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Der Wortschatz des Todes
Der Wortschatz des Todes
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eBook337 Seiten3 Stunden

Der Wortschatz des Todes

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Über dieses E-Book

Ein explosiver Politkrimi um Rechtsextremismus, Mord und Putins
langen Arm nach Deutschland
Irina Starilenko, russischstämmige ehemalige BKA-Fallermittlerin, wird von ihrem Bruder Konstantin gebeten, seinem Freund Oleksandr zu helfen. Oleksandr, der vor dem russischen Angriffskrieg aus der Ukraine nach Deutschland geflohen ist, soll den Mord an einem polnischen Geschäftsmann begangen haben, ist jedoch unschuldig, da er zur Tatzeit mit Konstantin einen Brandanschlag auf ein Haus der Identitären Bewegung verübt hat. Doch Konstantin kann nicht für Oleksandr aussagen, weil sonst seine Bewährung widerrufen würde und er auf Jahre ins Gefängnis ginge. Nach kurzem Zögern sagt Irina zu, sich auf die Suche nach dem wahren Täter zu begeben, und muss bald feststellen, dass sie es mit ausgesprochen dunklen Kräften zu tun hat …
-Der erste Fall der Ex-BKA-Ermittlerin Irina Starilenko
-Ein vielschichtiger Kriminalroman über Loyalität und Schuld, Täuschung und Verlust – und die langen Schatten von Putins Krieg in der Ukraine
SpracheDeutsch
Herausgeberars vivendi Verlag
Erscheinungsdatum11. Sept. 2025
ISBN9783747207130
Der Wortschatz des Todes
Autor

Martin von Arndt

MARTIN VON ARNDT, 1968 als Sohn ungarischer Eltern geboren, lebt als Schriftsteller und Musiker bei Stuttgart und in Essen. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Preise und Stipendien. 2014 erschien der Roman Tage der Nemesis im ars vivendi verlag, 2016 folgte Rattenlinien, 2019 Sojus, mit dem er für den Crime Cologne Award nominiert war, 2021 der Politthriller Wie wir töten, wie wir sterben.

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    Buchvorschau

    Der Wortschatz des Todes - Martin von Arndt

    1

    Nacht von Samstag auf Sonntag

    Drei Atemzüge lang starrt er in das Chaos aus Glut und Qualm. Seine Augen beginnen zu tränen. Er fühlt die Hitze. Er hört sie grollen. Er kann sie riechen.

    Als die zweite Flasche im Inneren des Hauses zersplittert und ein Flammenstrahl wie eine Wasserfontäne in die Höhe schießt, um sich mit der Hitzewelle der ersten Flasche zu vereinigen, muss er an die Worte denken, die sein Vater gesagt hatte: Es war so heiß in diesen Tagen, dass es in meinem Herzen seither nicht mehr warm wird. Dann reißt ihn sein Komplize aus der Erinnerung, zieht ihn mit sich fort, gerade rasch genug, bevor die Verpuffung mächtige Feuerzungen in ihre Richtung peitscht.

    Die Entwicklung der Initialphase wird maßgeblich bestimmt durch die Sauerstoffkonzentration des Raumes. Handelt es sich um festen Stoff, verdampfen Feuchtigkeit und flüchtige Bestandteile, wobei trockene Materialien sich schneller entzünden als feuchte.

    Sie hatten das Haus wochenlang observiert, um sich zu vergewissern, dass es nicht videoüberwacht war. Sie wussten, wer zu welcher Uhrzeit ging und wieder zurückkam. Wussten, dass es selten Phasen gab, in denen sich niemand hier aufhielt, weil die Bewohner genau dieses Szenario fürchteten: dass jemand kurzen Prozess machen würde mit dieser Brutstätte der Neuen Rechten in Mecklenburg-Vorpommern.

    Innerhalb der nächsten fünf Minuten heizt sich die Luft immer stärker auf. Die vom Rauch ausgehende Wärmestrahlung beginnt abrupt, alle Materialien zu zersetzen, die brennbar sind.

    Die beiden Männer, der Große über und über bedeckt mit Tattoos und Piercings, der Kleine mit abstehenden Ohren und struppigem braunen Haar, hatten jeden der Hausbewohner identifiziert und abgewartet, bis der Letzte die zahlreichen Schlösser verriegelt und mit seinem aufgemotzten BMW E30 weggeröhrt war. Sie hatten, nervös atmend und jeden Blickkontakt vermeidend, in der Deckung des Gebüschs verharrt und die Sekunden gezählt. Dann war der Große zur Hinterseite des Hauses gesprintet, hatte zwei Scheiben mit einem alten Radkreuz eingeschlagen und an der verriegelten Tür gerumpelt. Als auch auf diesen Lärm niemand im Haus reagierte und kein Licht anging, gab er dem Kleinen ein Zeichen. Das Gebäude war leer. Höchste Zeit!

    Sobald die Raumtemperatur die Zündtemperatur der im Raum befindlichen Gegenstände übersteigt, kommt es zu einem Flashover, der schlagartigen Brandausbreitung im gesamten Bereich.

    Die beiden Männer hatten bei ihrer letzten Observation gesehen, dass man im Haus nachlässig geworden war: Im Erdgeschoss hatte man alte Möbel gelagert, die zu entsorgen die Bewohner bis heute zu träge gewesen waren. Polster, vermutlich aus Kunstfaser. Ideale Voraussetzung für ein Brandnest.

    Die Temperatur erreicht eintausend Grad Celsius, und das Feuer hält sich entsprechend der vorhandenen Brandlast und der Frischluftzufuhr lange und verzehrend auf diesem Temperaturniveau.

    Die beiden Männer hatten vier Flaschen mit Benzin und Schwefelsäure gefüllt und dicht verschlossen, sodass der beißende Geruch nicht nach draußen drang. Sie hatten Papier mit Kaliumchloratlösung durchtränkt und getrocknet, Flaschen und Papier in ihrem Lieferwagen weit voneinander entfernt gelagert, damit sie bei einem Unfall nicht hochgingen.

    Als der Kleine ebenfalls an der Hintertür war, umwickelten sie die Flaschen mit dem Kaliumchloratpapier. Auf ein Nicken, das sich vom einen zum anderen weitergab, warfen sie ihre Ladung durch die eingeschlagenen Fensterscheiben. Sobald die Flaschen auf dem Boden zersprangen, reagierten die Schwefelsäure und das Kaliumchlorat miteinander, das Benzin entzündete sich und ließ die Hölle losbrechen.

    Es war so heiß in diesen Tagen, dass es in meinem Herzen seither nicht mehr warm wird. Der Große starrt in das Chaos aus Glut und Qualm, dann wird er fortgerissen, stolpert über seine eigenen Beine, rafft sich wieder auf und läuft zurück zum Transporter.

    »Vsjo choroscho?«, fragt der Kleine besorgt, als er den Wagen startet.

    »Alles gut«, antwortet der Große.

    Er denkt an Tschernobyl.

    An Tschernobyl und seinen Vater.

    Er blickt in den rechten Außenspiegel des Transporters. Blickt zurück. Zurück in den rötlichen Schein, der die Nacht zu zerreißen beginnt.

    2

    Zur selben Zeit

    Eine Landstraße, gesäumt von jungen Fichten. Vorn das Anthrazit der Nacht. Achtzig, neunzig Meter hinter dem stehenden Auto trübt das Licht der letzten Straßenlaternen. Alle Farben verschwimmen, ein impressionistisches Gemälde. Sicher kann man die Fichtenschonung an feucht-heißen Sommertagen riechen, denkt sie.

    Und dann: Warum habe ich das Abblendlicht nicht ein geschaltet …?

    Von der nahe gelegenen Kirche tönen drei Glockenschläge herüber. Sie hat die Seitenscheibe heruntergelassen, deshalb sind sie zu hören. Sie fühlt sich plötzlich ganz nüchtern, aber sie weiß, dass sie den Alkohol so schnell nicht abgebaut haben kann. Das ist die Wirkung des Adrenalins. Oder war es das Cortisol …?

    Der Motor macht Stolpergeräusche. Sonst ist nichts zu hören. Im Rückspiegel erahnt sie die letzten Häuser der Vorstadt. Die Straße direkt hinter dem Auto ist dunkel. Keine Silhouette, die sich vom Boden abheben würde.

    Ein Wildschwein? Ein Reh? Würde sie das Reh töten müssen …? Wenn das Tier schwer verletzt ist, wenn man die Eingeweide sieht, wird sie es töten müssen. Aber wie tötet man ein Tier, wenn man keine Waffe hat? Mit dem Wagenheber? Den Schädel einschlagen …?

    Sie unterdrückt einen Würgreflex.

    Nur keine Panikattacke bekommen! Keine Panik jetzt! Hier ist der Zündschlüssel. Dreh ihn nach links, stell den Motor ab. So ist’s gut, Lou. Jetzt überleg, was passiert sein könnte.

    Sie hatte einen Schatten wahrgenommen, seitlich, rechts. Dann der Aufprall. Hinten.

    Ein harter Aufprall.

    Ein Rad …? Ein Mensch auf einem Rad!

    Du musst ihm helfen. Du studierst Medizin, du musst ihm verdammt noch mal helfen! Hier ist der Verbandkasten. Hier dein Smartphone. Atme! Dann steig aus und sieh nach, was passiert ist. Oder ruf wenigstens die Rettung, Lou.

    Doch sie kann sich nicht bewegen, hat keine Kontrolle über ihre zitternden Hände. Ihr wird entsetzlich schlecht. Sie kämpft mit ihrem Magen und verliert. Sie schafft es noch rechtzeitig, den Sicherheitsgurt zu lösen und den Kopf über die herabgelassene Seitenscheibe zu drehen, dann spürt sie, wie eine Hand in ihren Därmen wühlt und ihr schwarz vor Augen wird. Sie würgt die Cocktails und das Fingerfood der letzten zwei Stunden heraus. Würgt, bis ihr der Schädel zu zerplatzen droht.

    Im linken Augenwinkel sieht sie eine Bewegung, die sich im Außenspiegel wiederholt. Hinter dem Auto. Als würde sich eine Person langsam und mühevoll aufrichten. Der Größe nach ein Mann. Ein Schlurfen, ein Husten. Dann erkennt sie, wie die Person mit einem Fahrrad Richtung Fichtenschonung zu humpeln beginnt.

    »Kann ich hel… es tut mir …«

    Ihre Stimme ist leise, sie trägt nicht, obwohl die Nacht beängstigend still ist. Lou sieht kaum, wie der Mann das Rad schultert, als er die Bäume erreicht. Jetzt wird er vom Dunkel verschluckt.

    Kopfschmerzen. Lou muss sich ein weiteres Mal übergeben.

    Kopfschmerzen. Das Pochen in ihren Schläfen. Jetzt hilft alles nichts mehr, der Typ ist weg. Hier sind deine Tranquilizer. Hier ist dein Wasser. Trink, Lou, trink.

    Ihre Hand findet den Türöffner, sie zittert sich nach draußen. Atmet dreimal tief durch, spürt die Kälte auf ihrem Gesicht, dann geht sie unsicher um das Auto herum.

    Kein Blut am Boden. Das muss die Stelle sein, an der die Kollision stattgefunden hat. Kein Blut, Gott sei Dank: kein Blut.

    Auch kein Geräusch. Die letzten Häuser sind mehr als hundert Meter weit entfernt. Nirgendwo ist ein Hauslicht zu sehen. Niemand hat etwas gehört, niemand etwas gesehen. Es ist die Nacht auf Sonntag, da pennen alle. Alle! Du musst keine Angst haben, Lou. Probezeit, aber hab keine Angst! Wenn der Radfahrer einfach weitergegangen ist, ist ihm sicher nichts Schlimmes passiert. Also keine Kopfverletzung. Sonst hätte er doch nicht einfach … aber was ist mit dem Adrenalin … oder war es das Cortisol …? Spürt man da überhaupt etwas …?

    Sie sieht einen Papierfetzen am Boden liegen, folgt einem Impuls und bückt sich danach, steckt ihn ein. Dann kickt sie einige Scherben der rechten Heckleuchte an den Straßenrand. Nicht viel zu sehen von dem Unfall. Zumindest nicht auf der Straße. Aber das Auto … abgesehen von der kaputten Leuchte erkennt sie, dass Kotflügel und Heckklappe eingedrückt sind, dort, wo der Radfahrer aufgeschlagen ist. Was nur wird Papa … sein schwarzer Citroën DS Baujahr ’75 … zum ersten Mal ausgeliehen … jeden Cent abstottern, ich schwör … ich muss eine plausible Geschichte erfinden. Wildunfall, werd ich sagen, ja, das blöde Vieh, einfach ins Auto … was für ein Vieh? Ein Wildschwein! Aber wär da der Schaden nicht größer? Ein Reh, ein Dachs, ein Mammut, das kann ich ja immer noch …

    In der Ferne hört sie ein Geräusch. Die Angst kehrt zurück, sie hastet ins Auto, verriegelt die Fahrertür von innen, schaltet den Motor an, fährt los.

    Licht an, Lou!

    Licht ist an … wie hat sie vorhin nur vergessen können, das Abblendlicht einzuschalten? Spätestens im Wald hätte sie es gemerkt, doch solange sie noch halb im Ort war und die Straßenlaternen … aber der auf dem Rad hatte ja auch kein Licht an … überhaupt: Der kann selbst nicht ganz auf der Höhe gewesen sein, weil er trotz der Dunkelheit das Auto, wenn schon nicht gesehen, dann doch wenigstens gehört haben musste … wahrscheinlich besoffen … oder Kopfhörer auf … vielleicht beides …

    Konzentrier dich, Lou! Nicht, dass noch etwas passiert.

    Dies ist die Straße. Dies das Lenkrad mit dem Bezug aus Faserleder.

    Atme!

    3

    Dienstag, Vormittag

    Glut Brand Rauch Asche Schwarz Hitze Graphitwolke Weißglut Ozon Purpurrot Ruß Ionenstrahlung Dampfschwaden Verstummen der Vögel Fallout Trümmer die Frauen Betastrahlung die Kinder Alphastrahlung die Männer die Luft radioaktive Asche Gammastrahlung das Wasser der Boden keine Luft die Zone keine Luft keine Luft keine Luft

    Der stumme Schrei ihres Vaters. Den ihre Lungen aufnahmen. Aufnahmen und in einen lauten Schrei formten. Einen Schrei, den sie selbst ausstieß. Der Shun weckte. Der zu bellen begann. Der nach ihr suchte. Der nach ihr sah. Sah, ob alles in Ordnung war mit ihr. Sah, ob er die Feinde der Rotte unter Einsatz seines eigenen Lebens würde vertreiben müssen.

    Als der riesige Hund befand, dass es keine äußere Bedrohung gab, die seiner Gefährtin gefährlich wurde, hüpfte er aufs Bett, schlabberte einmal quer über Irina Starilenkos Gesicht und blickte sie mit großen, fragenden Augen an.

    »Ist ja gut, Shun, gleich gibt’s Fressen.«

    Mit Tschernobyl hatte alles begonnen, was Irinas Leben ausmachte. Zu Tschernobyl kehrte es immer wieder zurück. Wieder und wieder. In Träumen, die sich wiederholten. Und alle führten zu ihrem Vater.

    Sie nahm ihr Smartphone zur Hand. 7.15 Uhr. Sah, dass es der Klingelton war, den sie in ihrem Traum verarbeitet hatte. Dann klingelte das Telefon erneut, hörte gar nicht mehr auf zu klingeln, obwohl sie ihre Mailbox eingerichtet hatte. Wer auch immer sie da zu erreichen versuchte, legte immer wieder auf, sobald die Mailbox ansprang, und drückte auf Wahlwiederholung. Irina ließ es klingeln. Sie war noch immer vollkommen erschlagen von der Nacht. Ihre Hormone spielten mal wieder verrückt, sie kam morgens einfach nicht raus. Seit Wochen ging sie um Mitternacht ins Bett, nur um nach anderthalb Stunden aufzuwachen und keinen Schlaf mehr zu finden. Sie las, hörte Podcasts, probierte sich mit stumpfsinniger Arbeit abzulenken, spülte Geschirr und trennte die Flaschen nach Farben. Meist war sie dann gegen sechs Uhr so müde, dass sie wieder einschlief … um vor neun Uhr nicht aus dem Bett zu kommen, gerädert, gevierteilt, müder als zum Zeitpunkt, als sie ins Bett gegangen war.

    7.15 Uhr bedeutete, dass sie gerade etwas mehr als eine Stunde ihres zweiten Schlafs gehabt hatte. Doch als das Klingeln nach Minuten noch immer kein Ende nahm und Shun abwechselnd vorwurfsvoll zu ihr und dem Telefon hinsah, ging sie ran. Nacht in der Stimme, Schlaf im Hals.

    Sie hörte eine genervte Frau, die ihr in knappen Worten erklärte, dass man Xenias Eltern nicht erreicht habe und deshalb bei ihr anrufe. (Und das nur, dachte Irina, weil sie irgendwann dem Internat ihre Telefonnummer gegeben hatte, weiß der Teufel, weshalb.) Jedenfalls sei ihre Nichte wegen eines »außerordentlichen Vorkommnisses« für eine Woche von der Schule suspendiert und müsse abgeholt werden, denn gemäß Internatsregel dürfe Xenia in dieser Zeit nicht im Wohnheim bleiben. Vollkommen überrumpelt sagte Irina zu, fiel aus dem Bett, kochte Kaffee und versuchte ihren Bruder zu erreichen. The person you have called is temporarily not available. Sie sah Shun beim Fressen zu, schüttete die starke schwarze Brühe in sich hinein und überlegte mit ihrem noch auf manuellen Betrieb geschalteten Hirn, wo sich Xenias Mutter wohl herumtrieb, bis ihr wieder einfiel, dass Rebecca nach einem schweren depressiven Schub vor Kurzem in eine Akutklinik gekommen war. Also war nur sie übrig geblieben.

    Sie hätte es gern gesehen, wenn die fünfzehnjährige Xenia einmal wirklich die Konsequenzen ihres Tuns hätte spüren und zusehen müssen, wie sie nach Hause kam. Aber das Internat lag so weltvergessen jenseits aller Verkehrsanbindung, dass es, Strafe hin oder her, ohne Auto schlechthin unmöglich war, von dort weg- und wieder zurückzukommen.

    ______

    Seit Wochen hing eine schwere, dunkelgraue Masse über dem Land, die nie aufzuklaren schien. In den Bäumen, an denen sie vorüberfuhren, hielt sich noch immer verrottendes, rostfarbenes Laub. Eine braune Wand rechts, eine links von ihnen. Am Horizont zog Nebel auf, durch den nur hier und da unirdisches Silberlicht drang.

    Irina drückte aufs Gaspedal, um nicht einzuschlafen. Sie hatte das Gefühl, ihre eigene Müdigkeit überholen zu müssen. Im Innenspiegel nahm sie ihre von roten Linien durchkritzelten Augen wahr. Nicht mehr lange, dann würde sie siebenunddreißig Jahre alt werden. Die Fältchen um Augen und Mundwinkel begannen sich zu vertiefen, und wenn aus ihnen endlich ausgewachsene Faltengräben würden, wäre die Umwandlung in ihre Mutter, der ähnlich zu sehen Irina immer abgestritten hatte, vollzogen. Auch deshalb hatte sie sich schon vor längerer Zeit einen Kurzhaarschnitt verpassen und ihn nachtschwarz färben lassen. Ihre Gesichtszüge waren noch immer weich, aber ihr über eins achtzig großer, von Wing Chun durchtrainierter, sehniger Körper und ihre dunkle, rauchige Stimme irritierten jeden Mann. Und jede Frau.

    Die nächste Kurve nahm Irina zu schnell – das nasse Laub auf dem Untergrund ließ die Hinterreifen wegrutschen, bis das elektronische Stabilitätsprogramm des Autos eingriff und den Wagen wieder in die Spur brachte.

    Sie waren auf der Landstraße unterwegs: gelbes Schild, roter Querbalken, gelbes Schild, roter Querbalken. Es war eine dieser Gegenden, in denen sämtliche Verkehrsschilder außerorts Einschusslöcher aufwiesen. Innerorts fuhren sie an Mauern vorbei, hinter denen Kreuzspitzen zu erahnen waren.

    Sie dachte daran, wie sie vorige Woche auf dem Friedhof gewesen war, wo ihr Vater begraben lag. Die Friedhofsverwaltung hatte auf dem Grabstein einen Aufkleber angebracht, der ihre Familie darüber informierte, dass die Ruhezeit abgelaufen war und das Grab abgeräumt werden müsse. Da ihre Mutter auf einer endlosen Reise durch Südamerika war und ihr Bruder sich nicht um Banalitäten wie die ewige Ruhe kümmerte, war sie es, die den Zettel gefunden hatte. Empört war sie durch den Regen gestapft und hatte den Friedhofsgärtner, einen Mann mit hängenden Schultern und üblem Husten, gefragt: »Wie kann ich das verlängern?« Er hatte mit den Schultern gezuckt und einen tiefen Schluck aus einem Kaffeepott mit der Aufschrift Kein Job für Mädchen genommen. Dann hatte er gesagt: »Nur wenn Sie sich dazulegen.« Anschließend hatte er ihr ein dickes Bündel mit Formularen in die Hand gedrückt und erklärt, dass wenig Chance auf Erfolg bestehe, weil die Ruhezeit schon einmal verlängert worden und der Friedhof überfüllt sei. Sie war abgerauscht, wütend, entnervt, verzweifelt, dass die Trauer um ihren Vater keinen eigenen Ort mehr haben sollte.

    Noch immer blickte sie in Gedanken hinaus in die tropfnasse Welt, als hinter ihr das Geräusch erklang, das ihr Hund machte, wenn er einen riesigen Happen schluckte, ohne ihn zu kauen.

    »Gib Shun nichts zu fressen, sonst kotzt er mir wieder den ganzen Rücksitz voll!«

    Als es neben ihr auffällig still blieb, drehte sich Irina ihrer Nichte auf dem Beifahrersitz zu.

    »Hörst du mir zu, Kleine?«

    »Muss ich?«

    Xenia ließ den Rest ihres Sandwiches in ihrem Rucksack verschwinden und gluckste.

    »Da hättest du eigentlich nach rechts gemusst.«

    »Bljad! Kannst du mir das nicht früher sagen?!«

    Irina ließ den Wagen ausrollen und drehte, über nassen Kies schlitternd, in einem kleinen Waldweg. Vielleicht sollte sie doch das Navi anschalten. Sie war die Strecke zu Xenias Internat und zurück vorher erst einmal gefahren, und eigentlich hatte sie gedacht, sie so schnell nicht wieder hinter sich bringen zu müssen.

    »Wie lange bist du da jetzt? Zwei Monate …?«

    »Drei Wochen.«

    »Drei Wochen …?«

    Irina ließ einen weiteren russischen Fluch hören, dann sah sie Xenia an, die selbstvergessen aus dem Beifahrerfenster starrte. Wieder einmal wunderte sie sich darüber, wie hübsch ihre Nichte war: hochgewachsen wie fast alle in ihrer Familie, sportlich, mit schlanken, eleganten Gliedmaßen, halblangen honigbraunen Haaren, dazu stechend blaue Augen. Gesichtszüge wie gemalt. Nicht mehr lange, dann würde sie allen Jungs oder Mädchen in ihrer Umgebung das Herz brechen.

    Oder die Beine.

    Irina hatte schon vor Jahren begonnen, Xenia in Selbstverteidigung zu unterrichten, Wing Chun, Krav Maga, alles, was man ihr selbst beim Bundeskriminalamt beigebracht hatte. Und Xenia war eine gute Schülerin. Eine zu gute Schülerin. Während sie von ihrer vorigen Schule geflogen war, weil sie den Schulcomputer gehackt hatte (die Folge einer Wette, ob sie den von einem arroganten Informatiklehrer eingerichteten Server knacken konnte, den dieser als »gymnasiales Pendant zu Fort Knox« bezeichnet hatte), hatte sie diesmal einem Mitschüler das Nasenbein gebrochen. Auch wenn dieser sie gemobbt und attackiert hatte und einen Kopf größer und doppelt so schwer war, fand es die Internatsleitung problematisch, dass Xenia ihn ansatzlos und ohne mit der Wimper zu zucken mit einem Stoß blutend auf den Boden geschickt hatte.

    Dabei hatte Xenia noch Glück, dass sie nur für eine Woche suspendiert wurde – Glück und zwei Zeuginnen, die zu ihren Gunsten ausgesagt hatten. Dennoch war sie durch diese Aktion nach gerade einmal drei Wochen auf der neuen Schule angezählt. Selbst wenn alle in Irinas Familie zusammengelegt hätten, das Internat hätten sie sich nie leisten können. Nur durch Xenias Leistungen in Mathematik und Informatik, die so überdurchschnittlich waren, dass eine Stipendienstiftung eingesprungen war, hatte es überhaupt geklappt. Dazu war es ein Wunder gewesen, dass man sich nicht scheute, einen laut Schulakten schwierigen Fall wie Xenia aufzunehmen, die seit Beginn ihrer Pubertät ein Problem mit Autorität hatte.

    Im Augenwinkel sah Irina, wie Xenia die Quelle im Infotainment-System des Autos wechselte und auf USB schaltete. Sofort dröhnten ihnen die Klänge des zweiten Albums von System of a Down entgegen. Xenia drehte die Lautstärke höher, bis Shun zu kläffen begann – im Gegensatz zu den beiden war er kein Fan von Alternative Rock, sosehr sich Irina auch bemüht hatte, ihn dafür zu begeistern. Shun war ein musikalischer Spießer: Er liebte klassische Musik, aber nur bis Brahms, alle Kompositionen danach zerknurrte er mit drohend tiefem Grummeln, das von ganz unten aus seinem siebzig Kilo schweren, anthrazitfarbenen Leib zu kommen schien.

    Xenia drehte die Musik wieder leiser.

    »Hast du eigentlich eine Idee, wie das weitergehen soll mit dir und der Schule?«

    »Ich werd immer fleißig sein und kurze Röcke tragen.«

    »Ernsthaft, Ksjuscha: Hätt’s ein Schlag in den Magen nicht auch getan?«

    »Der Hurensohn wollte mein Nasenpiercing betatschen. Er hat angefangen, Tantchen.«

    »Du sollst mich nicht Tantchen nennen.«

    »Wenn du mich nicht mehr Kleine nennst, nenn ich dich nicht mehr Tantchen.«

    »Wenn du dich nicht mehr wie eine Kleine benimmst, nenn ich dich auch nicht mehr so. Aber jetzt sitzt du in meinem verfickten Auto, ich hol dich von deinem verfickten Internat ab und chauffier dich nach Hause zu deinem ver–, zu deinem Vater. Ich nenn dich, wie ich will, klar?«

    »Zweieinhalb Mal ›verfickt‹ in einem Satz – das ist Rekord, Irischka!«

    »Und der kann noch purzeln, wenn das mit meinem Bruder und dir so weitergeht. Irgendeine Ahnung, wo sich dein Vater rumtreibt?«

    Xenia zuckte mit den Schultern. »Wenn du in Wiesbaden geblieben wärst, hättest du den Stress mit uns nicht.«

    »Ich konnte nicht beim BKA bleiben, das hab ich dir doch erzählt, Ksjuscha.«

    »Schon. Aber du hast mir nie gesagt, warum nicht.«

    »Frag deinen Vater.«

    »Ich frag aber dich.«

    Irina schwieg. Je näher sie der Küste kamen, desto mehr nahm der Regen zu. Die Scheibenwischer hatten hör- und sichtbar Mühe, die Massen von der Frontscheibe zu bekommen. Die Welt da draußen, jetzt schon ganz nahe ihrer Heimatstadt W., war eine riesenhafte graue Plörre.

    »Und jetzt machst du auf Wirtschaftsdetektivin. Ugh.«

    »Der Job ist spannender und wesentlich einträglicher, als wenn ich auf Privatdetektivin mache. Weißt du, wie viel Geld jedes Jahr durch Wirtschaftskriminali–«

    Xenia schloss die Augen

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