Über dieses E-Book
Größer könnte der Kontrast nicht sein: Gerade noch in Beirut, kehrt der Mann, der hier erzählt, in das Bergdorf in Tirol zurück, aus dem er stammt. Die Wintersaison ist vorbei, alles ist wie ausgestorben, in Ruhe will er an seiner Reportage über die Kunstszene im Libanon arbeiten. Doch Rami, ein Sprayer, den er auf seiner Reise getroffen hat, ruft in ihm Erinnerungen wach, die bis in seine Kindheit zurückreichen: an Lenz, einen einarmigen Maler aus Berlin, der 1944 in das Dorf kam, um zu bleiben. Damals stellte er keine Fragen, jetzt will er es genauer wissen: Und er erfährt von einem Lager für Zwangsarbeiter im Dorf, einem Versteck von Deserteuren in den Bergen und den Verstrickungen seines Großvaters Ludwig, einem der Lagerwärter. Hat Ludwig etwas mit dem Verschwinden eines ukrainischen Gefangenen zu tun, der mit der Schwester seines besten Freundes ein Verhältnis hatte?
Robert Prosser
geboren 1983 in Alpbach in Tirol, Studium der Komparatistik und Kultur- und Sozialanthropologie, Autor und Performancekünstler. Für seine Romane hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. Reinhard-Priessnitz-Preis 2014. Mit Phantome (2017) stand er auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Robert Prosser lebt in Alpbach und in Wien. Verschwinden in Lawinen ist sein erster Roman bei Jung und Jung. (www.robertprosser.at)
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Rezensionen für Das geplünderte Nest
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Buchvorschau
Das geplünderte Nest - Robert Prosser
I
Die Gespenster der Gespenster
1.
Durch die Zweige glimmen die erhellten Fenster eines Hauses weit weg. Der Wind greift in das Astwerk, und die Lichter tanzen, der Frühling lässt sich schon erraten. Flo steht über das Schloss der Kellertür gebeugt, ich passe auf, dass uns niemand entdeckt. Richtung Westen öffnen sich die Berge zum Inntal hin, ein breiter Einschnitt im Felsmassiv. Früher, wenn ich spätnachts auf den dunklen Talschluss zuging, zuwankte, mit jedem Schritt tiefer im Schwarz und näher daheim, drehte ich mich manchmal um und glaubte beim Blick auf diese Lücke im Gebirge, dass ich da hindurch einmal verschwinden würde, in die Welt hinaus. Mittlerweile haben die Orte sich vertauscht. Ich verschwinde hierher zurück, an einen Ort, an dem die Seelen tanzen wie Lichter zwischen Zweigen, einen Ort, an dem hinter Lichtern wie diesen sich Seelen verbergen. Ich könnte nicht sagen, was das sein soll, eine Seele, es ist so wenig greifbar wie der Wind. Er riecht nach Frühling, ja, aber trägt auch noch den Winter vom Joch herab.
2.
Tage zuvor schlug mir in einem anderen Haus kalter Zigarettenrauch entgegen. Ich konnte das Verbot noch so oft einmahnen, geraucht wurde immer. Auf dem Schuhregal lag ein aus Ästchen geflochtenes Nest, darin ein rohes Ei, die Schale mit schwarzem Edding beschriftet: Frohe Ostern. Nicht das Sonderbarste, was mir bisher hinterlassen worden war; unter den letzten Gästen hatte sich offenbar jemand gelangweilt.
Mit Ende der Osterferien schloss das Schigebiet, und bis zu Sommerbeginn die Wanderer kamen, herrschte die fünfte Jahreszeit, die Zwischensaison. Wochen des Übergangs, der Stille, der öden Ereignislosigkeit, in denen mir das Ludwig-Haus zur Verfügung stand. Der Name ging auf meinen Großvater zurück. Noch im hohen Alter vergaß er nicht zu erwähnen, beim Bau selbst viel beigetragen zu haben. Die gemauerten Ziegel, das gerodete Waldstück, die Schotterstraße, überall war seinen Erzählungen zufolge die eigene Hand im Spiel gewesen. Den Großteil des Jahres wurde das Haus, in dem ich meine Kindheit und Jugend verbracht hatte, von fremden Menschen bewohnt. Weil ich es als Feriendomizil vermietete, konnte ich ein halbwegs ungebundenes Leben führen; dieser Umstand verschaffte mir den nötigen Gleichmut, als ich unter dem Sofa ein benütztes Kondom fand und es mithilfe des Schürhakens zum Mistkübel trug. Ich musste die Spuren der Urlauber beseitigen, bis dahin wäre meine eigene Reise noch nicht vorbei. Nicht mit dem Erreichen des Dorfes, dem Wandern von der Busstation hoch.
Ich riss die Fenster auf. Aus dem Schuppen holte ich Brennholz, heizte in der Stube den Kachelofen ein. Am Kühlschrank hatte mir der alte Aufacher eine Liste allfälliger Reparaturen hinterlassen. Die Wasserleitung im Garten ist eingefroren – weiter las ich nicht, das reichte für den Anfang. Aufacher war in meiner Abwesenheit Ansprechpartner für die Urlauber, kontrollierte die Ankünfte, legte im Postkasten den Schlüssel bereit. Am Küchentisch lag das Gästebuch. Die zwei ersten Einträge stammten von mir selbst, mit leicht verstellter Handschrift, um die Besucher zu animieren. Unter den jüngsten fanden sich Julia und Tom aus Hamburg, sie schwärmten vom Sternenhimmel, und Chris aus Den Haag erwähnte Rehe am Waldsaum. Von der Faszination, der Liebe, die viele Urlauber dieser Gegend gegenüber empfanden, müsste man sich etwas abschauen, dachte ich mir.
Ich packte das Gästebuch in eine Lade, aus dem Keller holte ich den Wäschekorb, darin mein Bettzeug. Ich warf einen Blick in die Werkstatt, sie war voller Flaschen, Plastiksäcke, Altpapier und Kartonagen, Müll, der sich die Saison über angesammelt hatte. Seit Aufacher der Führerschein abgenommen worden war (zwei Promille, nach einer Weihnachtsfeier), fiel die Entsorgung auf mich zurück. Und ich musste das Holz aufhacken, Erle und Fichte, grob zerschnittene Stämme lagen seit letztem Herbst unter einer Plane im Garten. Ich räumte in der Küche den Geschirrspüler aus, ich schloss die Fenster, stellte das Fässchen mit Weihrauch auf den Herd. Der harzige Duft schlich in den ersten Stock, ich folgte ihm. Oben gab es zwei Schlafzimmer, ich wählte das nach Osten gelegene. Nachdem das Bett neu bezogen war, konnte ich mich Wichtigerem zuwenden; ich rückte im Flur den Kasten zur Seite und sperrte die dahinter verborgene Tür auf.
Früher das Zimmer von Ludwig, diente die Kammer nun als mein Archiv. Hier verwahrte ich Unterlagen, Festplatten, USB-Sticks, Angesammeltes aus den vergangenen Jahren, das in meiner Wohnung in Wien keinen Platz hatte. Über der Kommode ein Spiegel und darin mein müdes Gesicht. Ich brauchte eine Dusche. Als ich mich frühmorgens in einem anderen Spiegel betrachtet hatte, im fünften Stock eines Hotels in Beirut, sagte ich mir, dass ich dieses freiere Bewusstsein, das durch eine Reise möglich wurde, nützen wolle. Ich hatte nicht nur den Stoff für eine Reportage zur libanesischen Kulturszene nach Tirol mitgebracht, sondern noch etwas anderes, oder besser: noch jemand anderen. Sein Name stand auf einer der Schachteln, die sich in der Kammer stapelten: Lenz. Während des Zwischenstopps in Antalya, bei der Ankunft am Flughafen München, im Zug nach Kufstein und weiter nach Wörgl, hatte ich an Lenz gedacht. Und an Rami natürlich. Ohne Rami hätte ich die Schachtel nicht hervorgesucht und runter in die Küche getragen.
*
Vor uns, an der Corniche von Beirut, das Rauschen des Meeres, hinter uns, von Palmen getrennt, das Rauschen des Verkehrs. So hatte es angefangen. Rami sprach schnell, sprunghaft, es war nicht leicht, ihm zu folgen, und ich legte meine Hand auf seinen Unterarm und sagte: Ana mish fahem, ich verstehe nicht. Er lachte, überrascht von der Phrase und meinem Akzent. Je ne comprends pas, I don’t understand, damit kam man in Beirut durch, glaubte ich.
Die arabische Wendung verdankte ich dem Taxifahrer, einem schlaksigen Mann Ende fünfzig, der mich vom Flughafen zum Hotel chauffiert hatte. Er musterte mich über den Rand seiner Sonnenbrille hinweg. Ob ich Deutscher sei, fragte er. Österreicher, sagte ich. Er zuckte mit den Schultern, zählte seine Stationen auf, Dortmund und Frankfurt, immer am Bau. Erstes Mal in Beirut?, fragte er, und ich verneinte, fünf Jahre zuvor war ich bereits einmal hier gewesen. An den Fingern seiner Rechten zählte der Taxifahrer auf, was seither geschehen war. Massenproteste, Wirtschaftskrise, die ausufernde Korruption, das kollabierte Bankensystem; er lachte, könne das alles selbst nicht glauben. Und die größte Katastrophe, sagte er und sah mich erwartungsvoll an. Die Hafenexplosion, sagte ich, und er wiederholte: Die Hafenexplosion, ja, mehr als zweihundert Tote und Tausende Verletzte. In einer Lagerhalle war an einem Tag im August Ammoniumnitrat in Brand geraten, ich dachte an die Videos, online von Augenzeugen gepostet, Aufnahmen einer riesigen Rauchsäule und wie es darin zu blitzen begann, als aus dem Inneren des dichten Qualms hervor eine Druckwelle losbrach, die über die Stadt hinwegraste und sich durch das Meer wühlte, die Erschütterungen der Detonation waren noch in Zypern zu messen. Die Hand des Taxifahrers schwebte über dem Schalthebel, als wir über Gaza sprachen. Wer weiß, ob der Libanon in diesen neuen Krieg hineingezogen wird. Was auch immer geschieht, sagte er, wir haben schon Schlimmeres durchgemacht. Kannst du Arabisch?, wollte er wissen, und ich sagte ein paar Vokabeln auf, Allerweltswörter. Mumkin, vielleicht, Shukran, danke. Er erklärte mir etwas in seiner Muttersprache, warte, unterbrach ich ihn: Ich verstehe nicht. Ana mish fahem, übersetzte er, merk dir das.
An einer Straßenecke schlug er ein Kreuz, kratzte sich mit derselben Bewegung im Hemdausschnitt. Früher war hier die Grüne Linie, sagte er, seine Hand fuhr durch die Luft. Zwischen den Muslimen und uns, im Bürgerkrieg, grün, von wegen. Er rief durchs Fenster den Katzen zu, die auf Müllsäcken kauerten, miez, miez, und dann erzählte er von den Hunden. Über die Grüne Linie sei viel geschmuggelt worden, Raki und Nachrichten und Menschen, und er rieb die Fingerspitzen aneinander, alles Geschäft. Das Niemandsland war Hunderevier, und selbst wenn man noch so viele Köter umlegte, Nacht für Nacht kehrten sie zurück, auf der Jagd nach den Toten und den Lebenden. Von seinem Posten aus habe er das Winseln und Knirschen gehört, wenn sie etwas zum Fressen entdeckt hatten, das Jaulen, wenn sie aufeinander losgingen. Er spuckte durch das offene Seitenfenster und bekreuzigte sich erneut, sah anstelle der Katzen in ihrem Schatten vielleicht die Hunde. Und wieder kratzte er sich an der Brust, als wüchse ihm unter dem Hemd ein Stück räudiges Fell.
*
Ich hatte mit Rami ein Treffen an der Corniche vereinbart, nicht weit vom Hotel. Der wagemutige Köpfler eines Jungen von einem Wellenbrecher in das aufgepeitschte Meer, eine Straßenverkäuferin mit Rosen, Zahara?, Flowers?, und ich verneinte, pas des fleurs? Über Inlineskatern ein Banner der Hisbollah, bärtige Männer in Turban, in ihrer Mitte das Emblem der Miliz, eine Faust, die eine Kalaschnikow in die Höhe reckt. Ein Pärchen spazierte vorbei, biss abwechselnd in rosarote Zuckerwatte, als würden sie aus ihren Zukunftsträumen klebrige Stücke reißen. Löwenhunger nach Romantik, Möwenkrächzen, der Duft einer Shisha, Erdbeere. Zahara, Blume, ich wiederholte mir das neue Wort. Beirut schien aus vier Sprachen zu bestehen, und ich bewegte mich zwischen diesen Sprachen, wie ich mich durch die Stadt bewegte, neugierig und tastend.
Rami lehnte an der Promenadenmauer. Ich entschuldigte mich für die Verspätung, und er schnalzte mit der Zunge, was ihm eine auffällige Arroganz verlieh. Ich schätzte ihn auf Mitte zwanzig, drahtig wie er war, das Gesicht bartlos, kantig, man könnte es wie eine Scherbe porträtieren, dachte ich. Mit der Fußspitze stieß er die Tasche neben sich an, darin leere Weinflaschen. Er habe seine Runde durch die Hotels und Restaurants gerade beendet. Die Zigarette im Mundwinkel holte er eine der Flaschen hervor, sie schillerte in der Sonne. Ob er Altglas sammle, fragte ich, und er verschüttete die letzten Tropfen, antwortete: So was in der Richtung.
Die Tasche schulternd ging er neben mir her. Entlang der Corniche zur Zeitoun-Bucht und von dort ins Stadtinnere, Richtung Märtyrerplatz, ich kannte den Weg von früher. Während dieser Tage in Beirut traf ich Leute aus der Kulturszene, unter anderem eine Sängerin und einen Theaterschauspieler, geplant war eine Reportage über ein Land in der Krise und wie Künstler die ungewisse Zukunft verhandelten. Durch Rami erhoffte ich mir Einblicke in die Graffitiszene. Er zeigte mir Mauern, Hauswände, die wiederkehrenden Namen und Parolen, die von den Protesten, die nach der Hafenexplosion über Wochen angehalten hatten, geblieben waren. Am Ende einer Straße blitzte das Meer auf, und mich überkam dasselbe Gefühl wie fünf Jahre zuvor, eine Verlorenheit, die ich damals nicht losgeworden war und auch gar nicht loswerden wollte. Sie war nicht quälend, sondern bloß das Eingeständnis, dass ich nicht verstehen konnte, wie diese Stadt funktionierte, zu überfordernd wirkte sie.
Ein Kontrollposten der Armee hinter Sandsäcken und Stacheldraht, vom anderen Ende her betrachtete uns eine Katze. Wo waren die Hunde, Nachfahren der Köter, von denen der Taxifahrer gesprochen hatte? Gelangweilte Soldaten, streunende Katzen, ihnen gehörten die Tage. Und die Nächte? Eines von Ramis Graffitis prangte oberhalb eines Dachvorsprungs, ich konnte die explosiven Linien in Schwarz und Weiß nicht enträtseln. Was es bedeute, fragte ich, und er sagte: Hawk. Saqr, Faucon. Und der Junge neben mir, der sich Falke nannte, schob sich das Baseballcap in den Nacken und führte mich zu einer weiteren Wand, komm, ich zeig dir, was ich aktuell so mache.
*
Das Schablonenbild eines bärtigen Mannes, über dem linken Auge eine Klappe, es war an etlichen Orten zu finden: das Porträt von Abu Subaida, einem staatenlosen Palästinenser. Subaida habe Hollywood geliebt, erzählte Rami,
