Der Caminho ist das Ziel: Mein Jakobsweg zurück ins Leben
Von Angie Hasselmann
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Über dieses E-Book
Fast ein Jahr nach der Diagnose und Höhen und Tiefen der Behandlung ist es soweit: Sie steht am Anfang des Caminho Português ihrem Jakobsweg zurück ins Leben.
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Buchvorschau
Der Caminho ist das Ziel - Angie Hasselmann
München – Porto
Es ist 4:45 Uhr morgens und mein Mann bringt mich zum Flughafen München. Endlich soll mein lang gehegter Wunsch in Erfüllung gehen: Der Jakobsweg. Für mich wird es nur die abgespeckte Version sein, nämlich der Caminho Português. Ich habe mich entschieden, den Weg von Porto bis Santiago de Compostela, eine Strecke von etwas mehr als zweihundert Kilometern, alleine zu gehen. Ich war der festen Meinung, nur so kann ich es schaffen. Aber jetzt, im Morgengrauen vor dem Flughafen, bin ich mir nicht mehr ganz so sicher.
Seit meiner Brustkrebserkrankung bin ich körperlich immer noch nicht so belastbar, von meinen kognitiven Fähigkeiten mal ganz zu schweigen.
Der Abschied von meinem Mann wird sehr rührselig. Er drückt mich nochmal ganz fest an sich und ich muss ein paar Tränen im Ärmel meiner Fleecejacke verschwinden lassen.
Selbstbewusstsein mimend gehe ich hoch erhobenen Hauptes mit meinem zehn Kilogramm schweren Rucksack durch die Glastür des Terminals. Weniger Gewicht war einfach nicht drin. Ich bin schließlich eine Frau.
Dort sehe ich zum Glück schon den Check-in meiner Billigfluglinie. Den Namen des Fluganbieters hatte ich vorher noch nie gehört. Mein Vielfliegersohn Sven verzog skeptisch das Gesicht, als ich ihm davon berichtet habe.
„Bei welchem Seelenverkäufer hast du jetzt wieder angeheuert?", war seine Reaktion.
Aber ich will unser Familienbudget nicht durch unnötige Gebühren strapazieren. Und die waren echt die günstigsten. Außerdem startet der Direktflug in der Früh um 6:30 Uhr, wodurch ich einen kompletten Tag zur Verfügung habe, um mir Porto anzusehen.
Als ich den Schalter für Porto suche, muss ich erkennen, dass die ganze Horde, die hier bereits zwei Stunden vor Abflug ansteht, sowohl nach Sevilla als auch nach Porto will. Die zwei Damen am Check-in kämpfen also gegen das hoffnungslose Unterfangen an, zwei Flieger, die nahezu zeitgleich starten sollen, mit lediglich zwei Schaltern abzufertigen.
Außer mir sind noch einige weitere Passagiere mit Rucksack unterwegs. Vermutlich alles Jakobspilger. Die Rucksäcke machen das Abfertigen auch nicht unbedingt leichter und die Besitzer werden erstmal zum Sperrgutschalter geschickt.
Hinter mir erscheint ein junges Pärchen, ebenfalls mit Rucksack. Sofort kommen wir ins Gespräch. Auch sie wollen den Caminho Português pilgern. Im Gegensatz zu mir wollen sie allerdings heute schon loslaufen. In ihrem Alter war ich auch noch dynamisch.
Ich hingegen habe in einer Pension ein Einzelzimmer reserviert. Noch eine letzte Nacht ein Zimmer und eine Dusche für mich allein. Die nächsten Nächte werden wohl anders aussehen.
Unser Gespräch ist recht kurzweilig und es ist mittlerweile 6 Uhr, aber die Schlange am Schalter ist noch nicht wirklich kürzer geworden. So langsam werden die Passagiere ungeduldig.
In dem Moment erscheint eine resolute Dame in der Uniform der Luftlinie, fischt alle Passagiere nach Sevilla aus der Menge und leitet sie an zwei neu eröffnete Schalter um. Dort richten sich gerade zwei Damen vom Bodenpersonal ein. Und nun geht es ruckzuck. Auch bei uns wird jetzt auf Geschwindigkeit gesetzt. Die Rucksäcke müssen nicht mehr ins Sperrgut, sondern werden nur noch in bereitgestellte Wannen geworfen. Wird schon gut gehen.
Nach dem Check-in werden wir durch die Personenkontrolle gehetzt, denn der Flieger soll in zwanzig Minuten starten. Eigentlich müsste ich noch zur Toilette, aber wir können unmittelbar zum Boarding weiter. Also verkneife ich mir ein dringendes Bedürfnis und stürme mit den anderen den Flieger.
Pünktlich um 6:30 Uhr starten wir. Wer hätte das gedacht? Ich schaue mich wohlwollend um. Ein funkelnagelneuer Flieger und sehr guter Service. So exklusiv bin ich schon lange nicht mehr geflogen.
Nach der pünktlichen Landung warte ich etwas ängstlich auf meinen Rucksack am Förderband, denn ich bin ein gebranntes Kind. Bei meiner letzten Reise in die Türkei musste ich zwei Tage auf meinen verlorengegangenen Koffer warten. Das würde in diesem Fall schon mal eine Verzögerung von mindestens zwei Tagen bedeuten, was mein Zeitmanagement erheblich durcheinanderbringen würde, da ich den Rückflug bereits gebucht habe. Aber heute läuft alles gut und ich erspähe schon meinen Rucksack. Er hat in der Plastikwanne den Transport unbeschadet überstanden.
Auch die Beschilderung zur Metro ist richtig ausführlich, und am Fahrkartenschalter erwartet mich die nächste Überraschung: Eine junge nordafrikanische Frau in neongelber Warnweste fragt mich, ob sie mich beim Fahrkartenkauf unterstützen darf. Ja, bitte. Mit ihrer Hilfe entscheide ich mich für ein Tagesticket, das mit sieben Euro mein bescheidenes Pilgerbudget nicht zu sehr strapaziert. Außerdem versorgt sie mich sofort mit einem kostenlosen Stadtplan und einem Plan für die Metro. Des Weiteren erklärt sie mir, mit welcher Linie ich am besten zu meiner Unterkunft komme. So ein Service. Da kann sich der Münchner MVV wirklich eine Scheibe von abschneiden, sowohl im Kundendienst wie im Preis. Unsere in München lebenden Söhne erzählen ständig davon, dass sie völlig überforderten Touristen helfen, ein passendes Ticket auszuwählen. In der Metro entscheide ich mich dann, doch zuerst zur Kathedrale zu fahren, denn um 11 Uhr ist dort Pilgermesse.
Neben mir sitzt eine junge Frau, ebenfalls mit großem Rucksack. So kommen wir ganz schnell ins Gespräch. Auch sie läuft den Caminho und hat in der Innenstadt ein Bett in einem Hostel gebucht. Wir beschließen, gemeinsam in die Kathedrale zu gehen, um uns den Pilgersegen abzuholen. Leider steigen wir an der falschen Haltestelle aus und müssen uns anhand des Stadtplans mit den schweren Rucksäcken durch die steilen Straßen Portos schlagen. Langsam rinnt uns der Schweiß von der Stirn. Es ist Juli und mittlerweile schon nach 11 Uhr. Das geht ja gut los.
Als wir schließlich erschöpft und mit Verspätung in der Kathedrale ankommen, sind dort gerade mal zwei Touristen anwesend. Von wegen Pilgermesse. Resigniert lassen wir uns in die Kirchenbänke sinken.
Plötzlich geht ein Lächeln über das Gesicht meiner Mitpilgerin. Wir hatten in unserem Eifer völlig die Stunde Zeitverschiebung übersehen. Tja, kann ja mal passieren. Wir einigen uns darauf, die Zeit zu nutzen, um uns die Kathedrale genauer anzusehen und um etwas zur Ruhe zu kommen.
So langsam füllt sich das Gotteshaus. Außer uns sind noch drei junge Frauen mit Rucksack anwesend. Als der Priester erscheint, bittet er uns, nach vorne ins Chorgestühl zu kommen. Die Messe ist leider nicht übermäßig feierlich und auch der Pilgersegen fällt etwas dürftig aus. Das hatte ich mir anders vorgestellt.
Ernüchtert verlassen wir eine knappe Stunde später die Kirche, allerdings nicht ohne unseren ersten Stempel im Credencial, dem unverzichtbaren Pilgerausweis. Auf der Pilgerreise nach Santiago muss jeder Pilger zwei Stempel pro Wandertag vorweisen können, um am Ende die begehrte Compostela zu erhalten. Die Compostela dokumentiert – in Spanisch – wie viele Kilometer und Mühen der Pilger auf seinem Weg nach Santiago de Compostela absolviert hat. Außerdem sind das Datum und der Ort des Startes vermerkt. Die Stempel dafür erhält man in Kirchen, Herbergen, Touristeninformationen und auch in den Cafés und Restaurants am Wegesrand. Mein erster Stempel aus der Kathedrale sollte auch für längere Zeit der einzige mit christlichem Hintergrund bleiben. In der ersten Woche habe ich fast ausschließlich auf den angesteuerten Campingplätzen und in den Strandcafés am Morgen abgestempelt. Leider waren in den ersten Tagen die meisten Kirchen versperrt. Aber mir wurde der Caminho Português als sehr urban und nicht ganz so spirituell beschrieben. Letztendlich ist dies egal, denn den Camino Francés würde ich in meinem momentanen Zustand sowieso nicht schaffen. Allein die erste Etappe über die Pyrenäen: völlig undenkbar. Ich hoffe, ich habe mir mit dieser Pilgerreise nicht zu viel zugemutet. Aber sie ist so wichtig für mich.
Während der ganzen Zeit meiner zehnmonatigen Krebstherapie hat mich der Gedanke an den Jakobsweg aufrechterhalten. Die Therapie war wirklich nichts für Weicheier, wurde aber letztendlich vom Erfolg gekrönt. Wenn die Nebenwirkungen der Chemo mal besonders schlimm waren, habe ich mir immer wieder mein Mantra vorgesagt: „Wenn du das alles überstanden hast, pilgerst du nach Santiago."
So begann ich bereits während den Bestrahlungen damit, mein Equipment für die Pilgerreise zusammenzustellen. Mein Mann hat mich die ganze Zeit in meinem Wunsch bestärkt und auch unterstützt. Und fast genau ein Jahr nach der Diagnosestellung stehe ich jetzt hier mit meinem Rucksack vor der Kathedrale von Porto.
Auf einmal laufen mir Tränen über die Wangen. Zum Glück ist meine Mitpilgerin gerade mit ihrem Schnürsenkel beschäftigt und merkt nichts von meiner Rührseligkeit. Nun ist der Moment gekommen, um uns zu trennen. Unsere Unterkünfte liegen in verschiedenen Richtungen. Wir wünschen uns also einen „bom caminho", wie es auf Portugiesisch heißt. Ein Gruß, den ich in den nächsten drei Wochen noch ganz oft hören werde.
Mein Weg führt wieder zur nächsten Metrostation, meine Mitpilgerin hingegen kann zu Fuß zum Hostel gehen. Dank der guten Beschreibung der freundlichen Dame am Flughafen finde ich problemlos zu meiner Pension. Dort checke ich ein und bezahle gleich für die Nacht, da ich am nächsten Morgen sehr früh starten möchte, damit ich nicht in der sengenden Nachmittagssonne laufen muss.
Ich genieße die Ruhe in meinem Zimmer und nehme erst einmal eine ausgiebige Dusche. Da höre ich schon mein Handy klingeln. Mein Mann. Er sei schon ganz nervös, ob auch alles gut geklappt hat. Ich bin gerührt. Und ich habe auch ein schlechtes Gewissen. Eigentlich wollte ich ihm gleich nach der Landung eine SMS schicken, aber es ist alles so aufregend. Ich merke schon, dass mich alles viel mehr anstrengt und stresst als