Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Gott im Leid begegnen
Gott im Leid begegnen
Gott im Leid begegnen
eBook495 Seiten7 Stunden

Gott im Leid begegnen

Bewertung: 5 von 5 Sternen

5/5

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Buddhismus, dass es real ist; anders als die Karma-Lehre, dass es oft ungerecht ist - und anders als der Säkularismus, dass es einen Sinn hat. Leid ist sinnvoll, und richtig betrachtet, kann es uns in die Liebe Gottes hineintreiben und uns mehr innere Stabilität und Kraft geben, als wir uns vorstellen können." Mit seiner besonderen Art zu schreiben, die sowohl christliche und religiöse als auch säkulare Leser anspricht, hat Timothy Keller sich einer der schwersten Fragen überhaupt angenommen! - Einer Frage, der kein Mensch auf dieser Erde letztlich ausweichen kann.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Okt. 2015
ISBN9783765573507
Autor

Timothy Keller

Timothy Keller, Jahrgang 1950, gründete zusammen mit seiner Frau Kathy die Redeemer Presbyterian Church in New York City. Heute ist er als Buchautor und Gemeindeberater tätig. Timothy Keller hat u. a. auch "Warum Gott?", "Jesus-seine Gesichte, unsere Geschichte", "Gott im Leid begegnen" und "Hoffnung in Zeiten der Angst“ geschrieben.

Mehr von Timothy Keller lesen

Ähnlich wie Gott im Leid begegnen

Ähnliche E-Books

Christentum für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Gott im Leid begegnen

Bewertung: 5 von 5 Sternen
5/5

1 Bewertung0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Gott im Leid begegnen - Timothy Keller

    TEIL I

    Den Schmelzofen verstehen

    Kapitel 1

    Die Kulturen des Leidens

    „Was soll das noch?", fragte mein Vater, als er im Sterben lag.

    Vorbereitung auf den Ernstfall

    Manchmal zerstört Leiden so vieles, was dem Leben Sinn gibt, dass man schier nicht mehr kann. In den letzten Wochen seines Lebens musste mein Vater mit einer ganzen Palette schmerzhafter, tödlicher Krankheiten auf einmal kämpfen. Er hatte kongestive Herzinsuffizienz und gleich drei Krebsarten; dazu kamen noch eine Gallenkolik, ein Emphysem und akuten Ischias. Einmal sagte er zu einem Freund: „Was soll das noch?" Er war zu krank, um die Dinge zu tun, die seinem Leben Sinn gaben. Wozu sich noch weiterquälen? Auf der Beerdigung meines Vaters erzählte jener Freund uns, wie er meinen Vater behutsam an einige Grundwahrheiten der Bibel erinnert hatte. Solange Gott ihn noch nicht abberufen hatte, gab es noch etwas, das er für seine Mitmenschen tun konnte. Jesus trug ein noch größeres Leiden geduldig für uns; da können wir geringere Leiden geduldig für ihn tragen. Und vor uns liegt der Himmel, wo alles gut sein wird. Diese wenigen, zutiefst mitfühlend gesprochenen Worte ließen in meinem Vater christliche Glaubenswahrheiten, die ihm seit vielen Jahren vertraut waren, wieder lebendig werden und gaben ihm neue Kraft für die letzte Wegstrecke seines irdischen Lebens.

    Wir werden uns diese christlichen Glaubenswahrheiten später noch genauer ansehen. Hier nur so viel: Nichts ist wichtiger, als dass wir lernen, trotz Leid, Not und Schmerz ein sinnvolles Leben zu führen.

    Zu den Schlüsselleistungen jeder Kultur gehört die Art, wie sieihren Gliedern hilft, mit den großen Angriffen des Bösen und des Leides umzugehen. Der Philosoph und Soziologe Max Scheler schrieb: „Ein Kernstück in den Lehren und Wegweisungen, welche die großen Religiösen und Philosophen den Menschen gaben, war überall und zu allen Zeiten eine Lehre vom Sinn des Schmerzes und des Leides im Ganzen der Welt, darauf gebaut aber eine Anweisung und Einladung, ihm richtig zu begegnen, das Leid richtig zu erleiden ‚oder es aufzuheben‘."¹¹ Soziologen und Anthropologen haben die verschiedenen Arten, wie Kulturen ihre Glieder auf Schmerz, Leid und Verlust vorbereiten, analysiert und verglichen, und ein Ergebnis dieses Vergleichs lautet oft, dass unsere heutige westliche Kultur hier im historischen Vergleich mit das schwächste Bild abgibt.

    Alle Menschen sind getrieben von einer „innere(n) Nötigung, die Welt als einen sinnvollen Kosmos erfassen und zu ihr Stellung nehmen zu können."¹² Dies gilt auch für das Leid. Der Anthropologe Richard Shweder schreibt: „Die Menschen wollen offenbar durch ihr Elend erbaut werden.¹³ Und der Soziologe Peter Berger sieht eine alte Funktion jeder Kultur in einer „Erklärung menschlicher Ereignisse, die der Erfahrung von Leid und Bösem einen Sinn verleiht.¹⁴ Berger sagt hier, wohlgemerkt, nicht, dass das Leid als etwas in sich Gutes oder Sinnvolles dargestellt wird (dies ist verschiedentlich versucht worden, doch Kritiker haben diese Versuche zu Recht als eine Art philosophischen Masochismus bezeichnet), sondern es geht darum, zu zeigen, dass das Erfahren von Leid nicht vergeudete Zeit sein muss, sondern eine schmerzliche, aber sinnvolle Art sein kann, das Leben gut zu leben.

    Dieser tiefe „innere Drang" bedeutet, dass jede Kultur ihren Gliedern bei der Bewältigung von Leid helfen muss, will sie nicht unglaubwürdig werden. Wo das Leid überhaupt nicht erklärt und mithin als vollkommen sinnlos und gleichzeitig unausweichlich betrachtet wird, kann es bei seinen Opfern zu einem tiefen, bohrenden Hass kommen, den Friedrich Nietzsche, Max Weber und andere als Ressentiment bezeichnet haben¹⁵ und der die Gesellschaft ernsthaft destabilisieren kann. Und so muss, in der Sprache der Soziologen, jede Gesellschaft ihren Gliedern einen „Diskurs" anbieten, der es ihnen ermöglicht, dem Leid einen Sinn abzugewinnen. Mit diesem Diskurs, zu dem eine Erklärung der Ursachen des Schmerzes sowie Anweisungen zum rechten Umgang mit ihm gehören, rüstet die Gesellschaft ihre Glieder für den Kampf des Lebens in dieser Welt zu.

    Nicht jede Gesellschaft bewältigt diese Aufgabe gleich gut. Unsere heutige westliche Kultur gibt ihren Gliedern keine Erklärung für das Leid und sehr wenig Hilfen, wie man am besten mit ihm umgeht. Elf Tage nach dem Amoklauf in Newtown im Dezember 2012 überschrieb Maureen Dowd ihre Kolumne in der New York Times vom 25. Dezember „Gott, warum?" und druckte die Reaktion eines katholischen Priesters auf das Massaker ab.¹⁶

    Fast sofort gab es Hunderte Reaktionen auf die Kolumne. Die meisten Einsender lehnten die dort vertretene Position ab, wobei jedoch ihre eigenen Positionen völlig unterschiedlich waren. Einige vertraten die Idee des Karmas, nach der wir mit unserem gegenwärtigen Leiden Sünden aus der Vergangenheit abzahlen. Andere schrieben (eine buddhistische Idee), dass diese materielle Welt nur eine Illusion sei. Wieder andere akzeptierten die traditionelle christliche Sicht, dass wir im Himmel unsere Lieben wiedersehen und für unser Leid auf der Erde getröstet werden. Einige erwähnten, dass Leid uns stärker macht – eine unbewusste Anknüpfung an die Stoiker und andere Denker der griechisch-römischen Antike. Wieder andere schrieben, dass diese Welt alles sei, was wir haben, und daher jeder „religiöse" Trost nur eine Torpedierung der einzig richtigen Reaktion auf Leid sei – dass man nämlich etwas tut, um seine Ursachen zu bekämpfen und die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

    Die Leserreaktionen auf diese Kolumne zeigten, dass unsere eigene Kultur ihren Gliedern fast keine Hilfen für den Umgang mit Lebenskatastrophen an die Hand gibt. Die Einsender mussten sich bei zahlreichen anderen Kulturen und Religionen (Hinduismus, Buddhismus, Konfuzianismus, griechisch-römische Antike, Christentum) bedienen, um mit dem Amoklauf fertigzuwerden. Jeder war letztlich auf sich selber gestellt.

    Tatsache ist, dass die heutigen Europäer und Nordamerikaner dem Leid schockierter und hilfloser gegenüberstehen als ihre Vorfahren. Im Mittelalter starb in Europa etwa jedes fünfte Neugeborene vor seinem ersten Geburtstag, und nur die Hälfte der Kinder wurde zehn Jahre alt.¹⁷ Die durchschnittliche Familie musste die Hälfte ihrer Kinder begraben, wenn sie noch klein waren, und die Kinder starben selbstverständlich zu Hause, vor den Augen und Herzen ihrer Eltern und Geschwister. Das Leben unserer Vorfahren war viel leidvoller als heute, aber unzählige Tagebücher, Briefe und andere Dokumente zeigen uns, dass sie dieses Leid viel besser bewältigten als wir heute unseres. Ein Experte für die frühe nordeuropäische Geschichte erwähnt, dass der moderne Leser fassungslos davorsteht, wie wenig Angst die Menschen vor 1500 Jahren vor Gewalt, Leid und Tod hatten.¹⁸ Ein anderer Autor merkt an, dass uns die Grausamkeit unserer Vorfahren schockiert, aber dass diese genauso von unserer „Weichlichkeit, Weltlichkeit und Ängstlichkeit" schockiert gewesen wären.¹⁹

    Und wir stehen hier nicht nur schlechter da als vergangene Generationen, sondern auch als viele Menschen in anderen Ländern unserer heutigen Welt. Dr. Paul Brand, ein Pionier in der Behandlung der Lepra, verbrachte den ersten Teil seiner medizinischen Karriere in Indien und den zweiten in den USA. Er schreibt: „In den USA ... traf ich auf eine Gesellschaft, die Leiden um jeden Preis vermeiden will. Die Patienten dort hatten mehr Annehmlichkeiten als alle, die ich bisher behandelt hatte, aber sie standen dem Leiden viel hilfloser und traumatisierter gegenüber."²⁰ Wie das?

    Die Antwort lautet in aller Kürze, dass andere Kulturen ihren Gliedern diverse Antworten auf die Frage, was der Sinn des menschlichen Lebens sei, gegeben haben. Einige Kulturen sagen, dass dieser Sinn darin besteht, ein gutes Leben zu führen und so irgendwann aus dem Kreislauf von Karma und Reinkarnation erlöst zu werden. Andere sagen, dass der Sinn darin besteht, erleuchtet zu werden und durch Erkenntnis der Einheit aller Dinge zur Ruhe zu kommen. Oder ein Leben der Tugend und Ehre zu führen. Oder in den Himmel zu kommen, um dort für immer mit seinen Lieben und mit Gott vereint zu sein. So verschieden diese Vorstellungen sind, eines haben sie gemeinsam: Leid kann, so schmerzlich es ist, ein wichtiger Weg zum Erreichen des Sinnes in meinem Leben sein. Es kann ein Segel sein, das mein Lebensschiff schneller zu dem großen Hafen bringt. Man könnte es auch so ausdrücken: In den großen „Sinnerzählungen" dieser Kulturen ist das Leid eines der zentralen Kapitel.

    Die moderne westliche Kultur ist da ganz anders. Für den Säkularismus ist die materielle Welt alles, was es gibt, und folglich besteht der Sinn des Lebens darin, sich das Leben wählen zu können, das einen am glücklichsten macht. Für Leid ist hier kein Platz; es ist eine lästige Störung meiner Lebensgeschichte, aber niemals ein sinnvolles Kapitel. Folglich muss ich es um fast jeden Preis vermeiden oder zumindest minimieren. In der Praxis bedeutet dies, dass der säkulare Zeitgenosse, der vor einem Leiden steht, das er nicht vermeiden oder minimieren kann, Anleihen beim Karma, beim Buddhismus, bei den Stoikern oder beim Christentum machen muss, obwohl er an diese Religionen eigentlich gar nicht glaubt.

    Dieser relativen Schwäche des modernen Säkularismus im Vergleich zu anderen Religionen und Kulturen wollen wir uns in den ersten Kapiteln dieses Buches näher zuwenden.

    Leid als Schule

    Richard Shweder gibt einen guten Überblick darüber, wie die heutigen nicht westlichen Kulturen ihren Gliedern helfen, „durch ihr Elend erbaut zu werden". Traditionelle Kulturen sehen die Ursachen von Leid durch eine stark von Religion, Gemeinwesen und Moral gefärbte Brille. Es gibt folgende vier typische Strategien für den Umgang mit dem Leid und dem Bösen in diesen Kulturen:

    Da ist zunächst die von einigen Anthropologen sogenannte moralistische Sicht (wobei sie dies nicht abwertend meinen). In manchen Kulturen sind Schmerz und Leid die Folge davon, dass jemand nicht richtig gelebt hat. Es gibt zahlreiche Versionen dieser Sicht. Viele Gesellschaften glauben, dass einem dann, wenn man die Sittengesetze und Gott bzw. die Götter ehrt, das Leben gelingt. Probleme im Leben sind ein Alarmsignal, dass man Buße tun und sich ändern muss. Die vielleicht reinste Form der moralistischen Sicht ist die Karma-Lehre: Jede Seele wird wieder und wieder reinkarniert, wobei sie in jedes neue Leben die Taten aus ihrer Vergangenheit und deren latente Folgen (darunter Leid) mitnimmt. Wenn ich heute leiden muss, ist das wahrscheinlich die Strafe für Sünden aus meinen vergangenen Inkarnationen. Und wenn ich mein heutiges Leben mit Anstand, Mut und Liebe lebe, dann wird es mir in meinen künftigen Inkarnationen besser gehen. Kurz: Alles muss bezahlt werden, daraus gibt es kein Entrinnen. Meine Seele wird erst dann in die göttliche Seligkeit der Ewigkeit entlassen, wenn ich meine sämtlichen Sünden abgebüßt habe.

    Es gibt zweitens die sogenannte ich-transzendierende Sicht.²¹ Der Buddhismus lehrt, dass Leid nicht aus unseren vergangenen Taten, sondern aus unerfülltem Begehren entspringt, und dieses Begehren kommt aus der Illusion, dass wir separat existierende Individuen seien. Wie die griechischen Stoiker sah Buddha die Lösung des Problems des Leides im Erlöschen des Begehrens durch eine Veränderung unseres Bewusstseins. Wir müssen unser Herz von allem lösen, was materiell und vergänglich ist, von Dingen ebenso wie von Personen. Das Ziel des Buddhismus besteht in „jener Begehren, Individuum und Leid auflösenden und erlöschenden Meeresstille des Gemütes.²² Andere Kulturen erreichen diese Ich-Transzendierung dadurch, dass sie kollektiv geprägt sind auf eine Art, die dem heutigen westlichen Menschen nahezu unbegreiflich ist. In solchen Gesellschaften gibt es Identität und Wohlergehen nur im Rahmen der Förderung des Wohles von Sippe und Stamm. Diese Weltsicht mildert das Leid, weil dieses das eigentliche „Ich ja gar nicht betrifft. Man lebt in seinen Kindern und in seinem Volk.²³

    Manche Gesellschaften versuchen Leid über Schicksal und Vorherbestimmung zu erklären. Unser Leben wird von den Sternen oder von übernatürlichen Kräften, vom Schicksal der Götter oder (im Islam) durch den unerforschlichen Willen Allahs bestimmt, und wer weise ist, schließt seinen Frieden mit dieser Realität. Die alten heidnischen Kulturen Nordeuropas glaubten, dass am Ende der Zeit die Götter und Helden in der Schlacht von Ragnarok allesamt von den Riesen und Monstern getötet werden würden. In diesen Gesellschaften war es die höchste Tugend, einen aussichtslosen Kampf tapfer zu Ende zu führen; das war die größte Ehre, die jemand erlangen konnte, und durch die er in Liedern und Legenden fortlebte. Die größten Helden dieser Kulturen waren stark und schön, aber traurig, weil der Untergang auf sie wartete. Ähnlich ist im Islam die Unterwerfung unter den unergründlichen Willen Allahs einer der Grundpfeiler eines richtigen Lebens. In all diesen Kulturen ist das kompromiss- und klaglose Akzeptieren eines Schicksals oder göttlichen Ratschlusses die höchste Tugend und somit eine Möglichkeit, dem Leid einen hohen Sinn abzugewinnen.²⁴

    Und schließlich gibt es die Kulturen mit einer „dualistischen" Weltsicht. Diese Religionen und Gesellschaften sehen die Welt nicht als völlig von einem Gott oder dem Schicksal beherrscht, sondern als Schlachtfeld zwischen den Kräften des Lichtes und der Finsternis. Die Ursache von Ungerechtigkeit, Sünde und Schmerz sind böse, satanische Mächte und die Leidenden sind Opfer dieses Krieges. Max Weber hat es so beschrieben: „Der Gang der Welt ist voll von unvermeidlichem Leiden, aber letztlich eine fortschreitende Reinigung des Lichtes von der Verunreinigung durch die Finsternis, und er fügt hinzu, dass diese Idee zu einer „sehr starken ... emotionalen Dynamik führt.²⁵ Die Leidenden, die die Opfer dieses Kampfes zwischen Gut und Böse sind, dürfen hoffen, weil am Ende das Gute siegen wird. Gewisse radikalere Varianten des Dualismus, wie der persische Zoroastrismus, glauben, dass am Ende der Zeit ein Erlöser kommen und die Welt neu machen wird, aber auch weniger radikale Varianten, wie manche marxistischen Theorien, sehen den Sieg des Guten über das Böse voraus.

    Auf den ersten Blick scheinen diese vier Positionen miteinander unvereinbar zu sein. Die ich-transzendenten Kulturen fordern den Leidenden auf, anders zu denken, die moralistischen, anders zu leben; in den fatalistischen soll er sich tapfer seinem Schicksal stellen, in den dualistischen auf die Zukunft hoffen. Aber sie haben auch vieles gemeinsam. Erstens sehen sie alle Leid nicht als etwas Überraschendes, sondern als notwendigen Teil der menschlichen Existenz. Zweitens sagen sie dem Leidenden, dass das Leid ihm zum Erreichen seines großen Lebensziels helfen kann, ob dieses nun inneres Wachsen, Selbstbeherrschung, Ehre oder der Einsatz für die Kräfte des Guten ist. Und drittens muss in all diesen Kulturen der Leidende selber aktiv werden; dass er in die rechte Beziehung zur spirituellen Realität kommt, ist seine Aufgabe.

    Die ich-transzendierende Kultur lässt den Leidenden sagen: „Ich muss sterben, aber meine Kinder und Kindeskinder werden weiterleben."²⁶ Buddhistische Kulturen lassen ihn sagen: „Ich muss sterben, aber der Tod ist nur eine Illusion, und ich werde anschließend genauso ein Teil des Universums sein wie jetzt. Der karmische Leidende kann sagen: „Ich muss leiden und sterben, aber wenn ich dies gut und edel tue, werde ich in der Zukunft ein besseres Leben bekommen und irgendwann ganz frei werden vom Leiden. Doch in jedem Fall ist Leid sowohl Aufgabe als auch Gelegenheit. Es gilt, nicht vergeblich zu leiden. All diese Denkweisen nehmen das Leiden sehr ernst, sehen es aber letztlich als Weg zu einem höheren Gut. Wie in Shakespeares Wie es euch gefällt Rosalindes Vater, Herzog Senior, sagt:

    Süß ist der Nutzen aus der Widrigkeit,

    die wie die Kröte, hässlich und giftig,

    doch einen wertvollen Juwel im Kopfe trägt.²⁷

    Diese traditionellen Kulturen gehen davon aus, dass Leid im Leben unvermeidlich ist, und den rechten Umgang mit dem Leid sehen sie vor allem als eine Sache der inneren Einstellung und des An-sich-Arbeitens. Sie rufen zu Sündenbekenntnis und Reinigung auf, zu innerem Wachstum und Stärkung, zu Wahrhaftigkeit und zum Aufbau der richtigen Beziehung zu sich selber, den Mitmenschen und der Gottheit. Leid ist eine Herausforderung, die, richtig bewältigt, das irdische Leben besser, weiser, größer, ja schöner machen und einen auf den ewigen Trost im Jenseits vorbereiten kann. Der Leidende wird auf eine bessere Zukunft hier auf Erden verwiesen, auf die ewige, selige Vereinigung mit der Gottheit, auf innere Erleuchtung und ewigen Frieden oder auf die Zuwendung Gottes und die Wiedervereinigung mit seinen Lieben im Paradies.

    Hier eine tabellarische Zusammenfassung dieser vier traditionellen Einstellungen zum Leid:

    Leid als Unfall

    Nachdem er diese anderen, traditionellen Kulturen dargestellt hat, stellt Shweder fest, dass unsere heutige westliche Gesellschaft eine völlig andere Einstellung zum Leid hat. Die westliche Wissenschaft hat ein „naturalistisches Weltbild. Während für andere Kulturen die Welt aus Materie und Geist besteht, sieht das westliche Denken nur materielle Kräfte in ihr am Werk, die jenseits von allem wirken, was mit „Sinn zu tun haben könnte. In dieser Welt ist Leid nicht die Folge von Sünde, einem kosmischen Kampf oder irgendwelchen Schicksalsmächten, sondern einfach ein Unfall oder Zufall. Shweder: „[In dieser Welt] ist Leiden zwar real, aber es liegt außerhalb des Bereiches von Gut und Böse." ²⁸ Mit seltener Deutlichkeit formuliert Richard Dawkins die säkulare Sicht vom Bösen und vom Leid in seinem Buch Und es entsprang ein Fluss in Eden:

    Das Leiden hat in der Natur jedes Jahr ein Ausmaß, das alle erträglichen Vorstellungen übersteigt. … In einem Universum mit blinden physikalischen Kräften und genetischer Verdoppelung werden manche Menschen verletzt, andere haben Glück, und man wird darin weder Sinn und Verstand noch irgendeine Gerechtigkeit finden. Das Universum, das wir beobachten, hat genau die Eigenschaften, mit denen man rechnet, wenn dahinter kein Plan, keine Absicht, kein Gut oder Böse steht, nichts außer blinder, erbarmungsloser Gleichgültigkeit.²⁹

    Dies ist ein totaler Bruch mit allen bisherigen Kulturen des Leidens. Diese sehen samt und sonders das Böse als etwas, das einen Sinn hat, sei es als Strafe, als Prüfung oder als Chance. Warum kämpfen die Menschen angesichts des Leidens so sehr? Für Dawkins gibt es einen ganz einfachen Grund: Sie wollen nicht akzeptieren, dass das Leid nie einen Sinn hat. Es ist sinnlos, weder gut noch böse – weil solche Kategorien wie „gut und „böse in dem Universum, in dem wir leben, sinnlos sind. Dawkins: „Wir Menschen sind zweckorientiert. Es fällt uns schwer, irgendetwas zu betrachten und nicht zu fragen, ,wozu‘ es vorhanden ist … die alte Versuchung kehrt mit Macht zurück, wenn das Unglück zuschlägt …: ‚Warum, ach warum nur musste der Krebs/das Erdbeben/der Orkan ausgerechnet mein Kind treffen?‘ Zu solchen Fragen kommt es – so Dawkins –, weil wir uns nicht eingestehen können, „dass etwas weder gut noch böse, weder grausam noch freundlich, sondern einfach nur gefühllos ist – gleichgültig gegenüber allem Leiden, ohne jeden Sinn.³⁰ Und er zitiert den Dichter A. E. Housman: „Die geist- und herzlose Natur wird weder wissen noch sich sorgen und schließt: „Die DNA weiß nichts und sorgt sich um nichts. Die DNA ist einfach da. Und wir tanzen nach ihrer Pfeife.³¹

    Kurz: Leid bedeutet – nichts. Es ist ein böser Schluckauf. Dawkins beharrt darauf, dass das Leben nicht dadurch, dass es keinen Gott gibt, „leer, sinnlos, vergeblich, eine Wüste aus Sinn- und Bedeutungslosigkeit wird", und erklärt jeden Versuch, angesichts des Leidens so etwas wie Sinn oder Bedeutung zu finden, für infantil.³²

    Shweder hält dergleichen Argumentationen für falsch und unrealistisch. Er schreibt: „Der Wunsch, Leiden einen Sinn zu geben, ist eine der Eigenschaften, die unserer Spezies am meisten Würde geben."³³ Was uns von Tieren unterscheidet, ist unter anderem, dass wir auf Leid nicht einfach mit Geschrei und Flucht reagieren, sondern einen Sinn in ihm suchen und es so transzendieren. Wir sehen uns nicht als hilflose Zahnräder in einer grausamen Maschine. Und dies gibt uns nicht nur Würde, sondern es gehört unauslöschlich zu unserem Menschsein dazu. Für Peter Berger und seine Kollegen auf dem Gebiet der Kulturwissenschaften verlangt Dawkins das Unmögliche. Ohne Sinn sterben wir.

    Natürlich – Dawkins fährt fort und sagt: „Die wirklich erwachsene Einstellung dagegen lautet: Unser Leben ist so sinnvoll, so ausgefüllt und großartig, wie wir selbst es gestalten."³⁴ Mit anderen Worten: Ich muss mir meinen eigenen Sinn schaffen. Ich entscheide, welches Leben ich am wertvollsten und lebenswertesten finde, und versuche dann, mir dieses Leben zu schaffen.³⁵

    Aber jeder solcher selbst gemachte Sinn kann nur innerhalb der Grenzen dieser materiellen Welt und dieses physischen Lebens liegen, und genau hier unterscheidet sich diese Sicht der Realität und des Leidens so diametral von allen anderen bisherigen. Wenn ich die Grundannahme des Säkularismus, dass wir es mit einem rein materiellen Universum zu tun haben, akzeptiere, dann muss das, was meinem Leben Sinn gibt, etwas Materielles, in dieser Welt zu Findendes sein – irgendeine Annehmlichkeit, Vergnügen oder Sicherheit. Doch Leid blockiert das Erreichen solcher Lebensgüter; es bedeutet ihre Zerstörung oder zumindest ernste Bedrohung. Wie Paul Brand im letzten Kapitel seines Buches The Gift of Pain [„Die Gabe des Schmerzes"] darlegt: Leid ist für die Amerikaner deswegen etwas so Schreckliches, weil für sie der Sinn des Lebens darin besteht, glücklich zu sein und ihre Freiheit auszuleben.

    In allen anderen Kulturen ist der höchste Sinn des Lebens etwas anderes als persönliches Glück und Wohlergehen. Er heißt Tugend, Erleuchtung, Ehre oder Treue zur Wahrheit. Ein sinnvolles Leben führt, wer ein ehrenhafter Mensch ist oder jemand, zu dem seine Kinder und Nachbarn aufschauen können, oder der sich für eine große Sache einsetzt oder den Himmel oder der die Erleuchtung sucht. In all diesen Kulturen ist Leid etwas, das dazu hilft, die Geschichte zu einem guten Ende zu bringen. All diese „Lebenssinne" erreicht man nicht trotz des Leidens, sondern gerade durch Leiden. In all diesen Weltanschauungen haben das Leid und das Böse nicht das letzte Wort. Wenn ich ihm mit Geduld, Weisheit und Heldenmut begegne, kann das Leid die Reise zu dem ersehnten Ziel geradezu beschleunigen. Es kann ein wichtiges Kapitel in meiner Lebensgeschichte werden, etwas, das mir entscheidend zur Verwirklichung meiner höchsten Wünsche hilft. Für den überzeugten Säkularisten dagegen kann Leid niemals ein gutes Kapitel in seiner Lebensgeschichte sein, sondern nur eine lästige Unterbrechung. Es bringt ihn nicht nach Hause, sondern nimmt ihm das weg, was er im Leben am meisten will. Kurz: In der säkularen Weltsicht ist das Leid immer der Sieger.

    Shweder drückt es so aus: Beim Thema „Leid ist die „herrschende Metapher in der heutigen säkularen [Weltsicht] die des zufälligen Missgeschicks. Der Leidende ist das Opfer von Angriffen durch blinde, absichtslose Naturkräfte. Was bedeutet, dass „Leid … vom Erzählstrang unserer Lebensgeschichte abgekoppelt ist. [Es ist] eine Art ‚atmosphärisches Rauschen‘, eine zufällige Störung des Lebensdramas des Leidenden. … Leiden hat keinen erkennbaren Bezug zu irgendeinem Handlungsgerüst, außer als chaotische Unterbrechung."³⁶ Ältere Kulturen (und heutige nicht westliche Kulturen) sehen Leid als normalen Bestandteil einer Lebensgeschichte, als entscheidenden Bestandteil eines guten Lebens, durch den wir persönlich und seelisch wachsen. Aber in unserer heutigen westlichen Gesellschaft ist der Sinn des Lebens die persönliche Freiheit. Es gibt in ihr kein höheres Gut als das Recht und die Freiheit, selber darüber zu bestimmen, was für mich gut ist. Die kulturellen Institutionen sollen neutral und „wertfrei sein; sie sollen den Menschen nicht vorschreiben, für was sie leben sollen, sondern dafür sorgen, dass jeder die Freiheit hat, so zu leben, wie er es am besten findet. Wenn aber der Sinn des Lebens persönliche Freiheit und Glück ist, dann hat Leid keinen „Nutzen. In dieser Weltsicht kann man mit Leid nur eines machen: ihm um jeden Preis ausweichen oder, wo dies nicht möglich ist, den Schmerz und das allgemeine Missgefühl so stark wie möglich dämpfen.

    Opfer unseres Leides

    Diese Sicht impliziert unter anderem, dass die Verantwortung für die Reaktion auf das Leiden nicht mehr beim Leidenden selbst liegt. Shweder schreibt, dass Leid als zufälliges Missgeschick „durch die Intervention von … Experten angegangen werden muss, die über bestimmte Fertigkeiten zur Behandlung des Problems verfügen." ³⁷ Die traditionellen Kulturen sehen in dunklen Stunden vor allem den Leidenden selber gefordert. Er hat innerlich an sich zu arbeiten und Geduld, Weisheit, Treue und Beharrlichkeit zu lernen. Die heutige westliche Kultur dagegen sieht Leid nicht als Gelegenheit oder Prüfung – und ganz gewiss nie als Strafe. Der Leidende ist das Opfer eines unpersönlichen Universums, und man schickt ihn zu (medizinischen, psychologischen oder soziologischen) „Experten", deren Aufgabe es ist, durch die Beseitigung möglichst vieler Stressoren den Schmerz zu lindern.

    Doch diese Weichenstellung – Leid in die Hände von „Experten zu geben – hat in unserer Gesellschaft zu großer Verwirrung geführt, weil die verschiedenen Expertenschulen sehr unterschiedliche Ansichten darüber haben, was der Leidende tun sollte. James Davies, ein studierter Psychotherapeut und gleichzeitig Anthropologe, weiß, wovon er spricht, wenn er schreibt: „Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich bei den meisten Menschen in unserer Gesellschaft bei der Frage, warum sie emotional leiden, eine immer größere Verwirrung breitgemacht. Er listet „biomedizinische Psychiatrie, akademische Psychiatrie, Genetik, moderne Wirtschaftswissenschaften auf und fährt fort: „Jede dieser Traditionen basierte auf ihren eigenen Grundannahmen und verfolgte mit ihren eigenen Methoden ihre eigenen Ziele, sodass sie menschliches Leiden im Wesentlichen auf je eine Hauptursache reduzierten (z. B. Biologie, kognitive Störungen, nicht erfüllte Eigeninteressen).³⁸ Wie es so schön heißt: Für den Hammerexperten sieht jedes Problem wie ein Nagel aus. Die säkulare Denke gibt die Leidenden in die Hände von Experten, doch die Spezialisierung und der Reduktionismus der verschiedenen Arten von Experten verwirrt die Menschen letztlich nur.

    Davies’ Ergebnisse bestätigen Shweders Analyse. Er erklärt, wie das säkulare Modell die Psychotherapeuten dazu animiert, Leid zu „dekontextualisieren", es also nicht mehr, wie die alten Kulturen, als zur Lebensgeschichte einer Person dazugehörig zu betrachten. Davies bezieht sich auf ein 2007 ausgestrahltes BBC-Interview mit Dr. Robert Spitzer, einem Psychiater, der die Arbeitsgruppe leitete, die 1980 das DSM-III zusammenstellte, also die dritte Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders („Diagnostischstatistisches Handbuch der psychischen Störungen) der American Psychiatric Association. Mit dem DSM-III wollte man eine größere Standardisierung psychiatrischer Diagnosen erreichen. In dem BBCInterview sagte Spitzer unter anderem, dass er damals wohl zahlreiche völlig normale menschliche Äußerungen von Trauer, Leid und Angst fälschlicherweise als psychische Störungen bezeichnet hatte. Als der Reporter ihn fragte: „Dann haben Sie also ein Gutteil stinknormale menschliche Traurigkeit zu einem medizinischen Problem gemacht?, erwiderte Spitzer: „Zum Teil sicher schon. … Wie ernst dieses Problem ist, wissen wir nicht … vielleicht zwanzig Prozent, oder dreißig … was ziemlich viel wäre."³⁹

    Davies berichtet weiter, dass das DSM sich fast völlig auf die äußerlichen Symptome konzentrierte:

    Sie hatten kein Interesse daran, das Leben des Patienten zu verstehen oder wie er zu diesen Symptomen gekommen war. Wenn ein Patient sehr traurig, ängstlich oder unglücklich war, ging man davon aus, dass dies eine Störung war, die behandlungsbedürftig war, und nicht eine natürliche, normale menschliche Reaktion auf bestimmte Lebensumstände, die verändert werden mussten.⁴⁰

    Früher hatte man im Schmerz des Leidens das Symptom eines Konfliktes zwischen der inneren und der äußeren Welt der betroffenen Person gesehen. Entweder das Verhalten und Denken des Leidenden musste verändert werden oder ein wichtiger Aspekt seiner Umgebung oder beides. Der Schwerpunkt lag nicht auf dem unangenehmen, schmerzlichen Gefühl als solchem, sondern auf dem, was es einem über sein Leben und wie man es möglicherweise ändern musste, sagte. Solch eine Analyse erfordert natürlich ethische und religiöse Standards. Sie verlangt Werturteile. Darüber zu diskutieren war für die in säkularen Institutionen ausgebildeten Experten nahezu unmöglich. Und so betrachtete man nicht mehr die Lebensgeschichte des Patienten, sondern die emotionalen Symptome, und die Experten hatten die Aufgabe, durch diverse wissenschaftliche Techniken den Schmerz zu lindern. Die Lebensgeschichte wurde außen vor gelassen. Davies kommt zu dem Schluss:

    Der wachsende Einfluss des DSM war einer von vielen sozialen Faktoren, die dem schädlichen Denken Vorschub leisteten, dass ein Großteil unseres Alltagsleidens eine lästige Störung ist, die man so schnell wie möglich beseitigen muss. Es ist ein Denken, das uns immer mehr zu Gefangenen einer Weltsicht macht, die jegliches Leid als rein negative Kraft in unserem Leben sieht.⁴¹

    Leid als Zumutung

    In der säkularen Sichtweise ist Leid nie ein sinnvoller Teil des Lebens, sondern immer nur eine Störung. Damit aber gibt es gegenüber Leid und Schmerz nur zwei Reaktionen. Die erste besteht darin, den Schmerz zu „managen und zu lindern, und so sind im Laufe der letzten zwei Generationen die meisten „Profihelfer dazu übergegangen, mit Menschen, die leiden, nicht mehr über das Leid an sich zu reden, sondern über den Stress, den es verursacht. Sie zeigen den Menschen nicht mehr, wie sie ihre Not geduldig tragen können, sondern versuchen (mit einem Vokabular, das aus der Welt der Wirtschaft, der Psychologie und der Medizin kommt), sie zu befähigen, mit ihrem Stress oder Trauma besser fertigzuwerden. So rät man dem Leidenden, negative durch positive Gedanken zu ersetzen und sich mit Freizeit, Ausgleichssport und hilfreichen Beziehungen etwas Gutes zu tun. Alles dreht sich um die optimale Reaktion auf das Leid.

    Die zweite Methode, in der säkularen Denkweise mit Leid umzugehen, besteht darin, die Ursache des Leides zu ermitteln und zu beseitigen. Andere Kulturen sehen Leid als unvermeidlichen Teil des Lebens, der durch unsichtbare Mächte (wie das illusorische Wesen des Lebens oder den Konflikt zwischen Gut und Böse) verursacht wird. Aber unsere moderne Kultur glaubt nicht mehr an unsichtbare spirituelle Mächte; Leid hat immer eine materielle Ursache und kann daher im Prinzip „repariert werden. Viel Leid entsteht z. B. durch ungerechte wirtschaftliche und soziale Verhältnisse, schlechte Politik, kaputte Familien oder schlicht böse Menschen, und die richtige Reaktion darauf ist, dass man protestiert, die Schuldigen konfrontiert und etwas tut, um die Situation zu ändern. (Was nichts Schlechtes sein muss; die Bibel hat viel zu dem Thema „Gerechtigkeit für die Bedrückten zu sagen.)

    Ältere Kulturen suchten im Leiden einen Sinn durch den Blick nach innen. Die Menschen in der modernen westlichen Kultur sind oft einfach empört über ihr Leid und versuchen, die Verhältnisse so zu verändern, dass dieses Leid sich nicht wiederholen kann. Niemand hat den Unterschied zwischen Tradition und Moderne prägnanter formuliert als C. S. Lewis, der schrieb: „Für die Weisen der Vergangenheit hatte das Hauptproblem darin bestanden, die Seele mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen, und die Lösung hatte gelautet: Einsicht, Selbstbeherrschung und Tugend. Für … [die Moderne] heißt das Problem, die Wirklichkeit den Wünschen der Menschen gefügig zu machen; die Lösung liegt in einer Technik."⁴² Und der Philosoph Charles Taylor zeigt in seinem richtungsweisenden Buch Ein säkulares Zeitalter, wie die westliche Gesellschaft die von ihm so genannte „anthropozentrische Wende vollzog, die Hinwendung zur säkularen Weltsicht. Nach dieser Wende, so Taylor, „beginnt diese Vorstellung von der ordnenden Präsenz Gottes zu verblassen. Allmählich stellt sich das Gefühl ein, wir selbst seien dazu in der Lage, diese Ordnung zu tragen. Als Folge davon wird in der westlichen Gesellschaft „unser höchstes Ziel … die Verhütung von Leiden".⁴³

    In der westlichen Kultur sagt man dem Leidenden also nicht, dass seine Hauptaufgabe darin besteht, aus seinem Leiden zu lernen oder innerlich zu wachsen. Wie Shweder zeigt, gibt man dem Leidenden praktisch nie die moralische Verantwortung für sein Problem, ja der bloße Gedanke gilt als „Beschuldigung des Opfers – eine der Haupthäresien der heutigen westlichen Gesellschaft. Die Reaktion auf Leiden obliegt stets den „Experten und erfolgt durch Schmerzmanagement, psychologische oder medizinische Behandlung oder Änderungen in Politik und Gesetzgebung.

    Im Boston Review wurde Larissa MacFarquhar über ihre Artikel über moderne „barmherzige Samariter" interviewt, die große Opfer für andere Menschen bringen. Viele von ihnen waren natürlich religiös, und MacFarquhar, ständige Korrespondentin für den New Yorker, war religiös unmusikalisch. Der Interviewer fragte sie, wie sie diese Menschen sah. Ihre Antwort war kompetent und ehrlich; sie sah einen „Unterschied zwischen religiösen … und säkularen Menschen, der sehr erhellend war." MacFarquhar wörtlich:

    Ich … finde, dass es in vielen religiösen Traditionen eine viel größere Akzeptanz des Leidens gibt, als etwas, das zum Leben dazugehört und nicht unbedingt immer etwas Schreckliches ist, weil es einem helfen kann, als Person zu wachsen, während – jedenfalls nach meiner begrenzten Erfahrung – die säkularen Utilitarier Leid hassen. Sie sehen in ihm überhaupt nichts Gutes; sie wollen es ausmerzen und sehen sich als diejenigen, die das bewerkstelligen müssen.

    Sie fuhr fort, dass säkulare Menschen auch nicht an einen Gott glauben, der einmal alles recht machen wird. Für Menschen, die glauben, „sitzt Gott im Sattel, und seine Liebe wird die Welt zurechtbringen. Für die Säkularen dagegen sind wir die, die alles machen müssen. Wir sind allein in dieser Welt, und das scheint mir der Grund dafür zu sein, dass säkulare Menschen manchmal dieses Gefühl haben, wenn nicht sofort etwas geschieht, ist alles zu spät."⁴⁴

    Das Christentum im Konzert der Kulturen

    Ergänzen wir unsere Tabelle der Einstellungen zum Leid durch den Säkularismus als fünfte Kultur des Leides:

    Wie verhält sich das Christentum zu diesen Kulturen? Max Scheler zeigt in seinem berühmten Artikel „Vom Sinn des Leides" die Einzigartigkeit der christlichen Kultur des Leides auf. Für ihn „mutet die christliche Leidenslehre wie eine völlige Umkehr der Einstellung zum Leide an"⁴⁵, wenn man sie mit anderen Kulturen und Religionen vergleicht.

    Anders als in der für die Ehrenkulturen so typischen fatalistischen Sicht gilt für das Christentum: „kein antiker Leidenshochmut mehr, der sich des Leides rühmt, weil seine Größe die eigene Kraft ermisst und der Umwelt weiset. Kein stoisches Ertragen mehr, sondern: „Der so lange verhaltene Schrei der leidenden Kreatur durchtönt wieder frei und herb das All, und das vom Kreuz selber herab.⁴⁶ Christen dürfen, ja sollen ihr Leid in Tränen und Fragen fassen.

    Anders als die Buddhisten glauben Christen, dass Leid real ist, und keine Illusion. „Und keinerlei Umdeutung mehr: Schmerz ist Schmerz, ist Übel, Lust ist Lust – und positive Seligkeit, nicht bloß ‚Friede‘ … ist das Gut der Güter. Auch keine Abstumpfung, sondern seelenweichendes Durchleiden des Leidens in Eigen- und Mitleid."⁴⁷ Wir sehen auch dies bei Jesus selber. Im Garten Gethsemane sagte er: „Ich zerbreche beinahe unter der Last, die ich zu tragen habe (Markus 14,34), und seine innere Not war so groß, dass sein Schweiß wie Blutstropfen auf die Erde fiel (Lukas 22,44). Er war das genaue Gegenteil stoischer Gelassenheit. Um Frieden zu bekommen, ging er nicht innerlich auf Abstand zu den guten Dingen des Lebens, sondern sagte seinem Vater: „Aber nicht, was ich will, sondern was du willst, soll geschehen (Markus 14,36).

    Anders als die Karma-Gläubigen finden Christen Leid oft ungerecht und unverhältnismäßig. Das Leben ist schlicht nicht fair. Viele Menschen, die vorbildlich leben, haben nichts vom Leben. Scheler schreibt, dass das Christentum dies erkennt und damit dem ganzen Elend und Ernst des Leidens Rechnung trägt, während die Karma-Religionen alles persönliche Leid als völlig gerechten Lohn für die Taten des Menschen ansehen. Die Sicht der Bibel, dass Leid nicht selbst verschuldet sein muss, finden wir erstmals im Buch Hiob: Gott tadelt Hiobs Freunde, weil sie darauf bestanden hatten, dass Hiob sein Elend durch irgendwelche Sünden selbst verschuldet haben musste.

    Am allerdeutlichsten wird sie bei Jesus: Wenn jemals ein Mensch aufgrund seines Charakters und Verhaltens ein gutes Leben verdient hatte, dann Jesus – aber er bekam es nicht. Für Scheler kreist der ganze christliche Glaube um das Bild „des schuldlosen ‚frei übernommenen‘ Leidens eines Menschen für fremde Schuld. Es „gewinnt durch die göttliche Qualität des Leidenden einen wunderbaren neuen Adel. Im Lichte des Kreuzes wird Leiden „Läuterung – nicht Strafe".⁴⁸

    Anders als die dualistische (und zum Teil auch die moralistische) Position sieht der christliche Glaube im Leiden kein Mittel, durch standhaftes und tapferes Ertragen des Schmerzes seine Sünden „abzuarbeiten". Er lehrt nicht, dass „willkürliche Zufügung von Schmerz und Leiden in der Askese … Gott näherbringe. … Die Auffassung, dass Leiden an sich Gott näherbringe, ist weit mehr griechisch und neuplatonisch als christlich …"⁴⁹ Der Dualismus teilt die Welt auch gerne in „die Guten und „die Bösen auf und macht das Leiden zu einem Kennzeichen moralischer Überlegenheit, das die Dämonisierung der Menschen, die mir Böses getan haben, rechtfertigt. Christen dagegen glauben, in der berühmt gewordenen Formulierung von Alexander Solschenizyn, dass „die Grenze zwischen Gut und Böse quer durch das Herz jedes Menschen verläuft".⁵⁰

    Nein, die christliche Sicht vom Leid ist von der Gnade dominiert. In Christus bekommen wir Vergebung unserer Schuld, Gottes Liebe und die Adoption in die Familie Gottes – lauter Geschenke, die unverdient sind, und die uns von der Versuchung, stolz auf unser Leid zu sein, frei machen. Aber gleichzeitig machen diese Geschenke das Leid erträglicher. Hören wir wieder Max Scheler: „Nicht das Brennen bloßer Aussicht auf ein seliges Jenseits, sondern erlebte Seligkeit im Besitze eines gnädigen Gottes mitten in der Marter entband im Märtyrer diese wunderbaren Kräfte." In der Tat wird das Leid durch diese Freuden nicht nur erträglich, sondern es wird geadelt. „Die christliche Leidenslehre fordert mehr als ein geduldiges Ertragen der Leiden."⁵¹ Es geht darum, dass „die Schmerzen und Leiden des Lebens unseren geistigen Blick mehr und mehr auf die zentralen ‚geistigen‘ Lebensgüter und auf die Heilsgüter hinlenken …, die uns … in der Gnade und Erlösung Christi angeboten sind."⁵²

    Und wie sieht die christliche Sicht vom Leid im Vergleich zur säkularen aus? Wir werden uns dieser wichtigen Frage später noch ausführlicher widmen, hier vorab das Wichtigste: Anders als der Fatalismus lehrt das Christentum, dass Leid schrecklich ist; anders als der Buddhismus, dass es real ist; anders als die Karma-Lehre, dass es oft ungerecht ist – und anders als der Säkularismus, dass es einen Sinn hat. Leid ist sinnvoll, und richtig betrachtet kann es uns wie einen Nagel tief in das Liebesherz Gottes hineintreiben und uns mehr innere Stabilität und Kraft geben, als wir uns vorstellen können. Der Buddhismus sagt: Akzeptiere das Leiden. Die Karma-Lehre sagt: Zahle es ab. Der Fatalismus sagt: Trage es wie ein Held. Der Säkularismus sagt: Meide es oder repariere es. Aus der christlichen Sicht haben all diese Leidenskulturen ihr Fünkchen Wahrheit. Es stimmt: Der Leidende sollte nicht zu sehr an den Gütern dieser Welt hängen. Und die Bibel sagt, dass das meiste Leid in der Welt daher kommt, dass die Menschen sich von Gott abgewandt haben. Wir sollten in der Tat das Leid tragen und uns nicht von ihm unterkriegen lassen. Und es ist richtig, wenn wir Dinge, die zu Leid führen, nicht einfach passiv hinnehmen, sondern daran arbeiten, sie zu ändern. Die vorsäkularen Kulturen waren angesichts von Umständen und Ungerechtigkeiten, die zu Leid führen und die man ändern kann, oft zu passiv.

    Aber aus christlicher Sicht sind all diese Leidenslehren zu einfach und reduktionistisch und daher bloße Halbwahrheiten. Das Vorbild und Erlösungswerk von Jesus Christus führt diese verschiedenen Sichtweisen zu einem schlüssigen Ganzen zusammen und geht gleichzeitig über sie hinaus. Scheler kehrt am Ende seines großen

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1