Industrielle Welt
Von Jürgen Dinkel, Ulrich Engelhardt, Fabian Lemmes und
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Über diese Serie
Sie zeigt auf, wie diese Zuschreibungen in der alltäglichen Regierungspraxis ständig bestärkt und erneuert wurden. Schulhausbau, Zuchtstierhaltung und das alltägliche Verwalten der Bürgermeister werden ebenso untersucht wie der wachsende Einfluss von Verbänden und Parteien, Gesetzesreformen und die Konstruktion von Ländlichkeit. Sowohl die Dorfbewohner:innen als auch staatliche Behörden oder Politiker waren Akteur:innen in diesen oft konflikthaften Geschichten. In unterschiedlicher Weise bezogen sie sich auf Vorstellungen von Tradition, um alltägliche Probleme und grundlegende Transformationen im Dorf zu bewältigen. So zeigt sich: Die ländlichen Räume waren im 19. und 20. Jahrhundert nicht das Gegenteil, sondern integraler Bestandteil der Moderne.
Titel in dieser Serie (9)
- Ein Labor der Sozialgeschichte: Die Entwicklung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte seit 1956
Der interdisziplinär angelegte Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte wurde 1957 von Werner Conze und einer kleinen Gruppe von Historikern, Sozialwissenschaftlern, Ökonomen, Theologen und Juristen ins Leben gerufen. Hauptsächlich ging und geht es bis heute um ergebnisoffenes, kritisches Nachdenken über Methodik und Fragestellungen von Sozialgeschichte, in der Anfangszeit auch um deren institutionelle Durchsetzung im Zuge der Reorientierung der deutschen Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Kreis entwickelte sich bald zu einem im deutschsprachigen Raum singulären und prominenten Forum innovativer Diskussionen. Zentrale inhaltliche Entwicklungen der deutschen Geschichtswissenschaft , wie beispielsweise seit 1972 das international einschlägige Lexikon "Geschichtliche Grundbegriffe" wurden von ihm angestoßen. Dabei erweiterte sich der Perspektivrahmen mehr und mehr auf Gesamteuropa und inzwischen auch auf globale Zusammenhänge. Anhand vor allem der ungewöhnlich eingehend dokumentierenden Protokolle zeichnet Ulrich Engelhardt Entstehung und Tätigkeit des Arbeitskreises im Spiegel seiner Leitthemen nach.
- Arbeiten in Hitlers Europa: Die Organisation Todt in Frankreich und Italien 1940–1945
Wer nach Zwangsarbeit in Hitlers Europa fragt, muss über die Organisation Todt (OT) sprechen. Als größte Bauorganisation des NS-Staats führte sie in allen deutsch besetzten Gebieten kriegswichtige Arbeiten aus und spannte in großem Umfang einheimische Arbeitskräfte und Firmen ein. Wie gelang diese Mobilisierung? Wie verhielten sich Anreize zu Zwang, was waren die Arbeits- und Lebensbedingungen? Diese Fragen beantwortet Fabian Lemmes für das besetzte Frankreich und das besetzte Italien. Die OT bedeutete hunderttausendfache Zwangsarbeit, oft aber auch die Wahl des kleineren Übels. Lemmes zeigt, dass die Mobilisierung ohne die Kollaboration einheimischer Verwaltungen und Unternehmen nicht möglich gewesen wäre und trotz des vermeintlichen Ämterchaos der NS-Polykratie recht gut funktionierte.
- Alles bleibt in der Familie: Erbe und Eigentum in Deutschland, Russland und den USA seit dem 19. Jahrhundert
104
Wer erhält das Erbe eines Verstorbenen? Wer kann Rechte an einer Erbschaft geltend machen und wer entscheidet über deren Verteilung? Die Antworten darauf fielen in früheren Epochen und je nach Gesellschaft, Milieu und Kultur anders aus. Rechtliche, ökonomische, und soziale Normen und Praktiken besaßen unterschiedliches Gewicht. Ebenso variierten Zukunftserwartungen sowie Familienvorstellungen und familiale Netzwerke, die den Besitztransfer häufig entscheidend prägten. Jürgen Dinkel analysiert in dieser Studie erstmals und aus vergleichender Perspektive, wie Gesellschaften im transatlantisch-europäischen Raum vom 19. bis ins 21. Jahrhundert diese Fragen beantworteten. Dabei wird sichtbar, wie Individuen und Verwandtschaftsnetzwerke in lokalen, nationalen und transnationalen Bezugsrahmen ihre Erbpraktiken an sich wandelnde Bedingungen anpassten, um Vermögen in der Familie zu halten. Zugleich wird deutlich, wie Gesellschaften mit Ungleichheiten umgingen, und wann und warum die Gesetze, Institutionen und Praktiken entstanden, die bis in die Gegenwart tiefgehend individuelle Lebensentwürfe und gesellschaftliche Vermögensverteilungen beeinflussen.
- Kautschuk und Arbeit in Kamerun unter deutscher Kolonialherrschaft 1880-1913
Kautschuk war das wichtigste Exportprodukt Kameruns, denn um 1900 steckte Kautschuk bzw. Gummi weltweit in Dichtungen, Reifen, Kabeln und zahlreichen Gegenständen des Alltags. Die starke Nachfrage nach diesem Rohstoff löste zwischen 1890 und 1913 einen globalen Kautschukboom aus, der auch die deutsche Kolonie Kamerun prägte. Dieses Buch ist die erste Studie, die die tatsächlichen Arbeitsbeziehungen in einer afrikanischen Kautschukökonomie analysiert. Das koloniale Geschäft mit Kautschuk war keineswegs nur auf Zwang und Gewalt gebaut. Vielmehr nutzten Afrikanerinnen und Afrikaner die Nachfrage nach Kautschuk und Arbeitskräften für ihre eigene soziale Mobilität. Europäische Unternehmen konnten auf eine Vielzahl von ganz unterschiedlicher Arbeitsformen zurückgreifen, welche die Afrikaner und Afrikanerinnen selbst auch für ihre eigenen Interessen nutzten. Was entstand, war eine koloniale Arbeiterschaft, die die europäischen Arbeitgeber wie auch die afrikanischen Gesellschaften herausforderte.
- Die Politik der Anpassung: Arbeitswelt und Berufsbildung im Ruhrgebiet 1950–1980
Wie lässt sich der Wandel der Arbeit bewältigen? Die Antwort in den europäischen Debatten um den Strukturwandel während der 1960er Jahre lautete: mit Ausbildung und Umschulung. Jan Kellershohn erzählt in seiner Studie die Geschichte dieses bis heute attraktiven Versprechens neu. Anders als häufig angenommen erweist sie sich weniger als Siegeszug der Anpassung. Der vergleichende Blick auf Ausbildung und Umschulung im Ruhrgebiet zeigt, dass sich Zeitgenossinnen und Zeitgenossen vor allem eine Frage stellten: Sind Arbeiter bildungsfähig? Mit Figuren wie dem "lernbehinderten Auszubildenden" und dem "älteren Arbeitnehmer" schufen sie Kategorien, um die Verlierer des Wandels zu bestimmen. Die Geschichte des Strukturwandels erklärt dieses Buches auch als eine Geschichte fortschreitender Ausschlüsse.
- Der Arbeit nachgehen?: Auseinandersetzungen um Lebensunterhalt und Mobilität (Österreich 1880-1938)
Die Studie untersucht, wie in der Habsburgermonarchie bzw. Österreich von 1880-1938 neue Vorstellungen und Hierarchien von Arbeit erzeugt, verhandelt und durchgesetzt wurden. Statt einen bestimmten Begriff von Arbeit zu postulieren, werden Auseinandersetzungen über Arbeit und Lebensunterhalt zum Gegenstand gemacht. Ausgangspunkt sind umstrittene Praktiken und Erwerbstätigkeiten, die bisher kaum systematisch in die Geschichte von Arbeit integriert wurden, die meist wenig einträglich und unsicher, manchmal auch verboten waren sowie mit einem hohen Maß an Mobilität verbunden: vom Wanderhandel und -gewerbe, über das Umherziehen zur Arbeitssuche bis hin zum Betteln und Vagabundieren. Denn zur Geschichte von Arbeit gehört auch all das, was im Laufe der Zeit als Nichtarbeit oder als nicht "richtige" Arbeit verstanden wurde. Auf der Grundlage vielfältiger Quellen stellt die Autorin nicht nur behördliche Maßnahmen und Praktiken dar, sie rekonstruiert systematisch Interaktionen und bezieht dabei auch wesentlich die Perspektiven jener mit ein, die sich auf solche umstrittene Weisen ihren Lebensunterhalt organisierten.
- Wissenschaftliche Philanthropie und transatlantischer Austausch in der Zwischenkriegszeit: Die sozialwissenschaftlichen Förderprogramme der Rockefeller-Stiftungen in Deutschland
Kann sozialwissenschaftliche Forschung zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen? Unter dieser Fragestellung entwickelte eine der Stiftungen der Rockefeller Familie Anfang der 1920er-Jahre ein groß angelegtes finanzielles Unterstützungsprogramm für die amerikanischen und europäischen Sozialwissenschaften. Die Arbeit untersucht die Einbindung Deutschlands in dieses transatlantische Netzwerk wissenschaftlicher und persönlicher Beziehungen. Die Finanzierung von Forschungsprogrammen und die Entsendung von Stipendiaten führten zu einer engen, aber nicht immer einfache Zusammenarbeit deutscher und amerikanischer Verhandlungspartner. Eine Gegenüberstellung u.a. der Quellenbestände des Rockefeller Archive Center mit den umfangreichen Unterlagen des deutschen Verwalters der Programme, August Wilhelm Fehling, ermöglicht den Zugang zu einer verflochtenen Geschichte ("histoire croisée") der Austauschbeziehungen und der aus ihnen resultierenden individuellen und kollektiven Erfahrungen.
- Schiffbrüchige des Lebens: Polizeidiener und ihr Publikum im neunzehnten Jahrhundert
Wie wurden Handwerker, Soldaten oder Dienstboten im neunzehnten Jahrhundert zu Polizeidienern? Der Polizeidienst war Teil eines prekären Arbeitsmarkts, der im Buch in alltags- und sozialgeschichtlicher Perspektive rekonstruiert wird. Die Herauslösung der Polizeidiener aus dem dichten Geflecht sozialer Beziehungen, das damit verbunden war, erweist sich als notwendige Voraussetzung für die Etablierung einer modernen Polizei. Solange Polizeidiener als ehemalige Handwerker, Soldaten oder Dienstboten ihren Herkunftsmilieus verbunden blieben, musste die Ausübung der Staatsgewalt vor Ort immer wieder an Grenzen stoßen. Behörden arbeiteten daher kontinuierlich daran, diese Beziehungen zu kontrollieren, Bindungen zu kappen und so zwischen Polizei und Publikum eine soziale Distanz zu erzeugen. Der Autor analysiert die Selbstbildung einfacher Polizeidiener vor dem Hintergrund dieses Distanzierungsprozesses.
- Regieren in Dörfern: Ländlichkeit, Staat und Selbstverwaltung, 1850–1945
Der ländliche Raum galt im 19. und 20. Jahrhundert als harmonisch, politikfern und – mal positiv, mal negativ – als unmodern. Anhand von drei Landgemeinden in Bayern, Brandenburg und dem Elsass analysiert Anette Schlimm Konzepte und Praktiken des Regierens im ländlichen Raum zwischen 1850 und 1945. Sie zeigt auf, wie diese Zuschreibungen in der alltäglichen Regierungspraxis ständig bestärkt und erneuert wurden. Schulhausbau, Zuchtstierhaltung und das alltägliche Verwalten der Bürgermeister werden ebenso untersucht wie der wachsende Einfluss von Verbänden und Parteien, Gesetzesreformen und die Konstruktion von Ländlichkeit. Sowohl die Dorfbewohner:innen als auch staatliche Behörden oder Politiker waren Akteur:innen in diesen oft konflikthaften Geschichten. In unterschiedlicher Weise bezogen sie sich auf Vorstellungen von Tradition, um alltägliche Probleme und grundlegende Transformationen im Dorf zu bewältigen. So zeigt sich: Die ländlichen Räume waren im 19. und 20. Jahrhundert nicht das Gegenteil, sondern integraler Bestandteil der Moderne.
Jürgen Dinkel
PD Dr. Jürgen Dinkel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Leipzig, wo er zur Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts lehrt und forscht. Aktuell ist er Vertretungsprofessor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Duisburg-Essen und im WS 2023/24 Vertretungsprofessor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der LMU München.
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