Rituale, die dein Leben verändern: Für Leser der SPIEGEL-Bestseller Brianna Wiest »101 Essays, die dein Leben verändern werden« | Karin Kuschik »50 Sätze, die das Leben leichter machen«
Von Michael Norton
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Über dieses E-Book
»Das Wesen einer Gewohnheit besteht im Was, das eines Rituals im Wie.«
Was wir gewinnen, wenn wir Rituale pflegen
Serena Williams lässt den Ball vor jedem Aufschlag genau dreimal aufspringen. Keith Richards isst immer das erste Stück eines Sheperd’s Pie, bevor er die Bühne betritt. Marie Curie konnte fatalerweise nur einschlafen, wenn ein Fläschchen Radium auf ihrem Nachttisch stand. Doch wie entstehen Rituale dieser Art? Und was unterscheidet sie von Gewohnheiten und Zwängen?
Harvard-Professor Michael Norton hat sich mit einem Team aus Psychologen, Neurowissenschaftlern, Ökonomen und Anthropologen zehn Jahre lang mit Ritualen befasst: mit religiösen wie weltlichen, privaten und beruflichen. Sein Fazit: Rituale haben nicht nur eine wichtige Funktion bei der Verarbeitung von Trauer und Verlusten, sie können auch große Lebensabschnitte markieren, Menschen zu Höchstleistungen anspornen und in Jubel und mitreißende Ekstase versetzen.
Dieses Buch ist eine fundierte Ermutigung, uns in Ritualen zu üben (gemeinsam oder allein) – um unserem Leben mehr Struktur, Zufriedenheit und Sinn zu verleihen. Was könnte Ihr Stück Sheperd’s Pie sein?
»Fesselnd. Das Buch lässt einen nicht los, weil es modernste Wissenschaft mit lebendigem Erzählstil verbindet.«
Charles Duhigg, Autor des Bestsellers »Die Macht der Gewohnheit«
»Unendlich faszinierend. Michael Norton überzeugt dich, die eigenen Glaubenssätze und Beziehungen mit neuen Augen zu sehen.«
Daniel H. Pink, Autor von »Mehr Wert«
Michael Norton
<p>MICHAEL NORTON ist Harold-M.-Brierley-Professor of Business Administration an der Harvard Business School und ist bekannt für seine Forschungen zu Liebe und Ungleichheit, Zeit und Geld sowie Glück und Trauer. Sein TEDx-Vortrag »How to Buy Happiness« wurde über 4,7 Millionen Mal angeklickt. Er schreibt regelmäßig für <em>The Wall Street Journal</em>, <em>The New York Times</em> und <em>Scientific American</em>.<i/></p>
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Buchvorschau
Rituale, die dein Leben verändern - Michael Norton
Michael Norton
RITUALE,
DIE DEIN
LEBEN
VERÄNDERN
Aus dem amerikanischen Englisch
von Johanna Wais
HarperCollins
Die US-amerikanische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel
The Ritual Effect bei Scribner, einem Imprint von Simon & Schuster, New York.
© 2024 by Michael Norton
Deutsche Erstausgabe
© 2024 für die deutschsprachige Ausgabe
by HarperCollins in der
Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Covergestaltung von Rothfos & Gabler, Hamburg
Coverabbildung von © Stocksy
E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783749907656
www.harpercollins.de
Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten.
Die Rechte des Autors und des Verlags bleiben davon unberührt.
Für Mel
I.
Was Rituale bewirken
Vorwort
Wiederverzauberung
Flannery O’Connor beginnt ihren Tag vor Sonnenaufgang mit einem Morgengebet und einer Thermoskanne Kaffee, die sie gemeinsam mit ihrer Mutter leert. Täglich um 7 Uhr besucht sie die katholische Messe. Zur selben Zeit kommt Maya Angelou unweit ihres Hauses in einem Motelzimmer an, in dem auf ihre Bitte hin sämtliche Kunstwerke von den Wänden abgehängt wurden. Irgendwann im Laufe des Vormittags zieht Victor Hugo sich aus und weist seinen Diener an, seine Kleider zu verstecken, bis er das Schreibziel des Tages erreicht hat. Exakt um 15:30 Uhr (so exakt, dass die ganze Stadt die Uhr nach ihm stellen kann) tritt Immanuel Kant mit seinem Spazierstock in der Hand aus der Tür und beginnt seinen Nachmittagsspaziergang. Am Abend steigt Agatha Christie in die Badewanne und isst dort einen Apfel. [¹] Und am Ende eines langen Tages holt Charles Dickens den Kompass hervor, den er immer bei sich trägt, um sich zu versichern, dass sein Bett nordwärts ausgerichtet ist, bläst die Kerze aus und schläft ein. [²]
Der Absatz, den Sie gerade gelesen haben – ein Tag im Leben von sechs weltberühmten Autorinnen und Autoren –, mag wie eine Parade kreativer Verrücktheiten oder zumindest Schrulligkeiten wirken. Diese großen Geister führen jedoch zutiefst bedeutsame Handlungen durch, die sie etliche Male wiederholten. Ihnen mögen sie völlig willkürlich erscheinen, doch diesen Menschen erschienen sie durch und durch richtig – und sie funktionierten für sie. Sie alle legten eine Form ritualisierten Verhaltens an den Tag.
Vielleicht denken Sie, dass ein exzentrischer Lebenswandel bei Kreativen wie Dichterinnen, Schriftstellerinnen und Philosophen Teil des Jobs ist. Aber ich hätte genauso gut jede andere Kategorie von Menschen wählen können, die Bemerkenswertes leisten. Kurz bevor Keith Richards mit den Rolling Stones auf die Bühne geht, muss er ein Stück Shepherd’s Pie essen, und zwar immer das erste. [³] Chris Martin würde nie die Garderobe verlassen, um mit seiner Band Coldplay aufzutreten, ohne vorher Zahnbürste und Zahncreme zur Hand zu nehmen und seine Zähne kurz, aber präzise zu putzen. [⁴] Marie Curie konnte – tragischerweise – nur mit einer Ampulle Polonium neben dem Bett einschlafen. [⁵] Und Barack Obama überstand den Wahltag nur, indem er ein sorgfältig geplantes Basketballspiel mit bestimmten Freunden spielte. [⁶]
Nun raten Sie einmal, wer hinter diesen zwei Performanceritualen steckt:
Ich lasse meine Finger knacken und klopfe bestimmte Teile meines Körpers ab. Danach gehe ich im Geiste meinen Körper von Kopf bis Fuß durch.
Ich schließe die Augen und stelle mir vor, mit meinem Hund zusammen zu sein. Ich liste vier Dinge auf, die ich sehe, drei Dinge, die ich rieche, zwei, die ich höre, und eins, das ich spüre.
Serena Williams? Tom Brady? Keine schlechten Ideen – und wir werden uns Rituale dieser beiden später noch anschauen. Aber die hier beschriebenen wurden von zwei Unbekannten in Fragebögen von mir und meinen Kolleg*innen aus über zehn Jahren, in denen wir Rituale wissenschaftlich erforscht haben, berichtet.
Meine Kolleg*innen aus Harvard und aller Welt – Psychologen, Wirtschaftswissenschaftlerinnen, Neurowissenschaftler und Anthropologinnen – und ich hatten das Privileg, ein wirklich erstaunliches Spektrum von individuellen und kollektiven Ritualen zu untersuchen. Unser Ziel war es, besser zu verstehen, was Rituale sind, wie sie wirken und wie sie uns dabei unterstützen, Herausforderungen gewachsen zu sein und Möglichkeiten wahrzunehmen. Mehr als ein Jahrzehnt lang haben wir weltweit Zehntausende Menschen befragt, haben Experimente in unseren Laboren durchgeführt und uns sogar mittels Gehirnscans die neurologischen Mechanismen hinter Ritualen angeschaut.
Dieses Buch handelt davon, was wir dabei entdeckt haben. Im persönlichen wie im beruflichen Zusammenhang, im Privatleben und in der Öffentlichkeit stellen Rituale emotionale Katalysatoren dar, die uns in Schwung bringen, inspirieren und erheben. Unsere Forschung legt die Logik des Rituals offen, indem sie nach und nach verschiedene Elemente bestimmter Rituale isoliert, um deren Wirkung je für sich zu betrachten. Einige unserer Fragen lauten beispielsweise: Was genau ist der Unterschied zwischen einem Ritual, einer Gewohnheit und einem Zwang? Wie entstehen Rituale? Und wie stellen wir sicher, dass Rituale uns nutzen, statt uns zu schaden?
Wir werden außerdem der Frage nachgehen, warum es Freude machen kann, Ihre Socken genau so, gekringelt wie auf der Seite liegende Schnecken, in die Schublade legen; wie Familien das lästige Abendessen zum Vergnügen werden lassen können; wieso Marken wie Starbucks davon profitieren können, wenn sie ihre Kundschaft dazu auffordern, »Geborgenheit in Ritualen« zu suchen. Wir werden ergründen, weshalb offene Büros keine gute Idee sind; warum traditionelle Regentänze und diese nervigen, scheinbar sinnlosen Teambuilding-Übungen tatsächlich funktionieren können; und weshalb ein Effekt von Ritualen, nämlich das Erzeugen einer größeren Vielfalt von Emotionen – ein Phänomen, das ich als Emodiversität bezeichne –, nachweislich wichtig für unser psychisches Wohlbefinden ist.
Diejenigen unter Ihnen, die der Meinung sind, keine Rituale zu haben, werden sehen, dass diese in Wahrheit eine Rolle dabei spielen, wie Sie Geschäfte machen, sich gegenüber anderen Menschen verhalten, Meilensteine zelebrieren und Ihren Alltag erleben, bis hin zur Frage, was Sie essen und trinken und sogar, wie Sie sich die Zähne putzen.
Rituale operieren häufig unter dem Radar, doch sie ermöglichen uns, unsere Alltagserfahrungen auszukosten. Wir werden sehen, wie Rituale uns helfen, den Tag richtig zu beginnen und friedlich zu beenden; wie sie Beziehungen im Privatleben und bei der Arbeit fördern; wie sie sich im Krieg und im Frieden auswirken und wie sie eine automatisierte in eine lebendigere Daseinsform verwandeln können.
Ich möchte Sie zu einer wissenschaftlichen Reise einladen, auf der Sie entdecken werden, dass Rituale den Strukturen unseres Alltags zugrunde liegen. Am Ende dieses Buches werden Sie sich hoffentlich ermutigt und gerüstet fühlen, eigene Rituale zu entwickeln und einzuführen, um die vielen Herausforderungen, denen wir uns alle stellen müssen, immer besser zu meistern und mehr von den Dingen zu tun, die das Leben lebenswert machen.
Dieses Buch erzählt von den zahlreichen Arten und Weisen, auf die Rituale unser Leben erweitern und verzaubern – kurz, verändern.
1
Was sind Rituale?
Maeby: Wo kriege ich so ’ne Halskette her,
eine mit ’nem T?
Michael: Das ist ein Kreuz.
Maeby: Schreibt man das mit T?
- Arrested Development [¹]
In meiner Kindheit fochten meine irisch-katholischen Eltern und ich einen erbitterten Kampf aus, in dem ich tapfer zu erklären versuchte – und daran scheiterte –, weshalb es für mich keinen Grund gab, zur Messe in St. Theresas zu gehen. Mich störte nicht so sehr, was während des Gottesdienstes gesagt wurde (»Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch« erschien mir immer wie ein vernünftiger Rat). Es war der Ablauf: reingehen, hinsetzen, aufstehen, Kreuzzeichen machen, hinsetzen, aufstehen, gehen, Kerzen anzünden, trinken, knien, sitzen, stehen, Hände schütteln, sitzen, aufstehen, singen, rausgehen. Die Menschen in den Bänken um mich herum, darunter einige, für die ich so viel Liebe und Respekt empfand wie für niemanden sonst, sahen eine tiefe Bedeutung in dieser Abfolge. Aber ich fühlte mich wie ein Roboter, der das alles buchstäblich mechanisch mitmachte.
Diese speziellen religiösen Rituale funktionierten für mich nicht, andere hingegen schon. Was meine bevorzugten Rituale angeht, war ich, wie die meisten Menschen, wählerisch. Die heilige Messe war nichts für mich, Heiligabend aber mochte ich – oder vielmehr die ganze Reihe von Feiertagen von Halloween über Thanksgiving bis Weihnachten mit dem krönenden Abschluss Silvester. Nun denken Sie sicher schlau: Na klar, Kerzen, Süßigkeiten, liebevolle Verwandte, lange aufbleiben, Geschenke. Natürlich waren dir diese Rituale als Achtjähriger lieber. Und es ist nicht zu leugnen, dass Süßigkeiten und Spiele eine gewisse Zauberkraft besitzen.
Aber ich weiß auch, dass das, was mir daran am meisten gefiel – und was mir in Erinnerung geblieben ist –, die besondere Art und Weise war, wie meine Familie diese Feiertage beging. Dazu gehörte das zerkratzte Weihnachtsalbum von Johnny Mathis, das auf dem Plattenspieler meines Vaters abgespielt wurde (der nur einmal im Jahr und ausschließlich zu diesem Zweck hervorgeholt wurde), und dass wir an Thanksgiving drei Arten von Truthahnfüllung hatten (obwohl mir keine davon schmeckte). Es gab auch viele Rituale, die nichts mit den Feiertagen zu tun hatten. Beispielsweise saßen wir jahrzehntelang an denselben Plätzen am Esstisch (meiner war gegenüber meiner Mutter, zwischen meinem Vater und einer meiner Schwestern). Es gab einen Riesenaufstand, wenn jemand es wagte, diese Ordnung durcheinanderzubringen. Hatte meine Mutter genug von uns fünf Kindern, zählte sie bis drei, damit wir uns beruhigten. Fing sie jedoch an zu zählen: »Once, twice …«, stimmte irgendwer von uns ein und sang: »Three times a lady«. Das machte sie noch wütender. Jahrzehnte später jedoch tanzte sie zu diesem Song mit meinem Bruder auf dessen Hochzeit. Nun, nach ihrem Tod, ist sie für einen Augenblick wieder bei mir, wenn ich das Lied höre. Diese individuellen Verhaltensweisen sind irgendwie wichtig geworden. Im Laufe der Zeit haben sie sich zu Ritualen entwickelt, die meine Familie zu meiner Familie machten. Sie machten uns aus.
Willkommen in einem weltlicheren Zeitalter
Jahre später ist leicht zu erkennen, dass mein Widerstand gegen traditionelle religiöse Rituale wie den Kirchgang und im Gegensatz dazu meine Begeisterung für viele weltliche Rituale – insbesondere die speziellen Varianten meiner Familie – den allgemeinen kulturellen Tendenzen entsprechen, die unser »säkulares Zeitalter« ausmachen, wie es der Philosoph Charles Taylor genannt hat. [²]
In den Vereinigten Staaten beispielsweise sagen inzwischen drei von zehn Erwachsenen, sie würden »keiner Religion« angehören, während sich in den 1990ern beinahe 90 Prozent als christlich identifizierten. Schätzungen zufolge wird sich die Zahl derer, die sich als »keiner Religion zugehörig« definieren, im Jahr 2070 der annähern, die sich als christlich bezeichnen. [³] Eine Gallup-Meinungsumfrage von 2022 hat gezeigt, dass sich das Vertrauen der amerikanischen Bevölkerung in Institutionen wie den Obersten Gerichtshof und organisierte Glaubensgemeinschaften auf einem Rekordtief befindet. [⁴] Diese Zahlen bezeugen eine einfache Wahrheit: Im 20 und 21. Jahrhundert hat der Glaube sowohl an die traditionellen Autoritäten, die einst das Muster unseres Lebens vorgaben, als auch an die Einrichtungen, die dafür sorgten, dass wir diese Muster einhielten, überall nachgelassen.
Vor mehr als einem Jahrhundert entwickelte der deutsche Jurist und Wirtschaftswissenschaftler Max Weber ein kühnes Narrativ, in dem er diese Entwicklungen vorwegnahm. 1897, nachdem er sich in weniger glamouröse Themen wie die römische Landwirtschaft vertieft hatte, erlitt Weber einen Nervenzusammenbruch und wurde bettlägerig. Umsorgt von seiner Frau und Cousine Marianne begann er dort zu dokumentieren, was er als die »Entzauberung« der modernen Welt bezeichnete. Er argumentierte, technische Systeme und Bürokratie seien die neuen gesellschaftlichen Organisationsprinzipien. Wo einst Bräuche, religiöse Verpflichtungen und Rituale diktierten, wie wir unsere Tage und Leben ordnen, befand sich die Gesellschaft Weber zufolge nun unter der Herrschaft rationalisierter Abläufe und Verfahren. Wissenschaft und Technologie – und die von ihnen beeinflussten Institutionen – ersetzten die Lehren des Glaubens, Aberglaubens und anderer Formen des magischen Denkens. In Wirtschaft und Gesellschaft, seinem (unvollendeten) Hauptwerk, warnt Weber, dass sich eine »Polarnacht von eisiger Finsternis und Härte« auf die Menschheit herabsenke. [⁵] Er war der Ansicht, dass diese sich in eine Welt ohne Licht und Wärme begab, ohne Sinn und Magie. Das Ergebnis? Eine entzauberte Welt ohne Rituale.
Die große Wiederverzauberung
In mancher Hinsicht waren Webers Worte prophetisch. Die etablierten, traditionellen Rituale, die er vor Augen hatte, haben im vergangenen Jahrhundert an Bedeutung verloren. Doch unsere Welt ist weit entfernt von kühler Rationalität und Desillusion. Der Glaube an Gott ist nach wie vor auf der ganzen Erde verbreitet, unter anderem in den Vereinigten Staaten, wo sich 2022 etwa 81 Prozent als Gläubige bezeichneten. [⁶] Wenngleich einer von sechs Menschen weltweit angibt, konfessionell ungebunden zu sein, praktizieren doch immer noch viele religiöse Rituale. In China sagten beispielsweise 44 Prozent der konfessionell ungebundenen Erwachsenen, sie hätten an einem Grab oder an einer Gruft gebetet. [⁷] Der Glaube an andere übernatürliche Wesen wie Außerirdische ist sogar auf dem Vormarsch.
Betrachtet man Rituale außerhalb des Einflussbereichs offizieller Religion, wird schnell klar, dass das späte 20 und frühe 21. Jahrhundert unzählige säkuläre oder spirituell angehauchte Rituale hervorgebracht haben. Zu den sich neuerdings verbreitenden Arten von Gruppenzugehörigkeit, die rasch ritualisiert wurden, gehören die zahlreichen Varianten des Pilgerns in die amerikanischen Wüsten: angefangen beim Burning Man über Coachella und die Bombay Beach Biennale, ein Kunstfestival, in der kalifornischen Umweltwüste Salton Sea. [⁸] Yoga- und Sportgruppen haben Initiationsriten wie die »Hell Week« der Fitnesskette Orangetheory entwickelt – gespickt mit High fives für den sozialen Zusammenhalt [⁹] – und die von Kerzen erleuchteten Räume von SoulCycle, in denen sich während der Kurse predigtartige Coachingmomente und »beseelte« Augenblicke abspielen. [¹⁰] In den Jahren der Coronalockdowns befriedigte Peloton als führendes Unternehmen in der Fitnesswelt das kollektive Bedürfnis, sich zu versammeln und sich im Gleichtakt mit anderen Menschen zu bewegen. [¹¹] Das Heimworkout bot einen virtuellen Raum, in dem sich Menschen jeglicher Konstitution und Gewichtsklasse versammeln und in der Simulation eines schwitzigen Studios atmen konnten. Überall in den Vereinigten Staaten sieht man Menschen, die die aus dem Internet bekannten T-Shirts mit dem Slogan GYM IS MY CHURCH (»das Fitti ist meine Kirche«) tragen. [¹²]
Rituale bieten den Menschen aber auch sinnvollere Möglichkeiten, um sich aus dem technologischen Optimierungswahn und der von ihm beanspruchten Aufmerksamkeit zu lösen. »Digitaler Sabbat«-Rituale bilden einen heiligen Raum, in dem sich die Praktizierenden mit dem gegenwärtigen Augenblick verbinden können, während »I am here«-Tage einladen, ohne digitale Geräte zusammenzukommen. Der Journalist Anand Giridharadas, der gemeinsam mit seiner Frau, der Autorin Priya Parker, die »I am here«-Tage initiiert hat, beschreibt diese Treffen als besondere Zeiten, in denen man »Freundschaft und Gespräche in einer Weise genießt, wie man sie auf Facebook nicht findet; ganz und gar an einem Ort ist statt überall, aber nirgendwo ganz«. [¹³] Dasselbe Bedürfnis nach Verbundenheit lässt sich auch bei einer Gruppe Jugendlicher beobachten, die sich jeden Sonntag an derselben Stelle im Brooklyner Prospect Park verabredet. Sie rücken Baumstämme zu einem Kreis zusammen, legen ihre Handys weg, sprechen über analoge Bücher und zeigen sich Skizzenbücher. Es handelt sich um die Mitglieder des Luddite Club. Sie haben Rituale entwickelt, um sich gegenseitig darin zu unterstützen, sich von allen Social-Media-Plattformen loszusagen und ein Prä-iPhone-Leben zu führen – und sei es nur für einige Stunden. [¹⁴]
Denken Sie auch an den Aufstieg der Seattle Atheist Church, in der sich Atheist*innen sonntags versammeln, um all das Gute mitzunehmen, das eine konfessionelle Kirche bietet – Gemeinschaft, Einkehr, Gesang –, und bloß den Teil mit Gott auslassen. Nach dem Nichtgottesdienst setzen sich die Mitglieder in eine Runde und reichen einen »Sprechhasen« herum. Wer seine Gefühle und Gedanken teilen möchte, hält ihn in der Hand, während er zur Gruppe spricht. Die offizielle Mission dieser Kirche ist es, mithilfe solcher Rituale die Vorzüge einer religiösen Gemeinschaft zugänglich zu machen – ohne die »kognitive Dissonanz«, die der Glaube an übernatürliche Wesen mit sich bringt. [¹⁵]
In all diesen Beispielen sind Rituale lebendig, sie funktionieren und gedeihen. Sie haben bloß Formen angenommen, die traditionellen Vorstellungen von Ritualen widersprechen. Aus diesem Grund werden sie oft als hippiemäßig, als »typisch Millennial«, ichbezogen oder einfach nur seltsam abgetan. Doch das Wort »Ritual« hat eindeutig eine Aura beibehalten, einen Gestus des Heiligen oder Magischen, der von der Wellnessindustrie äußerst erfolgreich monetarisiert wurde. Man kann nun »Ritualexperten« buchen, die Unternehmen beraten, [¹⁶] und unzählige Apps und Onlineplattformen für tägliche Meditationen, Dankbarkeitspraktiken, Affirmationen und Bullet-Journaling nutzen, um nur ein paar Auswüchse zu nennen. Was sagen uns diese neuen Bewegungen über die Bedeutung von Ritualen im 21. Jahrhundert?
Die Geschichte eines Ritualskeptikers
Ich bin diesen neuen, säkulären Ritualen gegenüber häufig genauso skeptisch wie den vielen traditionellen, mit denen ich aufgewachsen bin. Anfangs fand ich sie auch gar nicht sonderlich interessant. Obwohl sich Rituale ihre Plätze in der Kultur eroberten, lag mir in meiner Anfangszeit als Verhaltensforscher nichts ferner als der Gedanke, mich mit ihnen zu beschäftigen. Ich mochte es, streng kontrollierte Laborexperimente zu entwickeln, in denen ich Phänomene auf ihren Kern herunterbrechen, wesentliche Variablen isolieren und die Effekte dieser Variablen auf irgendeine Ergebnismessung auswerten konnte. Mein Fokus lag darauf, die exakte Wirkung der Form unseres Geldausgebens (beispielsweise ob wir es für uns selbst oder andere tun) auf unser Glück zu messen, [¹⁷] unsere Wahrnehmung von Politikern und Politikerinnen zu evaluieren, indem ich die Art von Informationen variierte, die politische Berater in Umlauf bringen, [¹⁸] und zu zeigen, welche spezifischen Gehirnregionen die weitverbreitete Neigung unserer Gedanken zum Abschweifen fördern [¹⁹].
Die Herausforderung, Effekte von Ritualen in einem Labor zu messen, schüchterten mich (und viele meiner Kolleg*innen in den Verhaltenswissenschaften) bestenfalls ein. Denn die Praktiken, die mir in den Sinn kamen, wenn ich an »Rituale« dachte, waren höchst detailreich, aufwendig, mit bestimmten Kulturen verbunden und häufig mit jahrhundertealter Bedeutung aufgeladen. Deshalb erschien es mir unmöglich, dasselbe altbewährte methodische Strickmuster anzuwenden wie immer. Wie entfernt man Kultur und Geschichte aus Praktiken dieser Art? Würde dann überhaupt noch irgendetwas übrig bleiben, das man erforschen könnte?
Selbst bei meinen frühesten Untersuchungen der Frage, wie und weshalb Rituale wirken, betrachtete ich mich noch als Ritualskeptiker. Was bedeutet das? Vielleicht ahnen Sie es bereits. Viele von uns kennen Menschen, die ihre Tage – möglicherweise ihr ganzes Leben – durch Rituale strukturieren. Wie Flannery O’Connor beginnen sie beispielsweise ihren Tag stets zur selben Zeit in einer bestimmten Weise und fahren so fort, bis sie ihn, wie Charles Dickens, auf eine andere spezifische Art abschließen. Ganz im Gegensatz zu mir. Ich stand zu unterschiedlichen Zeiten auf, frühstückte zu unterschiedlichen Zeiten, machte Pausen zu unterschiedlichen Zeiten und ging zu unterschiedlichen Zeiten ins Bett – nichts an dem, wie ich mein Leben führte, war ritualisiert. Dachte ich jedenfalls.
Bis eines Tages etwas in mein Leben trat. Oder, besser gesagt, jemand. Meine Tochter. Nachdem sie geboren worden war, verwandelte ich mich augenblicklich und ohne nachzudenken in einen schamanischen Wahnsinnigen. Dem Zubettgehen – das früher ein paar langweilige, aber funktionale Handlungen wie Zähneputzen und Handyaufladen beinhaltet hatte – ging nun bald ein ungefähr siebzehnstufiges Ritual voraus. Es hatte nur ein Ziel: mein Kind zum Einschlafen zu bringen. Darin gab es Schlüsselfiguren: mich, meine Frau, Piggy, das braune und (besonders wichtig) das graue Häschen. Es gab wichtige Lieder: eins, das meine Frau im Sommerlager gesungen hatte, der Buddy-Holly-Song »Everyday« (meine Tochter nannte ihn »das Achterbahnlied«), James Taylors »Sweet Baby James« (alias »das Cowboylied«). Es gab heilige Texte: Gute Nacht, lieber Mond, Die kleine Raupe Nimmersatt, Oh, the Thinks You Can Think! Es gab essenzielle Handlungen: Wir mussten sie langsam ins Bett tragen, damit sie allen Treppenstufen eine Gute Nacht wünschen und sie fragen konnte, ob sie vor dem Schlafen noch etwas brauchten, und dann so oft leise Pscht machen, bis sie einschlief. (Ich war so überzeugt, dass meine Art und Weise, Pscht zu machen, die beruhigendste auf der ganzen Welt war, dass ich mich dabei aufnahm und das loopte, damit wir immer zehn Minuten davon zur Verfügung hatten.)
Ich glaubte, ich würde diese Schritte Monat für Monat, Abend für Abend durchführen, weil meine Tochter sie brauchte. Wie bei jedem Ritual hielt ich mich strikt an die genaue Reihenfolge der Handlungen und wiederholte sie. Ließe ich irgendetwas aus, würde meine Tochter die ganze Nacht wach bleiben, davon war ich überzeugt. Und wie bei den meisten Ritualen waren meine Handlungen zu einem gewissen Grad willkürlich – warum zwei Häschen, aber nur ein Schwein? Warum nicht Pu der Bär? Warum die Treppenstufen und nicht die Haushaltsgeräte? Wir wussten es nicht. Dennoch wichen wir selten von den einzelnen Schritten ab. Es stand zu viel auf dem Spiel. Das vorherrschende Gefühl war, wenn wir versuchen würden, Varianten einzubauen oder – weil wir unbedingt selbst ins Bett wollten – hier und da etwas auszulassen, könnte das ganze Unternehmen scheitern. Eine Abkürzung oder Variation könnte nicht die
