Rund um die Ostsee: 10.000 Kilometer auf dem Fahrrad
Von Reinhard Rosenke
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Über dieses E-Book
Reinhard Rosenke
Reinhard Rosenke (geb. 1940 in Berlin-Köpenick) ging in Berlin-Friedrichshagen auf die Gerhard-Hauptmann-Schule. Man ließ ihn aus politischen Gründen durchs Abitur fallen. 1959 verließ er mit Eltern und Bruder die DDR und holte in West-Berlin das Abitur nach. An der PH wurde er zum Grundschullehrer ausgebildet, einem Beruf, den er mit Begeisterung und Energie in Berlin-Rudow ausübte, bis ihn die Krebserkrankung seiner Frau zum Aufgeben zwang. Zeitlebens war (und ist) er ein großer Wanderer und Radler, davon zeugen zahlreiche Bücher.
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Buchvorschau
Rund um die Ostsee - Reinhard Rosenke
Motto
DEUTSCHLAND
Aufbruch
Im Dämmerlicht des 1. Juni 2006 spielt sich auf einem Grundstück am südlichen Rand von Berlin eine geheimnisvolle Szene ab. Da nähert sich eine Gestalt dem Stamm einer hohen, abgestorbenen, astlosen Fichte, blickt prüfend nach oben und macht sich dann entschlossen an seine Besteigung. Die noch harzenden Aststümpfe ermöglichen es, bis an die schwankende Spitze zu gelangen. Jetzt zaubert die Gestalt unter dem Hemd eine an einem langen Stock befestigte kleine Fahne hervor, dazu Schnur, Schere und eine Rolle Klebeband. Eine Hand dient zum Festhalten, mit der anderen Hand und dem Mund gelingt es unter ziemlicher Mühe, das Fähnchen windfest aufzupflanzen. Auch jetzt weht es nicht schlecht, alles ist in Bewegung: der Fichtenstamm, die vor Anstrengung zitternden Knie, und auch der bunte Stoff flattert sogleich munter drauflos. Zufrieden begibt sich der Kletterer zurück auf festen Boden. Das Tuch zeigt ein weiß umrandetes blaues Kreuz auf weinrotem Grund: die Fahne Norwegens.
Ich, die Gestalt, der Kletterer, habe den Gedanken wahr gemacht, der mir gestern kam und für den ich umgehend mit dem Rad zum Segelladen am Wannsee radelte, wo man Wimpel und Fähnchen aller Art bekommt. Ohne dass ich es mir erklären kann, vielleicht weil die Vorstellung von der Riesenstrecke, die vor mir liegt, in mir einen Bammel erzeugt, ist diese kleine, nur für mich selbst inszenierte Zeremonie eine Art Beschwörung: Solange sich der Norwegenstander auf der Baumspitze im Winde bewegt, wird alles gut! Nebenbei soll es aber auch ein wenig zur Erheiterung der Hausbewohner und Nachbarn beitragen, die sich die Augen reiben und fragen werden: „Was soll denn das?"
Nun, der zum Himmel aufragende Fichtenstamm symbolisiert für mich die nach oben, nach Norden gerichtete Kompassnadel. Und nach Norden will ich noch am heutigen Donnerstagmorgen aufbrechen.
To the north to the north and you go with me old boy!
To the north to the north that´s my only joy…
Dieses Lied aus den Goldgräberzeiten am Klondike habe ich mit meinem Bruder Eberhard schon auf einer Fuß- und Kanutour in Kanada und Alaska gesungen und ein anderes Mal auf unserer gemeinsamen Fahrradtour zu Australiens
Nordspitze Cape York. Diesmal ist das Nordkap mein Ziel. Ich denke: „Nun flattere mal schön, liebes Fähnchen, halte durch, bis ich dort oben bin!"
Die Aufregung über mein bevorstehendes Abenteuer raubt mir den Frühstücksappetit. Das Fahrrad lehnt an der Hauswand, beladen mit vier Gepäcktaschen, außerdem Zelt, Schlafsack und Luftmatratze. Am Fahrradrahmen klemmt eine 1½-Liter-Trinkflasche aus Stahl. Ich gehe noch kurz zum nahegelegenen Grab meiner Gisela, die mich Anfang dieses Jahres für immer verlassen hat. Hertha, Uschi und Henry, meine lieben Hausbewohner, sagen mir ade und knipsen einige Fotos von dem mit grauem Regenzeug und einem alten Filzhut aus Alaska bekleideten Nordlandfahrer. Ungeprobt und daher für mich spannend werden die ersten gefahrenen Meter: Spur fahren, den Gartenweg entlang! Etwas wackelig schlingere ich mit der 28-kg-Last durch das Gartentor. Links, wieder links und dann rechts, und schon bin ich auf einem Feldweg in Richtung Osten. Erleichtert registriere ich: Das Fahren mit dem ungewohnten Gewicht macht keine Schwierigkeiten, sofern ich eine bestimmte Geschwindigkeit nicht unterschreite. Über vertraute Feld- und Waldwege, durch Dörfer und Kleinstädte, über Dahme und Spree lenke ich mein Gefährt gen Nordosten. Kurios, durch das Dörfchen Kiekebusch zu fahren, dessen märkischen Namen mein Hauswirt trägt. Interessant, in Erkner zufällig an der offenbar frisch restaurierten Laßen-Villa vorbeizukommen, in welcher der berühmte Dichter des Naturalismus, Gerhart Hauptmann, viele Jahre wohnte und wo er das Drama Vor Sonnenaufgang und die Novelle Bahnwärter Thiel geschrieben hat. Symptomatisch für die riesige vor mir liegende Wegstrecke ist mein erster Schweißverlust beim Auf und Ab durch die Märkische Schweiz. Und wohltuend die Worte einer Briefträgerin, mit der ich auf dem holperigen Pflaster von Buckow ein paar Worte wechsle: „Find ick jut, det Se sich det zutraun. Meen Mann würd ick det nich erlauben. Trotzdem: Komm Se jesund wieda!"
Der graue Himmel schickt einige Schauer herab, aber als ich eine kleine Imbisspause mache, beleuchten für einen Moment helle Sonnenstrahlen die Waldwiese vor mir wie eine Bühne. Einziger Darsteller ist ein schmucker Kranich, ungewöhnlich nahe für ein so scheues Tier. Fühlt er sich einsam? Seine lautstarken Trompetenrufe werden nicht erwidert.
Nachmittags - meine ersten 100 km liegen hinter mir - leuchtet plötzlich „Potsdamer Gelb" durch hohe Baumwipfel. Das ehemalige Gutsschloss und jetzige
Start in Lichtenrade
Küstriner Festungsreste an der Oder
Sorenbohm
Ostseebad Stolpmünde
Schlosshotel Wulkow heißt mich willkommen. Denn diesen kleinen Gag will ich mir vor den vielen kommenden Zeltnächten noch leisten: die erste Reisenacht in einem Schloss! Zuerst und zuletzt sah ich das Schloss an einem wirbelnden, schneereichen Wintertag zusammen mit Freunden. Jetzt posiert gerade eine Hochzeitsgesellschaft für ein Foto vor dem stolzen Bau.
Wir sind hier schon am Rande des Oderbruchs. Nur wenige Kilometer entfernt liegt das von Friedrich Karl Schinkel 1823 umgebaute Barockschloss Neu Hardenberg. Friedrich der Große hatte es einst dem Rittmeister bei den Ziethen-Husaren, Joachim Bernhard von Prittwitz, nach Ende des Siebenjährigen Krieges geschenkt. Prittwitz hatte in der Schlacht von Kunersdorf, östlich der Oder, mit einer mutigen Attacke seinen König vor der Gefangennahme durch die Kosaken gerettet. Beim Abendbrot bin ich in einem kleinen Saal fast allein.
Ein großes Bücherregal weckt meine Neugier: Vielleicht finde ich noch eine interessante Abendlektüre? Ich schaue, schaue genauer und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Das hier muss der komplett übernommene Bücherbestand aus einer DDR-Provinzbibliothek sein. Parteilich und parteiisch zusammengestellte Zeigefingerlektüre für politisch unmündig gehaltene Bürger. Zwar macht das den Einrichtern des Hotels keine Ehre, aber jetzt, 16 Jahre nach dem Mauerfall, hat dieses Bücherregal ja schon einen musealen Charakter.
An der Oder
Mit einigen belegten Brötchen vom Frühstück im Gepäck, einem blauen Himmel über mir und voller innerer Spannung schwinge ich mich am Morgen des 2. Juni in den Sattel. Auf ruhigen Landstraßen rolle ich auf den deutsch-polnischen Grenzübergang Küstrin zu. Ich denke an den bevorstehenden Tag in Polen. Ich denke aber auch unvermeidlich an die Oderschlacht von Mitte April 1945, bekannt als die Schlacht um die Seelower Höhen, deren Ausläufer ich gerade durchfahre. Dieses natürliche Hindernis musste die russische 8. Gardearmee unter General Tschuikow noch nehmen, dann konnte sie fast ungehindert bis nach Berlin vorstoßen. Einer gewaltigen Streitmacht von 900.000 gut ausgerüsteten sowjetischen Soldaten standen westlich der Oder fünfmal weniger deutsche Soldaten gegenüber, längst schon ausgeblutet, zusammengewürfelt und unzureichend bewaffnet. Weit über 100.000 Soldaten mussten auf beiden Seiten hier in wenigen Tagen ihr Leben lassen. Es war die größte Schlacht, die jemals auf deutschem Boden stattfand.
Auf dem weiteren Weg nach Küstrin fallen mir die zahlreichen neuen oder neu renovierten Häuser sowie nagelneue Asphaltstraßen und befestigte Wege auf. Nach dem letzten Oderhochwasser von 1997 hat der Staat hier wohl sein Versprechen gehalten. Es geht gegen Mittag, ist warm geworden. Ich verwandle meine lange Goretexhose mittels Reißverschlüssen in eine kurze. Nacktbeinig werde ich denn auch den größten Teil meiner Reise zurücklegen.
Da, die Oderbrücke! Die Reste der einstigen Festung Küstrin ziehen sich als Grundmauern aus roten Ziegeln am Ufersaum des Flusses hin. Berühmtheit erlangte diese Festung einst durch die Haft des jungen Kronprinzen Friedrich, der - im Range eines Oberleutnants - geplant hatte, vor seinem tyrannischen Vater, dem „Soldatenkönig", zu desertieren. Er musste hier mit ansehen, wie man seinen Freund und Mitwisser, den Leutnant Hans Herrmann von Katte, in der Nacht vom 5. zum 6. November 1730 auf dem Festungshof exekutierte.
Nicht weit von der Oderbrücke, die ich gerade überquere, zeigt ein hoher, sandsteinfarbener Pylon auf seiner Spitze den fünfzackigen Sowjetstern. Dicht dabei, auf stabilen Sockeln, T-34 Panzer. Kleine Dinger im Vergleich zu den heutigen Monstern. Das Fahrrad schiebend nehme ich die Bilder in mir auf. Schon weisen weiße Spurpfeile und Hinweisschilder auf die nahe Grenzkontrolle hin. Als Radler nehme ich mir das Recht, die Reihen der langsam vorrückenden Autos zu überholen, bis ich direkt am Kontrollschalter stehe. Polnische und deutsche Zollbeamte versehen hier gemeinsam ihren Dienst. Ein kurzer Blick in meinen Pass, ein knappes Durchwinken - und ich befinde mich mitten im polnischen Freitagnachmittagverkehr von Kostrzyn (Küstrin) an der Warta (Warthe).
Ich folge der Hauptstraße, bis ich am nördlichen Ausgang der Stadt den Richtungspfeil nach Szczecin (Stettin) sehe. Für heute habe ich Debno (Neudamm), vielleicht auch noch Mysliborz (Soldin) angepeilt. Ein dichter Verkehrsstrom fließt in meine Richtung. Der weiße Streifen, der mich von der zweispurigen Fahrbahn abgrenzt, gibt meinem unbehelmten Kopf ein sicheres Gefühl. Meinen Fahrradhelm habe ich in der Garage hängen gelassen. Vor zwei Jahren kaufte ich ihn zusammen mit dem Rad. Bin ja schließlich über hundertmal die 17 km zur Charité gehetzt, wenn Gisela nach einer Operation dort liegen musste. Und sie bestand irgendwann einmal darauf, dass ich mit dem Schutzhelm fuhr. Auf dieser Reise aber will ich den Kopf frei haben und bin ja nur noch für mich selbst verantwortlich.
In Debno ist allerhand los. Viele Geschäfte, viele Menschen, besonders junge, die Eis essen und munter in ihrer polnischen Sprache schwatzen. Hier darf der Radfahrer auf den breiten Bürgersteigen fahren. Die Wochenendatmosphäre beschwingt mich. Doch schnell bin ich wieder bei den vorbeidonnernden Lastern auf der Straße. Wenn der Begrenzungsstreifen fehlt, und das geschieht immer häufiger, verkrampft sich mein Körper instinktiv, will sich klein machen - aber das gibt sich mit der Zeit.
POLEN
Erste Nacht draußen
Später Nachmittag, 115 km gefahren, mir reicht‘s für heute. Von einer sanften Steigung geht ein Feldweg seitab, von Büschen eingefasst. Ohne zu zaudern verlasse ich die hektische Straße. Nach hundert Metern knickt der Weg ab, und vom Lärm der Autos ist nichts mehr zu hören. Tief atme ich durch, schmecke den Duft von Gras und Erde. Kein Problem, ein Plätzchen für das kleine Zelt für die erste Nacht „fern der Heimat", zu finden.
Das Zelt ist nagelneu. Sein „Rückrat" besteht aus mehreren, durch Gummiband verbundenen Aluminiumröhrchen, die ich ineinander stecke und dann in die lange Stoffröhre des Zeltes schiebe, so dass es eine tonnenartige Wölbung annimmt. Wichtig sind die vier Alu-Heringe für den Zeltboden und sechs für die langen Schnüre mit den Spannern. Die grüne Außenfarbe soll mich neugierigen Blicken entziehen. Das Zeltinnere ist unterteilt in Vorraum und Schlafzimmer. Nun sitze ich im Abendsonnenschein, esse meine Klappstullen vom Hotel Wulkow, trinke klares Wasser und habe auch noch eine Süßigkeit als Nachtisch. Das Tagebuch muss noch geschrieben werden, und die Packordnung in den vier Taschen wird bestimmt nicht zum letzten Mal umgemodelt.
Zwar habe ich keine Waffe bei mir, aber doch einen Verteidigungsgegenstand: Hundespray. Noch nie vorher in Erwägung gezogen, geschweige denn angewendet, muss ich zumindest einmal ausprobieren, wie man mit der kleinen Spraydose hantiert. Aus einem Blatt Papier reiße ich eine Zielscheibe zurecht, groß wie ein Hundegesicht. Es ist fast windstill, also kein Problem, aus ein bis zwei Meter Entfernung das Papier zu treffen. Ich stelle mir vor, wie der Hund sich bewegen würde und gebe noch einige schnelle „Schüsse in unterschiedliche Richtungen ab. Nun muss ich aber selbst flüchten, um das Zeug nicht in die Augen oder Atemwege zu bekommen. Meine Skepsis über die Wirkung auf einen schnell attackierenden, kräftigen Hund bleibt bestehen. Im Schlafsack veranstalte ich meine erste „Tagesschau
mit den heute geknipsten Bildern. Die Canon, eine Digitalkamera, ist neu für mich, aber ich habe schon gemerkt, um wieviel einfacher das Fotografieren ist als mit meiner alten Rollei 35.
Der „Indianerschlaf, den ich mir während Giselas jahrelanger schwerer Krankheit angewöhnt hatte, stellt sich hier in „freier Wildbahn
schon in der ersten Nacht wieder ein. Zwar schlafe ich, registriere aber gleichzeitig die Geräusche meiner Umgebung. Wenn man außerhalb eines Zeltplatzes irgendwo alleine kampiert, liegt immer eine unbestimmte Gefahr in der Luft. Nicht durch Tiere, sondern durch Menschen, denen man letzten Endes alles zutrauen kann. In dieser Nacht vernehme ich aus allen Himmelsrichtungen das unterschiedlichste Bellen, Jaulen, Kläffen von Hunden, ferne Schüsse, das Rascheln irgendwelcher Kleinsäuger, das scharfe „Öck-Öck" rivalisierender Rehböcke und das sich nähernde und dann wieder entfernende Knattern eines Motorrades. Schon gegen drei Uhr sickert Helligkeit durch die dünnen Zeltwände, und es wird empfindlich kalt. Kein Problem mit meinem Daunenschlafsack.
Kriegserinnerungen
Als ich um sechs hinauskrieche, tappe ich durch totale Nässe. Schwerer Tau hat sich abgesetzt. Somit hebt mit diesem Morgen die Ära der „Tau-Wäsche an: einmal mit der Hand durchs hohe Gras, das bringt nicht weniger als ein Wasserhahn. Auch Ganzkörper-Taubäder und Zähneputzen mit Tau werden schnell zur Routine. Die Wasserflasche bleibt allein dem Trinken vorbehalten. Noch brauche ich fast 90 Minuten, bis ich wieder auf dem Rad sitze. Mit „Training
dauert es in wenigen Tagen nur noch halb so lange. Ich starte leicht beunruhigt, denn irgendwas tut sich auf meiner rechten Pobacke. Eine bestimmte Stelle juckt, schmerzt und schwillt. Das kann nur von einem Insektenstich herrühren! Mal abwarten, was daraus wird.
Mein heutiges Ziel ist das Ostseedorf Sorenbohm (Sarbinowo). Unsere Mutter hatte die letzten beiden Kriegsjahre mit meinem älteren Bruder und mir in Sohrenbom verbracht, um den Bombenangriffen auf Berlin zu entgehen. Meine Mutter erzählte, der große Schauspieler Heinrich George hätte einmal im Dorfgasthaus „Hoppe-hoppe-Reiter" mit mir gespielt. Das könnte in der Zeit gewesen sein, als er im nahe gelegenen Kolberg als Hauptdarsteller in dem Durchhalte-Propaganda-Film Kolberg mitwirkte.
Als der Donner der näherrückenden Front und der nicht endende Strom der Flüchtlingstrecks eine Entscheidung verlangte, brachte uns ein Bauer - mit dem meine Mutter öfter mal Skat gespielt hatte - mit dem Pferdewagen nach Köslin (Koszalin). Von hier folgte eine nächtliche Fahrt im offenen Güterzug unter Flugzeugbeschuss nach der von den Nazis zur Festung bestimmten Hafenstadt Kolberg (Kolobrzeg). Im chaotischen Durcheinander der Bahnhofshalle hatte mich die Mutter an eine Schnur geknotet, zu Recht, wie spätere jahrzehntelange Suchdienstsendungen im Rundfunk bewiesen. Viele Kinder waren auf der Flucht verloren gegangen und nur zu oft wussten sie noch nicht einmal ihren vollen Namen.
Trotz des ungeheuren Menschengedränges am Kai gelang unserer Mutter das Kunststück, einen Decksplatz auf einem Schiff zu ergattern. Allerdings war dabei sämtliches Gepäck bis auf einen großen Topf mit Schmalz abhanden gekommen. Ich erinnere mich noch an einzelne Szenen vor und während dieser winterlichen Schiffsfahrt, z.B. an eine große Gruppe Verwundeter mit weißen Verbänden, an einen Schwarm „Goldfasane": hohe Funktionäre der NSDAP in goldgelben Uniformen, denen natürlich ein Platz auf dem Schiff sicher war, an treibende Eisschollen in bewegter See, an nächtliche Eiseskälte, an mehrfaches Stoppen der Maschinen, wenn Treibminen gesichtet wurden und an einen weiteren nebligen Tag, bis wir endlich Swinemünde erreichten. Später habe ich viel über die unvorstellbare Leistung der Handels- und Kriegsmarine gelesen, die über zwei Millionen Flüchtlinge noch im allerletzten Moment, zwischen Ende Januar und Anfang Mai 1945, in den Westen brachte. Eine rechtzeitige Flucht hatte die Naziführung unter schwere Strafe gestellt.
Nun kehre ich auf ruhigen Straßen und bei schönem Wetter nach Sorenbohm zurück. Der Leuchtturm über den Kiefernwipfeln, der spitze Turm der Kirche, das Ensemble alter Häuser rings um den Kirchplatz - in mir blitzt keine Erinnerung auf. Selbst der Strand ist in meiner Erinnerung breiter und weißer. Das Dorf hat sich zu einem unorganisch wild wuchernden Badeort entwickelt, der mich ernüchtert und mir nichts mehr bedeutet.
Einkehr
Mit jedem weiteren Tag wächst der Insektenstich am Gesäß zu einem geschwürartigen Gebilde heran. Ich kann es nicht sehen, aber abtasten. Und natürlich schmerzt der Sattel. Ich sitze oft krumm und schief, um die entzündete Stelle zu entlasten. Denn bei jedem Tritt in die Pedale reibt die Haut am feuchtgeschwitzten Stoff der Hose. Eines Morgens platzt endlich der Abzess und eine nicht für möglich gehaltene Menge von Eiter, Wundwasser und Blut versaut meine schöne, neue Liegematte. Der Druck ist nun raus und der Schmerz wesentlich geringer. Aber auch in der Folgezeit sondert sich in Abständen ab, was der Kampf der Körperabwehr gegen die bösen Entzündungserreger hinterlässt.
Meine Art von Behandlung: Abtupfen mit Kognak und Abdecken mit einem Zellstoffpflaster. Dass es zu keiner Infektion kommt, habe ich nach meiner festen Überzeugung dieser Art der Behandlung zu verdanken. Allerdings werde ich das letzte Pflaster erst im fernen Lappland abziehen - und das „Medizinfläschchen" längst vorher in Russland nachfüllen. Eigentlich wollte ich ja mit dem knappen Kognak jeden zurückgelegten Tausender und jedes neu betretene Land begießen…
Darlowo (Rügenwalde), Ustka (Stolpmünde), Slupsk (Stolp). Wellige Moränenlandschaft mit Kartoffeläckern, fruchtbare Felder, blühender Raps, Feuchtwiesen, ausgedehnte Waldstücke, schattige, den Wind abschirmende Alleen. Jede Stadt, jedes Dorf in diesem Teil Polens kommt mir so vertraut vor, als wäre ich schon hier gewesen. Kein Wunder, gehörte doch das, was der Krieg an Kirchen, Bahnhöfen, Postämtern und Wohnhäusern übrig gelassen hat, zum alten preußischen Kernland. Mich überkommt ein ähnliches Gefühl wie früher bei Tagesausflügen in die DDR. Typisch deutsch und vertraut, aber sehr heruntergekommen.
Tristesse kommt aber bei mir hier in Polen nicht auf. Der post-sozialistische polnische Kapitalismus sorgt überall für Farbigkeit und für markante Inseln des Wohlstands. Ob Jugendmode, Kaufhäuser, Lebensmittelmärkte oder der sehr rege Autoverkehr, alles kann man zum europäischen Standard zählen. Das gute Aussehen polnischer Frauen - bilde ich mir das nur ein? Oder legen sie wirklich mehr Wert auf ihre äußere Erscheinung als die deutschen Frauen? Aber vielleicht fände ich ähnliche Unterschiede auch zwischen Bayern und Niedersachsen? Also Vorsicht mit Verallgemeinerungen,