Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Schwarze Blitze
Schwarze Blitze
Schwarze Blitze
eBook345 Seiten4 Stunden

Schwarze Blitze

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Sahra pflegt ihre kranke Mutter und trägt die Verantwortung für ihren kleinen Bruder. Die Existenz der Familie gerät in Gefahr, als Sahra wegen ihrer magischen Fähigkeiten ihren Job verliert. Schuld daran ist der Politiker und Geschäftsmann Karsten Bergmann, der die wenigen Hexen in der Stadt unterdrückt. Sahra beschließt, den Menschen ihre Magie zu offenbaren und für Gleichberechtigung zu kämpfen. Unterstützung erhält sie ausgerechnet von Bergmanns Sohn Stefan. Gemeinsam finden sie heraus, dass Sahras Vater und Stefans Mutter vor sieben Jahren das gleiche Ziel hatten. Doch diese sind bis heute spurlos verschwunden.
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum13. Dez. 2018
ISBN9783740738709
Schwarze Blitze
Autor

Ann-Kathrin Speckmann

Ann-Kathrin Speckmann wurde 1995 in Delmenhorst geboren. Sie ist in Brinkum, in der Nähe von Bremen, aufgewachsen und studiert jetzt in Göttingen Rechtswissenschaften. Solange sie denken kann, liebt sie es zu lesen und zu schreiben. Dabei interessiert sie sich besonders für verschiedene Kulturen, Religionen, Zeiten und Lebensweisen. Deshalb machte sie 2011/12 ein Austauschjahr in Thailand und 2017/18 ein FSJ in Indien. Weitere Informationen: www.ann-kathrin-speckmann.de https://www.facebook.com/annkathrin.speckmann.autorin/

Ähnlich wie Schwarze Blitze

Ähnliche E-Books

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Schwarze Blitze

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Schwarze Blitze - Ann-Kathrin Speckmann

    Handschellen

    1 – Schlecht bedient

    Mit gewohnten Bewegungen band Sahra ihre Schürze um und steckte Block und Stift in die Tasche. So schnell wie möglich suchte sie alles zusammen, was sie brauchte. Der Chef hatte sie vor wenigen Minuten angerufen: Sie solle sich um Gäste kümmern, die bereits im Restaurant waren. Diese seien etwas ganz Besonderes. Trotz ihrer Eile blieb ihr Blick an einem Poster hängen. Seit Wochen sah sie das Bild im ganzen Ort: Menschen, die in Ballkleidern und Anzügen tanzten, während über ihnen ein Feuerwerk explodierte.

    ORC Neujahrsball

    Wann: 31. Dezember ab 17 Uhr

    Wo: in der Sporthalle des Gymnasiums

    Freier Eintritt für alle!

    Sahra zwang sich, das Poster nicht einfach zu zerreißen. Insbesondere das Logo der ORC wollte sie beseitigen. Es leuchtete in bunten Farben mit dem Feuerwerk um die Wette. Das R mündete in einer Hand, die das C umfasste. Das stellte die angeblich vorurteilsfreie Hilfe der ORC allen Menschen gegenüber dar. Die reinste Lüge!

    Wenn sie dieses falsche Spiel wenigstens ignorieren könnte, aber sie musste am Ball teilnehmen. Jedes Jahr aufs Neue wurden alle Dorfbewohner, welche die gleichen Fähigkeiten wie sie besaßen, dazu gezwungen hinzugehen und dann dazu verdammt am Rand zu warten. Sie durften nur unter sich bleiben. Die ORC demonstrierte ihnen dadurch ihre Macht. Als sie noch zur Schule ging, hatte Sahra es einmal gewagt zu schwänzen. Am nächsten Tag war sie stundenlang verhört worden und hatte am Ende einen Schulverweis kassiert. Und damit hatte sie noch Glück gehabt.

    Mit zusammengepressten Lippen wandte sie sich vom Poster ab, um mit ihrer Arbeit zu beginnen. Jetzt achtete sie mehr auf ihre Umgebung als zuvor, denn sie wollte mit niemandem zusammenstoßen. Aber sie war auch nicht in der Stimmung irgendjemanden anzusehen, denn sonst würde eine ihrer Kolleginnen sie vielleicht fragen, ob mit ihr alles in Ordnung sei. Sie hatte keine Lust zu lügen, und die Wahrheit durfte sie niemandem erzählen.

    Sie ärgerte sich in dieser dämlichen Sonderschicht über den Neujahresball, obwohl sie heute eigentlich mit ihrem Bruder Weihnachtssterne basteln wollte. Morgen war der erste Advent, aber in ihrem Haus sah das noch niemand an.

    Der Chef hatte ihre Pläne durchkreuzt und sie früher zur Arbeit gerufen, weil ein Gast ausgerechnet von ihr bedient werden wollte.

    „Hey, ich bin Sah…" Als sie aufsah und erkannte, wer an ihrem Tisch saß, verschlug es ihr die Sprache. Karsten Bergmann! Der Mann, der die hiesige Zweigstelle der ORC leitete und alles tat, um sie und ihre Freunde zu kontrollieren. Bei ihm saßen seine zwei Söhne und eine Frau.

    Einen Moment lang starrte sie die Gruppe nur an. Sie durfte jedoch keinen schwachen oder hilflosen Eindruck machen. Um sich selbst über die Situation hinwegzuhelfen, täuschte Sahra Husten vor.

    „Entschuldigung. Ich bin Sahra, Ihre Bedienung für den heutigen Abend. Sie sollte Bergmann anlächeln, wie alle anderen Gäste auch, aber es gelang ihr nicht. Dieser Mann verdiente keine nette Geste. Den Blicken der Gäste ausweichend, zog sie ihren Block und Stift aus der Schürzentasche. „Wissen Sie schon, was Sie trinken möchten? Sie wollte nicht mit diesem Mann reden. Ihre Abneigung gegen Bergmann war kein Geheimnis. Jeder wusste davon, auch ihr Chef. Warum, zur Hölle, bin ich hier?

    „Meine Söhne und ich nehmen jeder ein Glas Wein. Welchen können Sie uns empfehlen?" Bergmann sah sie herausfordernd an. Das ist wie ein Test in der Schule, dachte Sahra. Abschätzig hob sie eine Augenbraue. Sie wusste nicht das Geringste über Wein. Und sie war sich sicher, dass Bergmann das wusste. In so einem kleinen Restaurant erwartete niemand eine Weinempfehlung.

    „Soll es ein trockener Wein sein?", plapperte Sahra ihrem Freund Marc nach, der die Frage vor ein paar Tagen einem anderen Gast gestellt hatte.

    „Ja, bitte!" Er bat nicht, er forderte! Sein Befehlston zwang sie tief durchzuatmen, denn nach außen hin musste sie Ruhe bewahren.

    „Gut." Sie lächelte, als wäre es normal, nicht weiter auf die Weinbestellung einzugehen.

    „Was möchten Sie trinken?", fragte sie die Frau neben Bergmann.

    „Ich nehme ein Glas Champagner." Sahra nickte. Wer trank denn bitte Champagner zum Abendessen?

    „Für mich bitte kein Wein, sondern ein Bier. Ob trocken oder nass ist mir egal." Sahra musste lächeln. Das Grinsen in dem Lächeln von Bergmanns jüngeren Sohn weckte längst vergangene Gefühle. Sie vermisste ihn.

    „Stefan!", rief die Frau entsetzt. Nicht lachen!, dachte Sahra verzweifelt. Das gelang ihr jedoch nicht, also täuschte sie zum zweiten Mal einen Husten vor.

    Die Entrüstung der Frau über den kleinen Witz war kaum zu glauben. War sie seine Stiefmutter? Bergmann und seine beiden Söhne, insbesondere sein Ältester, lächelten Sahra beinahe täglich von den Titelseiten der lokalen Zeitungen entgegen. Diese Frau war nur selten im Hintergrund dabei.

    „Ihre Getränke kommen sofort. Ich gebe Ihnen schon mal unsere Speisekarten."

    Auf dem Weg zum Getränketresen rannte sie beinahe eine Kellnerin und zwei Kunden um.

    Ein Mann saß am Rand und trank sein Bier. Sie beachtete ihn nicht weiter. Sie ballte ihre Hand zur Faust und schlug sie auf den Tresen. „Warum, zur Hölle, muss ausgerechnet ich den Bergmann-Tisch übernehmen? Und warum hast du mich nicht gewarnt?"

    „Beruhig dich erst mal!" Sie schnaubte, während sie den Zettel mit den Getränkebestellungen aufhängte.

    „Der Chef hat das so angeordnet. Warum weiß ich nicht."

    „Und das konntest du mir nicht sagen?" Er legte den Kopf schief, während er versuchte Sahras Schrift zu entziffern.

    „Nein, erwiderte er für ihren Geschmack etwas zu abwesend. „Sonst hättest du den Tisch nicht übernommen und wärst gefeuert worden. Du brauchst den Job! Ja, sie brauchte ihn wirklich. Aber deswegen warf sie noch lange nicht alle ihre Überzeugungen und ihren Stolz über Bord.

    „Was soll das Erste heißen?", fragte Marc, während er das Bier zapfte.

    „Trockener Wein. Für zwei Personen."

    „Du sollst ordentlicher schreiben. Ständig bekommen deine Gäste etwas Falsches." Sahra ignorierte die Kritik.

    „Was wollen die Bergmanns überhaupt hier. Die gehen doch sonst nur in Zehn-Sterne-Restaurants."

    „Es gibt kein Restaurant mit zehn Sternen." Er zog unschlüssig zwei Flaschen aus dem Weinkühlschrank.

    „Dann eben in Fünf-Sterne-Restaurants!" Marc schüttelte den Kopf in Richtung der einen Flasche und stellte sie zurück.

    „Karsten Bergmann gehört das Restaurant. Er schaut hin und wieder vorbei, um die Qualität zu prüfen oder um Geschäftliches mit dem Chef abzuklären. Bisher habe ich immer dafür gesorgt, dass du es nicht mitbekommst."

    „Was?, rief sie entsetzt. Die letzte Aussage überhörte sie einfach. „Das heißt, ich bediene den Mann, der mein ganzes Leben … Sahra biss sich beim Anblick des Gastes neben ihr auf die Zunge. Ihren Wutausbruch konnte er von ihr aus gerne hören, aber er durfte auf keinen Fall erfahren, warum sie sich so aufregte. Schon gar nicht, wenn Bergmann im Haus war. „Ich bediene den Mann, der alles verkörpert, was ich hasse. Und dann muss er nicht bezahlen, so dass ich nicht einmal Trinkgeld bekomme? Ich werde irgendeinen Tisch mit Natalie tauschen!"

    „Nein, das werden Sie nicht tun, Sahra! Sie drehte sich zu der Stimme um. Sofort entdeckte sie den Chef. „Herr Bergmann hat speziell nach Ihnen verlangt. Sie wären mit Ihrer Unkenntnis über meine Speisen und Getränke, Ihren schlechten Manieren und Ihrem aufbrausenden Temperament ganz bestimmt nicht meine erste Wahl gewesen. Aber er will nun einmal Sie. Also reißen Sie sich zusammen. Tisch 5 bleibt heute Ihr Einziger!

    „Was? Mein Lohn reicht vorne und hinten nicht. Ich bin auf Trinkgeld angewiesen!" Sie presste ihre Lippen aufeinander, sonst sagte sie noch etwas, dass sie später bereuen würde. Er wusste von ihrer kranken, alleinerziehenden Mutter und ihrem kleinen Bruder, um den sie sich kümmerte.

    „Entweder Sie sorgen dafür, dass Herr Bergmann am Ende des Abends gut gelaunt und mit Ihrer Arbeit zufrieden ist, oder das wird Ihr letzter Arbeitstag!" Ohne ein weiteres Wort rauschte er in die Küche, wo er den Koch darauf hinwies, dass Herr Bergmanns Speisen perfekt werden müssten.

    Sprachlos starrte sie ihm hinterher, bis die Küchentür zufiel.

    „Bier, Champagner und die Weingläser, zählte Marc auf, während er alles auf das Tablett stellte. „Schenk zunächst nur wenig ein und lass … Sahra könnte einfach gehen. Ihre Schürze auf den Tresen knallen und es wäre vorbei. Aber sie brauchte den Jo.

    „Hast du alles verstanden, Sahra?", fragte Marc mit hochgezogenen Augenbrauen. Sie nickte, obwohl sie nichts mitbekommen hatte.

    Als sie das Tablett in die eine und den Wein am Flaschenhals in die andere Hand nahm, hasste Sahra sich selbst beinahe genauso sehr wie den Chef. Für Geld handelte sie gegen ihre eigenen Überzeugungen. Und Marc war auch nicht besser. Er hatte sie weder vorgewarnt, noch unterstützt. Er sah weder Bergmanns Verbrechen noch die abwertende Haltung des Chefs ihr gegenüber. Seine Aufmerksamkeit galt nur ihren Fehlern. Sogar jetzt rief er ihr hinterher, dass sie ein Tuch um die Weinflasche binden müsse, aber das war ihr egal.

    „Sie sehen nicht gut aus, Sahra. Ich hoffe, bei Ihnen ist alles in Ordnung?" Sahra musterte Bergmanns Begleitung. Die Frau hatte blondierte Haare und eine spitze Nase. Ihr Make-up war viel zu bunt und dick aufgetragen. Mit ihrem grünen Kostüm erinnerte sie Sahra an einen zu groß geratenen Kanarienvogel.

    Und ausgerechnet diese Frau verspottete sie. Sie wusste, wer Sahra war, und wie viel es sie kostete, Bergmann und seine Familie zu bedienen. Sie gehörte zu den Bergmanns. Sie musste es wissen! Und doch durfte Sahra keine bissige Antwort zurückgeben, wenn sie ihren Job behalten wollte.

    „Mir geht es wunderbar, danke", rang sie sich ab. Sie servierte den Champagner. Wortlos folgten die Weingläser. Sie schenkte sie halb voll. Dabei ignorierte sie die kritischen Blicke.

    „Was ist das für ein Wein?", fragte Bergmann. Anstatt ihm in die Augen zu sehen, starrte sie auf einen Punkt auf seiner Stirn, während er mit ihr sprach.

    Sie warf einen Blick auf die Flasche, doch sie wusste nicht, wie man den Namen des Weins aussprach. Da sie keine Antwort wusste, hielt sie Bergmann die Flasche hin. Als Entschuldigung zwang sie sich ein Lächeln ab.

    „Und das Bier, präsentierte sie stattdessen das letzte Getränk, indem sie es länger als nötig hochhielt, damit alle es bewundern konnten: „Es ist frisch gezapft, zu einem Sechstel schaumig. Stefan lächelte, als sie seinen Witz aufgriff.

    „Perfekt, so mag ich es am liebsten." Mit einem angedeuteten Lächeln nickte sie ihm zu. Sie floh beinahe schon, da erinnerte sie sich an die noch nicht aufgenommenen Bestellungen. Sie zwang sich selbst zum Stehenbleiben. Sie zog Block und Stift aus der Schürzentasche und fragte nach den Essenswünschen. Als alles auf ihrem Block stand, verschwand sie so schnell sie konnte.

    „Du ziehst ein Gesicht, als solltest du gehängt werden. Marc warf ihr einen kritischen Blick zu. „So schlimm ist das nun wirklich nicht. Wir alle müssen dann und wann nett zu Leuten sein, die wir nicht mögen.

    „Nicht mögen?, fragte sie entsetzt. „Bergmann hat … Beim Blick auf den immer noch am Tresen sitzenden Gast verstummte sie. Wenn sie sich nicht besser beherrschte, würde der Bergmann-Tisch zu ihrem kleinsten Problem werden.

    Ohne ein weiteres Wort ging sie an Marc vorbei in die Küche. Sie hängte den Zettel an den Rand. Das bedeutete: oberste Priorität. Normalerweise hängte sie nie etwas dort auf. Einige andere Kellnerinnen taten es zwischendurch unerlaubterweise in der Hoffnung auf ein besseres Trinkgeld. Von solchen Tricksereien hielt sie nicht viel. Ihr Trinkgeld würde so oder so nie rekordverdächtig werden. Sie war einfach zu ungeduldig und zu schnell genervt von unhöflichen Gästen.

    Wortlos wartete sie gegen die Wand gelehnt auf die Vorspeisen. Keiner sagte etwas zu ihr. Sahra kam mit all ihren Kollegen gut aus, aber jeder wusste, dass man sie besser in Ruhe ließ, wenn sie sauer war. Und es war ebenfalls bekannt, dass sie Bergmann nicht ausstehen konnte. Den Grund dafür wusste jedoch kaum einer. Marc dagegen war sich über einen kleinen Teil der Wahrheit im Klaren. Und genau das verletzte sie so sehr. Wie konnte er nur so einfach darüber hinwegsehen?

    Zwei Minuten später standen Brot und Butter auf dem kleinen Tisch für die fertigen Gerichte. Sie brachte diesen ersten Teil der Vorspeise zu Tisch fünf, wünschte einen guten Appetit und verschwand wieder. Sie bot Bergmann keine Chance auf eine Unterhaltung mit ihr. Sahra hatte nicht die geringste Ahnung, was er von ihr wollte. Auf jeden Fall wollte sie nichts von ihm wissen. Es sei denn natürlich, er gäbe nach und sähe endlich ein, wie falsch sein Handeln war. Aber warum sollte er das tun, nachdem er es in den letzten zwölf Jahren nicht getan hatte?

    Nach und nach brachte sie den Rest der Vorspeise und den Hauptgang zu den Gästen.

    „Wie geht es Ihrer Familie?", fragte Bergmann irgendwann.

    Sahra musterte ihn lange, ohne etwas zu sagen. Wollte er sie demütigen? Oder erinnerte er sich wirklich nicht mehr an Ihre Eltern? Wahrscheinlich war ihre Familie für ihn nur eine von vielen, die er kontrollieren und bespitzeln musste.

    „Gut", sagte sie und ging. Sie fragte nicht einmal, wie es bisher geschmeckt hatte oder nach neuen Getränke-Bestellungen. Langsam wurde ihr klar, dass sie genauso gut bei ihrem Bruder hätte bleiben können. So würde sie ihren Job definitiv verlieren. Bei dem Gedanken bekam sie weiche Knie. Alles drehte sich. Sie biss die Zähne zusammen und stolperte zur Damentoilette.

    Sie hasste Bergmann so sehr. Gegen ihn war sie machtlos. Er spielte mit ihrem Leben und mit dem ihrer Freunde. Und keiner unternahm etwas. Die Menschen ließen sich von der schönen Fassade blenden. Sie sahen nur Bergmanns Engagement in der verdammten „International Organization to rehabilitate criminals", kurz ORC. Offiziell half er auf falsche Wege geratenen Menschen, indem er ihnen Jobs und Wohnungen besorgte und ihre Familien mit Geld unterstützte. Dass diese Organisation gleichzeitig andere Menschen verfolgte und ihnen das Leben zur Hölle machte, wurde darüber hinweg einfach ignoriert. Sie warf ihren Stift gegen die Wand. Er zerbrach knackend in zwei Teile.

    Sie sah in den Spiegel. Tränen rannen über ihre Wangen. Ihre Augen blitzten grün, aber ihre Haut wurde rot. Dass sie nur heulen konnte, ließ sie noch lauter schluchzen. Sie hasste sich für ihre Hilflosigkeit und die Schwäche, die jetzt auch noch jeder sehen konnte.

    Das Wasser war eiskalt. Vorsichtig wusch sie sich das Gesicht. Die Wimperntusche und das Make-up verschwanden. Sie dachte darüber nach, sich neu zu schminken, ließ es aber bleiben. Das Papierhandtuch fühlte sich rau auf ihrer gereizten Haut an. Als sie erneut in den Spiegel blickte, sah sie schlimmer aus als zuvor, aber immerhin hatte sie sich etwas beruhigt. Sie sah sich selbst in die Augen und zählte bis zehn.

    Mit der neu gewonnen Kraft verließ sie das Badezimmer. Sie kam allerdings nicht weit, bevor sie stolperte und auf den Boden fiel.

    „Verdammt!", fluchte sie. Und dann gleich noch einmal, als sie sah, über wessen Füße sie gestolpert war. Sie kniete direkt vor Stefan, Bergmanns jüngstem Sohn.

    „Tut mir leid", murmelte sie. Er hielt ihr eine Hand hin. Aus Gewohnheit ergriff sie diese, um sich aufhelfen zu lassen. Im gleichen Moment hätte sie ihre am liebsten wieder weggezogen.

    „Hast du dich verletzt?"

    „Es geht schon." Er überragte sie um einen halben Kopf. Sie mochte es nicht, zu ihm aufschauen zu müssen.

    „Hast du mich nicht gesehen oder war das ein Attentat?" Ihr erster Gedanke war, einfach wegzugehen, aber in seiner Stimme klang nichts nach einem Vorwurf. Im Gegenteil: Sie wurde wieder von diesem Grinsen begleitet. Dieses Grinsen, das in ihr so viele schöne Erinnerungen wachrief. Das ließ ihre Wut nahezu verpuffen.

    „Nein, antwortete sie deshalb ehrlicher, als sie es eigentlich wollte. „Ich bin heute … etwas durch den Wind.

    „Du scheinst meinen alten Herrn nicht sonderlich zu mögen." Sahra musterte sein Gesicht. Wollte er tatsächlich so tun, als wüsste er nichts von den Machenschaften seines Vaters?

    „Natürlich nicht", antwortete sie und wandte sich ab.

    „Hey, jetzt warte doch mal, Sahra. Du kannst mir so etwas doch nicht an den Kopf werfen, und dann einfach verschwinden." Sie blieb tatsächlich stehen. Langsam drehte sie sich um. Sie sah ihm in die Augen. Sie waren dunkelbraun und gaben ihr ein beruhigendes Gefühl, welches sie sogar fast von ihrer Antwort ablenkte.

    „Ich mag weder deinen Vater noch die verdammte ORC. Ich kann niemanden in seinem Umfeld leiden – auch dich nicht. Ihr nehmt mir meine Freiheit. Ihr verwehrt mir und allen, die so sind wie ich, ein ganz normales Leben. Wegen euch haben wir außer uns keine Freunde. Wegen euch verliere ich sogar meinen Job." Sie musste sich zusammenreißen, denn noch einmal wollte sie heute nicht weinen, und schon gar nicht vor einem Bergmann.

    Sie brach ab. Deutlicher durfte sie in der Öffentlichkeit nicht werden. Auch dafür trug Bergmann die Schuld.

    „Ich hoffe, alle deine Fragen sind geklärt. Ich muss wieder in die Küche und eure Nachspeisen holen. Wahrscheinlich die Letzten, die ich hier servieren werde." Sie ließ ihm keine Zeit für eine weitere Antwort. Bis zu diesem Moment war sie vor einem Bergmann weder ausgerastet noch zusammengebrochen. Sie hatte Schreien, Tränen und rot werden vermeiden können. Das sollte sich nicht jetzt noch ändern.

    Marc hatte am Tresen alle Hände voll zu tun. Dennoch blickte er auf, als sie näher kam. „Hey, Sahra, ist alles …"

    „Nein!", unterbrach sie ihn, weil sie immer noch sauer auf ihn war. Obwohl sie sich das Gesicht gewaschen hatte, konnte sie ihre geweinten Tränen nicht vor ihm verbergen. Er war ihr bester Freund, soweit sie überhaupt irgendwen als Freund bezeichnen konnte. Und doch wollte sie nicht einmal vor ihm verletzlich wirken.

    In der Küche waren alle so schweigsam, wie schon den ganzen Tag über, wenn sie diese betrat. Auf dem Tisch standen drei Stück Torte. Das Eis für Bergmanns jüngeren Sohn stellte der Koch persönlich auf ihren Unterarm, obwohl sich normalerweise sein Azubi um die Nachspeisen kümmerte. Aber für die Bergmanns musste ja alles besonders sein, dachte sie. Dabei umklammerte sie den Teller in ihrer Hand etwas zu weit am Rand, so dass die Nachspeise beinahe heruntergefallen wäre.

    Vorsichtig ging sie durch den vollen Raum. Sie wollte den Koch wirklich nicht um ein neues Stück Torte bitten müssen.

    Sie stellte alles auf den Tisch. Einen Moment betrachtete sie Stefan. Mit seinem Eis fiel er erneut aus der Reihe. Früher hatte er auch immer zu jeder Tages- und Nachtzeit Eis essen wollen.

    „Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?" Sie hörte ihre eigene abweisende Stimme. Es war vorbei. Bergmann würde sie bestimmt nicht loben, wenn der Chef nach ihr fragte.

    „Nein, danke!", sagte Bergmann.

    „Dann verabschiede ich mich jetzt von Ihnen. Ich werde dem Chef Bescheid sagen, dass sie bald mit dem Essen fertig sind. Schönen Abend noch!" Das Letzte kam nur der Gewohnheit wegen über ihre Lippen.

    „Warten Sie, Sahra", rief Stefan und zog damit vier überraschte Blicke auf sich.

    „Das ist für Ihre Mühe." Er gab ihr einen zusammengerollten Zehn-Euro-Schein. Am liebsten hätte sie ihn aus Stolz nicht angenommen. Allerdings verlor sie gerade ihren Job und brauchte jeden Cent.

    „Vielen Dank, Herr Bergmann", sagte sie. Es gefiel ihr nicht Vater und Sohn gleich anzusprechen. Beim Anblick des Sohns fühlte sie Vertrautheit, beim Vater nur Abscheu. Schnell drehte sie sich um und gab Marc wortlos ihre Schürze und das Namensschild.

    „Nun wirf doch nicht gleich die Flinte ins Korn. Immerhin könnte Bergmann doch auch netter über dich reden, als du jetzt glaubst." Sarah schwieg. Sie holte ihre Handtasche unter dem Tresen hervor, nahm ihre Jacke vom Haken und verließ das Restaurant. Beim Laufen kramte sie ihren Geldbeutel heraus, um das Trinkgeld einzustecken. Sie drehte den Schein auseinander. Dabei fiel etwas zu Boden.

    2 – Ein wunderbares Geschenk

    Sahra hob die Zettel auf. Es war so dunkel, dass sie zur nächsten Straßenlaterne gehen musste, um zu erkennen, was sie in der Hand hielt. In dem Zehner war ein Zwanziger versteckt gewesen. Sie ballte die Faust, sodass der Schein zerknitterte. Die Almosen machten sie wütend auf sich selbst. Sie sollte allein und ohne Hilfe für ihre Familie sorgen können. Aber da sie es nun einmal dringend brauchte, steckte sie das Geld weg. Danach betrachtete sie das zweite Stück Papier. Es handelte sich um einen Notiz-Zettel aus einem der Restaurant-Blöcke.

    Ehrlich gesagt habe ich kein Wort verstanden. Vielleicht erklärst Du es mir morgen Abend um 8 Uhr am Brunnen.

    Stefan

    Ungläubig starrte sie auf die Notiz. Stefan Bergmann wollte sich mit ihr reffen? Für unzählige Frauen wäre das der Lotto-Gewinn. Alle träumten davon, mit ihm auszugehen.

    „Das ist kein Date. Er heckt irgendetwas aus!", sagte sie zu sich selbst. Aber eigentlich wollte sie das nicht glauben. Das würde die Erinnerungen zerstören, die sie an ihn hatte.

    Andererseits war er nicht mehr der Junge von damals. Aus ihm war ein herablassender Mann nach dem Vorbild seines Vaters geworden. Er machte sich über sie lustig, indem er sich dumm stellte. Und er erwartete, dass alle nach seiner Pfeife tanzten! Was dachte er sich dabei, sie irgendwohin zu bestellen? Was, zum Teufel, war sie denn in seinen Augen? Sein Dienstmädchen?

    „Das ist nicht wahr!", flüsterte ihre innere Stimme. Ihr Blick fiel erneut auf die Nachricht. Er wollte sie am Brunnen treffen. Das war ihr Ort. Den würde er nicht missbrauchen. Allerdings war all das schon lange her. Bei ihrem letzten Treffen war sie erst vierzehn Jahre alt gewesen. Sie hatte eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr daran gedacht, aber jetzt kamen die Erinnerungen auf einen Schlag zurück. Sie sah sich und Stefan wieder als Kinder gemeinsam am Brunnen. Als der Ältere sollte er auf sie aufpassen, aber dazu hatten sie beide damals viel zu viel Unsinn im Kopf gehabt. Einmal hatte Stefan sogar versucht sie an einem Eimer in den Brunnen hinunterzulassen. Natürlich waren sie erwischt worden. Seitdem lag eine festgeschraubte Holzplatte auf der Öffnung.

    „Hör auf, die Zeiten sind vorbei!", wies Sahra sich laut zurecht. Mit ruppigen Bewegungen riss sie ihr Zopfgummi aus den Haaren. Es ziepte, als sie sich dabei einige Haare ausriss. Sie fluchte. Doch als sie ihre Haare wieder um das Gesicht spürte, beruhigte sie sich.

    Schon nach wenigen Minuten kam sie zu Hause an. Deshalb brauchte sie diesen Job. Vom Restaurant aus konnte sie im Notfall schnell hier sein. Außerdem sparte sie sich das Bus-Geld.

    Sahra öffnete das quietschende Gartentor. Sie setzte gerade zum Klingeln an, als Tim ihr die Tür öffnete. Er fiel ihr sofort in die Arme.

    „Da bist du ja endlich!" In Wahrheit war sie viel zu kurz auf der Arbeit gewesen. In Zukunft würde Tim nicht mehr auf sie warten müssen. Ihre Augen brannten. Schnell blinzelte sie die Tränen weg und lächelte weiter, damit ihr Bruder es nicht merkte. Er sah so unschuldig aus mit seinen sechs Jahren. Seine Augen waren genauso grün wie ihre. Auch sein Haar glich dem ihren, nur schnitt sie seines um einiges kürzer.

    „Endlich? Ich war doch keine zwei Stunden weg." Das Lächeln strengte sie an und ihre Stimme klang brüchig, aber Tim bemerkte zum Glück nichts davon.

    „Komm mit hoch, ich habe eine Überraschung für dich!", rief er und flitzte die Treppe nach oben.

    „Hallo, Mama!", sagte sie leise, als sie an dem Schlafzimmer ihrer Mutter vorbeikam. Diese saß halb aufgerichtet im Bett, sagte nichts. Vielleicht schlief sie. Es war einer ihrer schlechteren Tage.

    „Jetzt komm doch endlich, Sahra!" Mit einem Seufzen wandte sie sich von ihrer Mutter ab und ging in ihr eigenes Zimmer. Mitten im Raum lag ein Kleid. Es sah aus, als gehöre es einer Prinzessin aus einer längst vergangenen Zeit. Sprachlos berührte Sahra den grünen Stoff, dessen Farbton ihren Augen glich.

    „Genau so eines hast du dir gewünscht, oder?" Tim sah sie mit leuchtenden Augen an. Dieses Kleid war wundervoll – genau das, was sie wollte. Doch sie schaffte es nicht, Tim das zu sagen.

    „Wo hast du es her, Tim?" Hätte ich mich doch nur zuerst bedankt, schoss es ihr im gleichen Moment durch den Kopf.

    „Gefällt es dir nicht?"

    „Es ist wunderbar, das schönste Kleid, das ich je gesehen habe. Aber wir können es uns nicht leisten."

    „Ich habe es nicht gekauft. Es war in einem von Mamas Büchern."

    „Um Himmels willen, Tim!" Sahra bemerkte seinen erschreckten Gesichtsausdruck und erstarrte. Sie wollte ihm keine Angst machen. Er konnte nichts dafür. Wie sollte er mit seinen sechs Jahren die Gefahr verstehen?

    „Tut mir leid. Das war wirklich lieb von dir", sie lächelte ihm aufmunternd zu.

    „Aber?", fragte er traurig und sah aus, als würde er jeden Moment anfangen zu weinen.

    „Kein aber", flüsterte sie. Sanft nahm sie den Jungen in den Arm. Sie drückte ihn ganz fest. Am liebsten hätte sie ihn nie wieder losgelassen. Schließlich musste sie es trotzdem tun.

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1