922.
SpracheDeutsch
HerausgeberOsburg Verlag
Erscheinungsdatum15. März 2022
ISBN9783955102852
Ihr Tänzer war der Tod: Walther Rathenau und der Große Krieg

Ähnlich wie Ihr Tänzer war der Tod

Ähnliche E-Books

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Ihr Tänzer war der Tod

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Ihr Tänzer war der Tod - Sophia Mott

    Dem Tod hätte er gerne ins Auge gesehen. Daraus wird nichts. Er trifft ihn hinterrücks. Die erste Kugel tritt am Schulterblatt in den Körper ein, reißt das Verletzliche, Feingefügte mit sich und auseinander, Haut, Fleisch und Knochen bilden unbrauchbare Klumpen, die Wege verstopfen, Blut stauen, Luft abdrücken, drei weitere Kugeln durchbohren den Rücken, Weichteile, beinahe harmlos, bis die letzte durch den Hals schießt, die Unterlippe zerfetzt und den Unterkiefer zermalmt. Er, der Ästhet, stirbt keinen schönen Tod. Es gibt auch keine letzten Worte, der Mann der Erkenntnisse verstummt erkenntnislos, betrogen um das Erlebnis des Sterbens, von Schlägen getroffen, die alle Gedanken zermalmen, während der Körper vielleicht noch um Reflexe ringt, das Herz versucht weiter zu pochen, solange genug Blut im System zirkuliert, die Augen sehen, was im Kopf nicht mehr geordnet werden kann, die Ohren hören, was keinen Sinn mehr gibt, die Nerven Schmerzen melden, die alle Schmerzen betäuben. Am Ende ein Tier, keine Macht dem ordnenden Bewusstsein, keine Reflexion, nur die nackte Reaktion, das nackte Gefühl, das nackte Empfinden, so wie es war im Anfang und von Ewigkeit zu Ewigkeit.

    Wie hat es angefangen mit dem Ende? Vielleicht hat das Ende hier begonnen: Es ist das zweite Jahr des Großen Krieges und zwei Männer fahren gemeinsam zum Generalstab des Oberkommando-Ost, kurz Ober-Ost, nach Kowno in Litauen. Seit Jahren sind sie Konkurrenten, ob das Wort »erbittert« zutrifft, lässt sich nicht klären, da keiner von beiden die Erbitterung zugibt. Eine Nacht und einen Tag werden sie unterwegs sein. Sie werden sich gelegentlich unterhalten und nachts auf das Schnarchen des anderen hören müssen.

    Früher einmal, eine Ewigkeit ist es her, zum Beispiel im Jahr 1909, da fuhren noch die reichen russischen Familien auf dieser Strecke mit dem Nordexpress nach Biarritz und über Berlin zurück nach St. Petersburg oder Moskau, so wie die Nabokovs. Sie belegten fünf und ein halbes Abteil, die Eltern, die Geschwister, der Hauslehrer, die Zofe der Mutter, die Gouvernante, das Kindermädchen, der Diener und ein Dackel. Vladimir, der spätere Autor und Schmetterlingsforscher hat es aus der Sicht des kleinen Jungen geschildert, die fremden Bahnsteige, die fremden Bahnhöfe, die vorbeihuschenden Telegrafenmasten, ein sepiafarbenes Abenteuer.

    1915 geht es nicht mehr so unbeschwert herrschaftlich zu. Als klebte der Dreck der Schützengräben auf den Polstern, als hätten Sturmgewehre die Holzvertäfelung zerkratzt, Koppel die punzierte Lederverkleidung der Abteilwände aufgerieben. In den Schlafwagen-Coupés reisen fast ausschließlich Militärs. Es stinkt nach Alkohol und Zigarrendunst. Nur in wenigen Abteilen findet man die leichte Note von Kampfer und Kernseife der Rotkreuzschwestern.

    Geheimrat Felix Deutsch ist ein zäher Hund, aber Walther Rathenau ist sensibel. Olfaktorisch ist die Reise eine Zumutung. Auch Deutschs Eau de Cologne, verbunden mit seinem strengen Altmännergeruch, kann Walther kaum ertragen und das Rascheln der Zeitung, die er sich demonstrativ vors Gesicht hält. Bei Bernau ist Deutsch bereits eingeschlafen. Kurz vor Danzig dringt der Geruch einer Flatulenz in Walthers empfindliche Nase. Er springt auf und flieht in den Waschraum. Der stinkt noch unangenehmer als Deutschs Darmwinde. Er muss sich erbrechen. Als er sich den Schweiß von der Stirn wischt, betrachtet er sein bleiches Gesicht im kümmerlichen Licht der Lampe, die über dem Waschbecken hängt. Er ist jetzt 48 Jahre alt, Präsident der AEG, die sein Vater aufgebaut hat, Chemiker, Physiker, Schriftsteller, Philosoph, vielleicht auch ein bisschen Maler, Ästhet vor allem anderen, einer der geachtetsten und verachtetsten Männer des Reiches und es ist ihm dennoch nicht genug. Wann wäre es jemals genug? Und was, wenn es tatsächlich niemals genug wäre? Walther Rathenau sieht sich im trüben Spiegel und es schaudert ihn. Wer ist das?

    Aus dem Wasserhahn kommt nur ein dünnes Rinnsal. Er tupft Eau de Cologne auf sein Taschentuch und reibt sich noch einmal das Gesicht ab. Deutsch darf seinen sauren Atem nicht riechen, Walther würde sofort aus dem Zug springen, wenn er nur mit der Augenbraue zuckte.

    Der Geheimrat ist schrecklich wach, als Walther ins Coupé zurückkommt. Wo er denn bliebe? Er habe kolossalen Hunger. Lassen Sie uns in den Speisewagen gehen!

    Walther will sich nicht anmerken lassen, dass ihm noch immer schlecht ist, also wankt er Deutsch widerspruchslos hinterher. Im Speisewagen sitzen die Offiziere, die älteren mit gespannten Uniformjacken über ihren gewaltigen Bäuchen, die jüngeren mit zu viel Wachs in den gezwirbelten Bärten und alle mit einem Eisernen Kreuz am Kragen oder im Knopfloch, erste Klasse, zweite Klasse, aber keinesfalls klassenlos. Als die Zivilisten eintreten, rücken sie die Kreuze noch einmal zurecht. Sie erkennen ihn, natürlich, denkt Walther. Er war noch nie eine unauffällige Gestalt.

    Sie finden einen freien Tisch ganz hinten am Ende des Waggons. Deutsch fingert ein Zigarrenetui aus seiner Brusttasche und reicht es über den Tisch. Kurze Zeit später sitzen sie in Rauch gehüllt. Gleich geht es Walther besser: Wenn Rußland für ein Bündnis reif gemacht werden soll, so können nur die gewaltigen Schläge unserer Armeen diesem Ziel entgegen führen, sagt er laut.

    Beim Kellner bestellen sie eine Flasche Chablis und kaltes Huhn, das sich als zäh erweist. Deutsch kaut bedächtig. Walther schiebt den Teller nach drei Bissen weg. Wir müssen wenigstens in Frankreich durchbrechen, und wenn es eine halbe Million Menschen kostet. Im Kopf werden die Menschenmassen hin- und hergeschoben, wie auf einem Schachbrett. Läufer schlägt Turm, Turm schlägt Pferd, wieder 10 000 Männer futsch.

    Deutsch steht auf. Er möchte zurück ins Coupé. Es sei spät geworden. Walther will noch bleiben. Die Vorstellung, wieder mit dem schnarchenden Deutsch in einem Abteil eingepfercht zu sein, ist ihm unerträglich. Rathenau wendet sich noch einmal um, sieht seinen Reisegefährten freundlich nach allen Seiten grüßen, während er durch die Bewegung des Zuges von Tisch zu Tisch schlingert, und er sieht die eisigen Blicke der Herren in Uniform, spürbar die Verachtung, die ihnen als Zivilisten und als Juden entgegenschlägt.

    Er überlegt einen Moment, ob er sich auf Deutschs Platz setzen soll. Vielleicht ist ja eine Kontaktaufnahme zu den Herren möglich. Aber bestimmt ist Deutschs Platz noch warm. Rathenau bestellt einen Mokka und bleibt so sitzen, wie er sitzt, mit dem Rücken zur Gesellschaft. Es kommt auch niemand, um ihn zu stören. Also zieht er ein Heftchen aus der Brusttasche und beginnt, sich Notizen zu machen. Nach etwa einer Stunde hat er ein beinahe druckreifes Memorandum erstellt. Er beschließt, es am nächsten Tag von Kowno aus seinem Sekretär zu telegrafieren. Vielleicht nimmt er noch einen Courvoisier oder notfalls auch einen Bommerlunder. Dann wird es leichter, mit Deutsch in einem Abteil auszuhalten. Er dreht sich um und sieht, dass der Speisewagen vollkommen leer ist.

    Der Schaffner hat die linke Hälfte des Coupés in zwei Schlafkojen verwandelt. Deutsch liegt bereits oben. Für Walther ist die Liegefläche natürlich viel zu kurz. Er muss die Beine anziehen, seine Knie ragen in die Höhe, wenn er auf dem Rücken liegt. Wenn er sich aber auf die Seite dreht, hat er das Gefühl, herunterzufallen. Also bleibt er auf dem Rücken liegen.

    Warum haben sie überhaupt beschlossen, zusammen zu reisen? Deutsch hat Walthers Eintritt ins Direktorium der AEG hintertrieben und ihn mit dem Vorsitz des Aufsichtsrats abgespeist. Jetzt darf sich Walther wenigstens Präsident nennen. Die Fäden zieht weiterhin Deutsch. Wahrscheinlich glaubt er, dass sich Walther schon irgendwann von allein zurückziehen wird. Bei der Sache mit Lili hat er auch einfach abgewartet. Jetzt liegt er da und schläft so ruhig wie ein Säugling. Er schnarcht nicht einmal. Man hört ihn kaum atmen. Plötzlich wird Walther klar, dass auch Deutsch wach liegt.

    Walther setzt sich auf. Er zieht die Schuhe an und geht auf den Gang, starrt durch die klappernden Zugfenster hinaus in die Schwärze, er weiß, dass da draußen kleine Dörfer, Gehöfte, Siedlungen, deutsche, polnische, jüdische vorüberziehen. Aber er sieht nichts, gar nichts, kein Licht, keine Schemen, als wäre die Welt ausgelöscht, der Krieg ausgelöscht, die Unterschiede ausgelöscht, der Hass ausgelöscht, die Angst ausgelöscht. Könnte es nicht ewig so bleiben? Ewige Dunkelheit, in der alle gleich ungeschickt herumtappen und sorgsam darauf achten, dass sie nicht anstoßen, niemanden anrempeln, niemanden umrennen, nicht selbst fallen. Eine zärtliche, sorgsame Dunkelheit, in der man behutsam nach dem anderen tastet, statt ihn nach seinem Äußeren rasch und unwiderruflich in irgendeine Kategorie einzuordnen. Er presst die Stirn gegen die kalte Scheibe und spürt das Vibrieren des Glases.

    In Wirballen müssen sie umsteigen. Spurwechsel. Eine lästige Barriere für Material und Nachschub. Sie hat den Russen nichts genutzt. Die deutschen Armeen stehen im Norden kurz vor Riga und Dünaburg, weiter südlich hundert Kilometer vor Minsk.

    Der Bahnhof in Kowno hat schon bessere Tage gesehen. Dünnes Licht, Scheiben zerschlagen, Müll auf dem Perron. Der Neo-Renaissance-Empfangspalast für die reichen Weltenbummler ist jetzt Endstation der europäischen Verständigung. Im Hintergrund ein paar russische Mütterchen, die runden Gesichter fest von Kopftüchern umschlungen, Filzstiefel an den Füßen. Und orthodoxe Juden, unter breitkrempige Hüte geduckt. Walther kann sich einen Moment lang nicht von ihrem Anblick losreißen.

    Herr Doktor Rathenau! Hinter ihm steht Hauptmann Markau, im Frieden ein Mitarbeiter der AEG. Er sieht gut aus in Uniform, die Mütze schief auf dem Kopf, könnte beinahe ein Engländer sein vom Typus. Er soll sie ins Hotel begleiten.

    Der Bahnhofsvorplatz gleicht einem Heerlager. Hier und da brennen Feuer. Im flackernden Lichtschein erkennt man Zelte. Lastwagen und Fuhrwerke stehen kreuz und quer. In einem Gatter drängen sich schnaubend Pferde. Der Atem des Krieges riecht nach Holzqualm, Pferdeäpfeln und Benzin. Der Platz ist mit dicken Flusskieseln gepflastert. Sie sind glitschig vom Nieselregen, der, kaum wahrnehmbar, aber doch alles durchfeuchtend auf ihre Hüte rieselt. Achtung, sagt Markau und: Es sei nicht weit, es lohne nicht, einen Wagen zu nehmen. – Wir sind dabei, Ordnung zu schaffen. Er selbst sei mit der Leitung der Telegrafenabteilung betraut, erklärt Markau. Man sei entschlossen, der ausgesprochen rückständigen Provinz deutsche Werte zu vermitteln.

    Neben einem Karren liegt ein schwarzer Haufen. Auch im Zwielicht die Ahnung von etwas Kreatürlichem, im Todeskampf erstarrt. Markau zückt eine Taschenleuchte, der Lichtstrahl streicht über eine struppige, ausgemergelte Flanke. Ein krepiertes Pferd. Walther spürt eine wohlige Erregung. Das ist Krieg! Wenn sie ihn damals, als er jung war, hätten Offizier werden lassen, dann wäre er vielleicht auch hier dabei.

    Das »Hotel Levinsohn« ist requiriert. Es untersteht einem Unteroffizier. Der weist ihnen ihre Zimmer an. Sie sind muffig. Toilette und Bad auf dem Gang. Schwer zu ertragen. Das Bett wieder zu kurz. Bei einem Imbiss im leeren Speisesaal wird besprochen, was der Plan für den nächsten Tag sein soll: Morgens Besichtigung der Tillmanns’schen Fabriken, dann Treffen mit Ludendorff, Nachmittag zur freien Verfügung. Markau gibt einen kurzen Bericht über die Verhältnisse im Stab. Soweit sein persönliches Urteil zureicht. Da will Walther sich doch lieber selbst ein Bild machen. Großherzog Friedrich II. von Baden, Herzog Ernst August zu Braunschweig und Lüneburg seien schon da gewesen, Staatssekretär Solf, Vizekanzler Helfferich und Hugo Stinnes, nur der Kaiser nicht, der setze ja noch immer auf den Chef der Obersten Heeresleitung, Falkenhayn. Dabei zeige schon die eindrucksvolle Besucherliste, dass Ludendorff der kommende Mann sei. Und Hindenburg? Der alte Herr folge ganz den Ratschlägen seines Stabschefs. Er sei aber das Bollwerk gegen die Intrigen im Umfeld des Kaisers.

    Deutsch will gleich zu Bett gehen, Markau verabschiedet sich. Sie steigen die knarzenden Holztreppen hinauf, der Läufer ist an den Kanten brüchig getreten, darunter das rohe Holz hell abgewetzt, die Tapete, ein blasses Blümchenmuster, ein paar kolorierte Stiche des historischen Kowno hängen zwischen Iris und Gänseblümchen, auf dem Treppenabsatz ein kleiner Sessel in so etwas wie dem Louis-quinze-Stil. Als wäre die Zeit stehen geblieben, sagt Deutsch. Sie ist abgelaufen, sagt Rathenau, nun wird etwas ganz Neues kommen.

    Es ist nicht einmal 10 Uhr. Er kann noch nicht schlafen und außer einem kurzen Eintrag ins Tagebuch, Unterkunft unsauber und mangelhaft, will er auch nichts mehr schreiben. Walther setzt sich aufs Bett und fährt sofort wieder hoch. Er reißt die Überdecke herunter und beugt sich über das Plumeau, dann schlägt er auch das zurück und mustert das Laken. Fleckig! Er könnte ein neues Laken verlangen. Aber er greift nicht nach dem Klingelzug. Wahrscheinlich ist das nächste Laken nicht sauberer als das vorige. Es fällt ihm ein, dass er ein dünnes Plaid hat einpacken lassen, weil er fürchtete, die Zimmer könnten nicht hinreichend geheizt sein. Er öffnet den Koffer, saugt den vertrauten Geruch ein und beginnt nach dem Plaid zu suchen. Er findet es unter den Hemden, zieht es hervor und breitet es über das Bett. Schon besser. So wird es gehen. Trotzdem hat er noch immer keine Lust zu schlafen. Aber sicher gilt für Zivilpersonen eine Ausgangssperre. Am Ende wird er noch erschossen. Das wäre eine Schlagzeile: Walther Rathenau bei Kriegseinsatz erschossen!

    Niemand unternimmt die gleiche Reise. In den Köpfen verändert sich Vergangenes, sobald es geschehen ist. Nicht einmal die Gegenwart hat eine Chance gegen ihre Wahrnehmung. Das Wirkliche erscheint uns der Fragen ebenso würdig wie das Erfundene. Obwohl Walther Rathenau und Felix Deutsch tatsächlich am Donnerstag, dem 18. November 1915, abends in Berlin in einen Zug gestiegen sind. Das immerhin scheint sicher, das hat Rathenau in seinem Tagebuch notiert, nüchtern und knapp, Orte, Namen, nur Gedächtnisstützen. Über Hindenburgs Äußeres wird er weitschweifiger, fasst seinen Eindruck in Worte, hinter die man einen Punkt setzen kann. Ludendorffs Körper interessiert dagegen nicht, außer seinem Auge, in dem das Genie blitzt. Kriegsstrategie geht vor Erscheinung. In seiner Zeit gilt er als gutaussehender Mann. Die Geschmäcker ändern sich. Deutschs und Rathenaus Reise aber ist eine nationale Pilgerfahrt, man ehrt die Helden der Schlacht von Tannenberg. Im Grunde widerspricht die Anbiederung an die kriegerische Macht allem, woran Walther glaubt.

    Am Morgen ist Hauptmann Markau gut gelaunt wieder da, um sie zur Werksbesichtigung bei Tillmanns abzuholen. Bei Tage sieht die Stadt noch heruntergekommener aus als in der Nacht. Beinahe körperlose Gestalten, eingepackt in Schichten dunkler Mäntel und Tücher, Mann und Frau sind kaum zu unterscheiden, amorph, gesichtslos, drücken sie sich an die Wände, als der Wagen vorbeirumpelt, verschmelzen mit dem Gemäuer, verharren reglos, Gespenster eines Krieges, der nicht ihrer ist. Sie versuchen sich vorbeizuschleichen, einmal an den Russen, dann an den Deutschen, für die Litauer ist es einerlei. Drei oder vier dieser unförmigen Wesen auf einem Haufen würden sich nicht allzu sehr von dem Pferdekadaver gestern unterscheiden, wenn sie irgendwo tot in der Ecke lägen.

    Tillmanns’ Fabrik ist das erste Stahl verarbeitende Unternehmen in Russland gewesen, Richard Tillmanns aus dem Rheinland zugewandert. Man ist bemüht, die zwei Herren von der AEG zuvorkommend zu behandeln. Vielleicht ergibt sich ja einmal ein Geschäft, jetzt, wo Kowno nicht mehr zum Russischen Reich, sondern zum Deutschen gehört. Man muss sich neue Märkte erschließen. Die Orden und Titel des Zaren haben keinen Wert mehr. Aber es fehlen Arbeiter. Ob es nicht die Möglichkeit gäbe, russische Kriegsgefangene einzusetzen, fragt Walther. Und wie sieht es mit der Stacheldrahtfabrikation aus? Um 12 Uhr sind sie endlich im Gouvernementsgebäude. Sie müssen nur wenige Minuten warten, und dann kommt er: Ludendorff.

    Militärisch straffer Gang, gemessene Schritte, fünf, um genau zu sein, bis er bei Deutsch ankommt. Herr Geheimrat, sehr erfreut. Deutsch wirkt irgendwie klein, irgendwie zivil, irgendwie sehr jüdisch. Walther strafft sich. An Körpergröße kann er es mit dem Helden von Tannenberg immer noch aufnehmen. Der packt seine Hand, umklammert mit der Linken Walthers Unterarm. Solch eine Geste ist eigentlich dessen Art. Aber der Held von Tannenberg ist Stratege. Mit der Attacke hat er seinen Ruhm begründet: Ich freue mich, den Mann, der sich so um die nötigen Kriegsrohstoffe verdient gemacht hat, kennenzulernen. Plötzlich lässt er Walthers Hand fallen. Der kann nicht verhindern, dass sie einen Moment lang haltlos nach unten pendelt. Etwas wie Subordination, an die er sich aus seiner einjährigen, freiwilligen Dienstzeit so lebhaft erinnert, kriecht in ihm hoch, dabei ist Ludendorff gerade mal zwei Jahre älter als er, aber er scheint einer ganz anderen Generation anzugehören. Unmöglich sich vorzustellen, dass der jemals ein Kind war.

    Meine Herren, nehmen wir doch bitte Platz. Walther bräuchte mal wieder dringend etwas zu rauchen. Da reicht der Adjutant ihm schon die Zigarrenkiste. Er erstattet Bericht über den Besuch bei Tillmanns. An und für sich ein sehr solider Betrieb, man müsse ihn jedoch verstärkt auf die Kriegsproduktion umrüsten. Er habe Vorschläge zur Umstrukturierung der Fabrikation gemacht und beantrage, dem Kriegsministerium einen Bericht zu senden und einen Antrag Tillmanns’ mitzuschicken: Es ist uns darum zu tun, Ihnen den Beweis entschiedener Mitarbeit zu geben. Nichts anderes hat Ludendorff erwartet.

    Man spricht über die Bedeutung Rigas. Das AEG-Werk dort, erklärt Deutsch, sei schon im Sommer abgebaut, die Maschinen nach Russland gebracht worden. Walther ist überzeugt, eine Eroberung Rigas sei wohl möglich, für Russland jedoch schwer zu ertragen, weil sie die ohnehin unzulängliche Ostseefront der Russen verkürze. Auf militärstrategische Diskussionen will sich Ludendorff nicht einlassen. Er beendet die Unterhaltung mit der knappen Feststellung, an eine Einnahme von Riga sei im Moment nicht gedacht. Walther lässt sich die Enttäuschung über diese kurze Abfuhr ebenso wenig anmerken wie Ludendorff seinen Verdruss über die Einmischung. Er wird zu Tisch gerufen und verabschiedet die Herren. Heute Abend würde er sich freuen, sie in der Villa Tillmanns’ begrüßen zu dürfen, wo er sein Quartier aufgeschlagen habe.

    Am Nachmittag besichtigen Walther und Deutsch die Stadt. Durch die Straßen ziehen Soldaten zu Pferd, auf dem Fahrrad, zu Fuß, die höheren Ränge im Automobil. Jeder sucht einen Platz, wo es sich die nächsten Wochen oder Monate gut aushalten lässt, vielleicht bleibt man für immer. Vielleicht kann man den leeren Hof eines russischen Bauern übernehmen. Vielleicht geht so der Traum: Vom dritten Hinterhof zum Grundbesitzer.

    Auf dem Marktplatz parken Lastwagen. Die Soldaten haben parallel zu den Wagen ihre Gewehre abgestellt, Spitze an Spitze, kleine, kriegerische Pyramiden. Noch ist man beim Ankommen, nimmt ein, was schon erobert ist, breitet sich aus. Die Einheimischen schieben die Vorhänge hinter den Scheiben zurück, Mutige stehen, Arme verschränkt, vor ihren Läden, gerade noch waren die Russen da, wer wird nun bleiben und wie lange?

    Die Stadt sei ja erst vor wenigen Wochen besetzt worden, der Umzug des Hauptquartiers von Lötzen in vollem Gange, erklärt Markau. Er deutet auf einzelne zugenagelte Schaufensterscheiben und Türen. Das seien die jüdischen Läden. Nach der Vertreibung geplündert. Sie hofften, dass deren Besitzer zurückkämen. Im Mai hätten die Russen die Juden gezwungen, die Stadt binnen drei Tagen zu verlassen, weil sie Angst hatten, dass sie den Deutschen in Jiddisch etwas zuflüstern könnten. Ohne die jüdischen Gewerbetreibenden sei die Versorgung der Stadt fast unmöglich. Ludendorff plane, die Talmudschule wieder zu eröffnen und natürlich werde es Weizenmehl für die Ostermazzen geben. Walther nickt zustimmend: Unsere Kolonisierungspolitik dürfe keinesfalls wieder versagen. Die Probleme sind unendlich schwerer als im Elsaß, vor allem die Judenfrage fast unlösbar.

    Markau nötigt sie, den Rathausturm zu besteigen, wegen der schönen Aussicht, aber auch wegen des Überblicks: Sie könnten die russischen Festungsbauten rund um die Stadt jetzt im Herbst gut erkennen. Er selbst bleibt unten sitzen. Er sei schon zu oft hinaufgeklettert. Aber er organisiert einen Fremdenführer, der ein bisschen Deutsch spricht. Auf jedem Treppenabsatz leiert der seinen auswendig gelernten Text herunter. Sie verstehen ihn kaum. Und dann treten sie hinaus auf den Balkon. In milchigem Schwarz-Weiß schmiegt sich die Stadt in die Arme der Flüsse Njemen und Neris. Ihr Cicerone beginnt seinen Text über die Festungen vorzutragen. Er deutet in den winterlichen Dunst. Man sieht nichts. Walther fragt, wo die Stellungen der Russen lägen und wie weit es sei. Der Mann zuckt die Schultern: Russki weg und wedelt mit den Armen, als seien die Russen aus der Stadt geweht worden. Dort?, fragt Walther und zeigt nach Osten. Der Mann zuckt wieder mit den Schultern. Lassen Sie es gut sein, sagt Deutsch. Sie steigen die Stufen wieder hinunter.

    Plötzlich bleibt Deutsch auf einem Absatz stehen: Ich weiß, dass Ihnen Ihr Judentum wenig bedeutet, aber Sie sollten Ihre Wurzeln nicht vergessen.

    Ich vergesse sie keine Sekunde, sagt Walther. Und Hindenburg oder Ludendorff vergessen sie auch keine Sekunde. Vielleicht ist das genau das Problem.

    *

    Wie ihnen Kowno gefiele, fragt Ludendorff, als sie ihn am Abend mit seinen Offizieren im Vorzimmer der Tillmanns’schen Villa treffen. Drei Künstler, die beauftragt sind, die historische Szene in Öl und feuchter Tonerde festzuhalten, haben bereits begonnen, auf ihren Blöcken zu skizzieren. Es könne einmal ein sehr hübscher Ort werden. Im Moment sei er allerdings recht düster, wenn man von den Hauptplätzen absehe. Die Versorgung mit Gas sei nicht hinreichend. Aber das bekämen sie schon alles hin. Wir versuchen in altpreußischer Pflichttreue und Sparsamkeit mit wenigem

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1