Entdecken Sie mehr als 1,5 Mio. Hörbücher und E-Books – Tage kostenlos

Ab $11.99/Monat nach dem Testzeitraum. Jederzeit kündbar.

Die Kunst des Pilgerns: Ein Bildungsroman
Die Kunst des Pilgerns: Ein Bildungsroman
Die Kunst des Pilgerns: Ein Bildungsroman
eBook492 Seiten5 Stunden

Die Kunst des Pilgerns: Ein Bildungsroman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Dieser Roman ist ein Bildungsroman. Er handelt von dem inneren Weg einer Frau mit Namen Susann. Diese widmet sich – getroffen von einer großen Enttäuschung – einer inneren Bewegung zwischen Zweifel und Selbstvertrauen zu. Äußerlich ist die Handlung auf dem Jakobsweg inszeniert. Auf dieser Pilgerreise begegnen Susann Personen, aus denen historische Denker und Denkerinnen im Originalton mit ihr sprechen (namhafte Philosophen, Hirnforscher und Therapeuten). Diese begegnen ihr nicht bloß, sie ist mit ihnen vielmehr eine Zeit lang unterwegs, teilt ihre eigene Geschichte mit deren Einsichten und Reflexionsanstößen, um schließlich ganz woanders anzukommen als sie erwartet hatte.

Susann erkennt auf ihrem langen Weg, dass es bloß einen Weg gibt, um sich aus schwierigen oder gar aussichtslos erscheinenden Lagen zu befreien: die Selbstveränderung. In einem mühsamen und steinigen Prozess der Klärung, erarbeitet sie sich neue Zugänge zu sich selbst und dem Menschen, den sie liebt. Damit öffnen sich neue Türen für die gemeinsame Perspektive ihrer Beziehung.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition GmbH
Erscheinungsdatum1. Okt. 2025
ISBN9783384270856
Die Kunst des Pilgerns: Ein Bildungsroman
Autor

Flora d'Lonra

Flor d'Lonra lebt als Autor und Coach in Süddeutschland. Er war viele Jahre als Forscher und Regierungsberater weltweit unterwegs. Den Jakobsweg, der in seinem Buch "Die Kunst des Pilgerns – Ein Bildungsroman" thematisiert wird, hat er selbst von Pamplona bis Santiago de Compostela bereits vor vielen Jahren erwandert.

Ähnliche Autoren

Ähnlich wie Die Kunst des Pilgerns

Ähnliche E-Books

Psychologische Literatur für Sie

Mehr anzeigen

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Die Kunst des Pilgerns

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Kunst des Pilgerns - Flora d'Lonra

    Ankunft

    28. Dezember 2019: Finisterre

    Sie saß bereits mehrere Stunden am Ende der Welt. Finisterre – so nennen die Pilger diesen Ort, der etwa 90 Kilometer westlich von Santiago de Compostela das eigentliche Ende des Jakobsweges in Galicien markiert. Auf dem Camino a Fisterra hatte sie den Weg der großen Sehnsucht fortgesetzt, nachdem sie Tage zuvor Santiago de Compostela erreicht hatte. Dort hatte sie die Weihnachtstage dazu genutzt, sich von den Strapazen des langen Weges, der nun hinter ihr lag, zu erholen. Danach war sie wieder einmal über das Ziel hinaus geschossen, dachte sie. Typisch. Das passte eigentlich zu ihr: Das Ende nicht zu Ende sein lassen, sondern weiterschreiten bis zum Rand. „Du forderst das Schicksal heraus, wenn Du immer denkst, es ginge noch weiter und es sei noch mehr drin, statt die Dinge einfach auch mal gut sein zu lassen, hatte ihr Vater oft zu ihr gesagt. „Das Lebensglück ist eine Mischkalkulation: Es gibt Dir nicht nur Milch und Honig, sondern auch Schwarzbrot und die bitteren Mandeln des Abschieds – so ein weiterer seiner Sinnsprüche.

    An diese Worte hatte Susann in den letzten Wochen häufig denken müssen. Ihr Vater war jetzt bereits seit fast fünfzehn Jahren tot. Und doch war sie noch vor mehr als einem Jahr viele Tage mit ihm gewandert. Zwischen Logrono und Santo Domingo de la Calzada hatten sie in ihrer Seelenbewegung regelrecht miteinander gestritten. Er war ihr immer noch nah, doch zugleich fremd geblieben. Es war ein Kampf zwischen Nähe und Distanz, ein innerer Kampf um ihr Eigenes, das endlich in Erscheinung treten wollte. Sie steckte immer noch voller Vorwürfe an ihren Vater. „Warum konntest Du nicht reden und erklären, was geschah?" hatte sie ihn angebrüllt. Doch er hatte geschwiegen. Es war diese Art des Schweigens, die sie voller Entbehrung und mit einer unbeschreiblichen inneren Leere zurückließ.

    „Habe ich mein ganzes bisheriges Leben nach den Antworten gesucht, die er mir nicht geben konnte?" –

    fragte sie sich als sie bei stundenlangem Regen durch die Region La Rioja gestapft war. Sie kannte die Antwort nicht. Sie wusste noch nicht einmal, wie die genauen Fragen an ihren Vater eigentlich lauteten. Sie kannte nur diese befremdliche Grundstimmung, die sie seit ihrer Kindheit begleitete und ihr das Gefühl gab, dass dies eigentlich nicht ihr Leben sei. Es war das Leben einer anderen Person, das sie lebte – so zumindest kam ihr dies bisweilen vor. Dabei war sie keineswegs gelähmt oder irgendwie außer sich. Sie wusste sich auch zu benehmen, hatte beruflich eine fast gradlinig nach oben führende Karriere absolviert und sich familiär eingebunden und verantwortlich bewegt.

    Und doch war sie auf all das, was ihr seit dem 3. November 2017 geschah, innerlich nicht wirklich vorbereitet gewesen. Nein, sie war nicht gelähmt oder außer sich. Und doch war sie seit diesem Tag viele Monate innerlich völlig entwurzelt unterwegs gewesen. Sie war lange Zeit nicht wieder bei sich selbst angekommen. Sie war auf einer Wanderung. Als ihr dies vor fast zwei Jahren schmerzlich bewusst wurde, brach sie auf.

    Die Sonne war schon fast untergegangen als Susann hörte, wie jemand ihren Namen rief. Immer noch saß sie selbstversunken auf den Granitfelsen unterhalb des Leuchtturms von Finisterre und blickte auf das Meer. „Was machst Du denn so alleine hier am Ende der Welt?", hörte sie eine bekannte Stimme fragen. Es war Paulo, der mittlerweile direkt hinter ihr stand. Mit ihm war sie nach ihrem Aufbruch vor mehr als einem Jahr in Pamplona einige Stunden Seite an Seite gewandert, hatte ihn dann aber alleine weiterziehen lassen, weil sie nur schwer mit ihm Schritt halten konnte. Er war recht dynamisch unterwegs. Paulo wollte den Tagesetappen eines mittelalterlichen Pilgerführers folgen, der ihn über tägliche Distanzen von 40 bis 50 Kilometer rascher nach Santiago de Compostela zu führen versprach. Paulo hatte es nicht wirklich eilig, wie sie zunächst vermutete. Er bekam von seinem Arbeitgeber in Rio de Janeiro bloß nicht mehr Urlaub, um den Weg der großen Sehnsucht gelassen absolvieren zu können. Innerlich jedoch war er die Ruhe selbst.

    „Der ruht ganz in sich",

    war bei ihrer Begegnung vor mehr als einem Jahr ihr erster Eindruck. Auf die in den Pilgergesprächen immer sehr früh gestellte Frage „Welcher großen Sehnsucht folgst Du? Warum machst Du denn den Jakobsweg?", verblüffte sie Paulo mit der Antwort:

    „Ich wollte endlich aufhören, mich mir selbst und anderen weiterhin zuzumuten!"

    Eine gute Weile sagten beide daraufhin nichts mehr. Susann dachte: „Ja, das ist ein gutes Motiv! Vielleicht ist dies ja auch mein Beweggrund? Doch bin ich schon so weit, das, was mich dazu bewegt, meiner Sehnsucht zu folgen, wirklich nur in mir fest zu machen? Bin ich nicht immer noch voller Schmerz, Vorwurf und Verurteilung über das, was um mich herum und in mir in den letzten Monaten zusammengebrochen ist?" Auf Paulos Gegenfrage wusste Susann deshalb damals auch nichts zu antworten.

    „Ich glaube",

    so hatte sie damals erwidert,

    „ich bin gerade erst aufgebrochen, um herauszufinden, welcher Sehnsucht ich folgen will".

    Paulo hatte gelächelt.

    „Das war bei mir auch so. Ich bin ja bereits in Saint-Jean-Pied-de-Port aufgebrochen, wie Du weißt. Erst auf dem Weg durch die Pyrenäen wurde mir mit jedem Schritt bewusster, dass ich endlich beginnen möchte, mein eigenes Leben zu leben und nicht mehr den Einflüsterungen und Erwartungen der Menschen zu folgen, denen ich bisher meine Treue hielt."

    Nach einer längeren Pause war er fortgefahren:

    „Ich bin zwar erst 55 Jahre alt. Mir ist aber klar geworden, dass es auch für mich bereits später ist, als ich denke. Mein bester Freund, Manuel, verstarb letztes Jahr, ohne dass er seiner Sehnsucht folgen konnte. Seitdem breitete sich in mir eine große innere Unsicherheit aus. Und irgendwann erkannte ich, dass ich mich innerlich fast mein gesamtes bisheriges Leben lang im Kreis bewegt hatte."

    „Pilgern ist doch eigentlich immer ein Im-Kreis gehen",

    dachte Susann. Sie sagte es aber nicht. Stattdessen rezitierte sie eine Strophe aus dem Gedicht „Über die Geduld" von Rainer Maria Rilke, das ihr auf ihrer Wanderung immer wieder eigefallen war:

    „Man muss den Dingen

    die eigene, stille

    ungestörte Entwicklung lassen,

    die tief von innen kommt

    und durch nichts gedrängt

    oder beschleunigt werden kann,

    alles ist austragen – und

    dann gebären." ¹

    „Das ist ein sehr schönes Gedicht",

    sagte Paolo nach einigen Minuten.

    „Und es drückt eine tiefe Wahrheit aus. Woher ist dies? Hast Du das gedichtet?"

    Susann antwortete:

    „Nein, so etwas könnte ich nicht. Es ist von Rilke, den mein Vater sehr verehrt hat. Von ihm habe ich den Hinweis auf diese Zeilen. Es geht um Geduld. Das ist irgendwie mein Thema."

    Paulo blickte sie fragend an:

    „Geduld? Ich dachte Dein Thema hätte etwas mit dem zu tun, was Dir widerfahren ist. Mit oder ohne Geduld Deinerseits: Es ist Dir widerfahren. Was kannst Du dafür? Wäre es nicht geschehen, wenn Du geduldiger „die eigene, stille ungestörte Entwicklung, wie es in dem Gedicht heißt, zugelassen hättest?

    „Das ist eine gute Frage",

    antwortete Susann.

    „Ich glaube irgendwie schon. Was immer Dir geschieht, Du hast es selbst in der Hand, was Du daraus für Dich machst: eine Katastrophe oder ein Lehrstück".

    Paulo blickte sie erstaunt an.

    „Ein Lehrstück?" –

    fragte er.

    „Wer hat Dich da was gelehrt? Das Leben etwa, oder hattest Du einen Meister?"

    „Einen Meister? Wer sollte das sein? Ein Lehrer? Von Lehrern habe ich so gut wie nichts gelernt, das mir wirklich geholfen hätte, mit der tiefsten Erschütterung meines Lebens zurecht zu kommen!"

    „Nein, kein Lehrer!" –

    unterbrach sie Paolo.

    Ein Meister ist nicht derjenige, der etwas lehrt, sondern jemand, der seinen Schüler dazu anregt, sein Bestes zu geben, um ein Wissen zu entdecken, das er bereits in seiner Seele trägt.² Der Meister ist also jemand, der Dich begleitet, nicht belehrt!"

    Susann schwieg lange. Gedankenversunken ruhte ihr Blick auf dem Horizont, wo gerade die letzten Sonnenstrahlen im Meer versanken, und sie fragte sich: Wer war mein Meister?

    „Joe",

    antwortete sie plötzlich unvermittelt, als Paulo schon gar nicht mehr mit einer Antwort gerechnet hatte.

    „Was meinst Du? War Joe Dein Meister?"

    „Irgendwie schon",

    antwortete Susann.

    „Er hat mich dazu inspiriert, nur meine eigenen Bilder und Eindrücke von etwas achtsam zu beobachten und niemanden sonst für diese verantwortlich zu machen als mich selber. Diese Bewegung habe ich sehr lange geübt, und schließlich hat sie mir auch geholfen, mit meinem Schicksal nicht länger zu hadern. Ich habe verstanden: Ich kann nach Ursachen im Außen suchen, Schuld zuweisen und Jahre lang über das, was mir widerfahren ist, trauern, oder ich verändere meinen Blick auf mich selbst und das Leben."

    „Das ist nicht ganz neu, aber schön schwer",

    reagierte Paulo.

    „Ich meine mich zu erinnern, dass schon die alten Griechen diesen Gedanken hatten. Der Stoiker Epiktet, der im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung lebte, vertrat die Auffassung, dass es nicht die Tatsachen seien, welche die Menschen quälten, sondern ihre Gedanken und Interpretationen über diese Tatsachen. Das ist ganz schön abgefahren, dachte ich immer. Der hat gut reden. Wahrscheinlich wurde er in seinem Leben niemals betrogen oder von grobem Unrecht heimgesucht. Erst mit den Jahren begriff ich, dass dieser Gedanke gar nicht so übel ist. Er öffnet Türen in eine andere Welt – eine Welt des Umdeutens, in welcher wir selbst die Regie übernehmen und entscheiden können, was uns wie stark betroffen macht. Ich weiß, das klingt sehr einfach, ist es aber nicht. Es ist so bequem, in der Welt der Beurteilungen und des Vorwurfs auszuharren. Aber wir bleiben dann Opfer und können niemals wir selbst werden. Es scheint auch …".

    „Das hast Du schön gesagt. Du redest ja schon selbst wie ein Stoiker",

    unterbrach ihn Susann.

    „Aber Du weißt schon, dass wir unser Leben nicht so leben können, wie wir es uns ausdenken. Immer wieder haben wir es mit unbestellten Widrigkeiten zu tun, die unsere Welt erschüttern und in Frage stellen. Du weißt ja, wovon ich rede. Als ich aus meiner Welt gestoßen wurde, war ich zunächst wie gelähmt. Ich suchte nach Gründen und Erklärungen, verurteilte diejenigen, die da rücksichtslos taten, wonach ihnen war, ohne nach mir zu fragen. Das war lange Zeit mein Gefühlszustand, und bisweilen befinde ich mich immer wieder in diesem Zustand. Die umgedeutete Welt ist fragiler als die beurteilte Welt. Das hat Dein Epiktet nicht gesagt. Bei ihm klingt das so einfach: Ändere Deine Sicht der Welt, und Dein Leben wird ein anderes. Von wegen …"

    „Ich glaube nicht, dass er dies so gemeint hat",

    reagierte Paulo.

    „Vielmehr ging es ihm bloß darum, darauf hinzuweisen, dass wir Menschen keine andere Möglichkeit haben. Wir können unsere Welt nicht nach unseren Vorlieben und Erwartungen gestalten, aber wir können darin besser werden, uns zu fragen, ob es auch noch andere Möglichkeiten gibt, die Lage zu beurteilen. Ist es nicht auch so, dass wir, wenn wir zurückblicken auf unser Leben, die wirklichen Fortschritte oft in den Phasen absolvierten, in denen wir in unseren Gewissheiten tief erschüttert wurden und nicht mehr weiterwussten?"

    Mittlerweile war es dunkel geworden und Susann begann auch zu frösteln. Die kühlen Winde, die vom Atlantik her kamen, vertrieben die angenehme Abendtemperatur.

    „Lass uns gehen!" –

    sagte Susann zu Paulo. Als sie sich erhob, musste sie daran denken, wie viele Menschen bereits auf diesen Felsen am Ende der Welt gesessen und über ihren eigenen Lebensweg nachgedacht haben – auch über ihr eigenes Ende, dem sie vielleicht näher waren als ihnen bewusst war. Sie erinnerte sich daran, gelesen zu haben, dass die Kurie in Rom dieses letzte Stück des Jakobsweges niemals wirklich anerkannt hatte. Er war ihr zu heidnisch. Denn schon die alten Kelten folgten dem Bild der Sterne bis an das Ende der Welt. Die Milchstraße leitete sie. Noch heute sprechen Einheimische von der Milchstraße, wenn sie den Jakobsweg meinen.

    Und noch ein Gedanke beschäftigte sie, während sie mit Paulo zurück nach Faro de Fisterra zurücklief: Der Heilige Jakobus, so hatte sie gelesen, war im Jahre 44 nach Christus während des Passafestes auf Geheiß von König Herodes enthauptet worden. Er war deshalb wohl niemals längere Zeit missionierend in Spanien unterwegs. Vielleicht hatten Epiktet und Paulo ja recht: Entscheidend sind nicht die Tatsachen, sondern die Meinungen über die Tatsachen. Es ist deshalb vielleicht auch gar nicht so wichtig, was ihr geschehen war und sie letztlich auf den Weg der großen Sehnsucht geführt hatte.

    „Viel wichtiger",

    so dachte sie,

    „ist doch die Art und Weise, in der ich heute über die Geschehnisse denke, an den schmerzvollen Erinnerungen nicht länger festhalte und vieles auch bereits hinter mir gelassen habe. Ich lasse mich nicht länger von den Dämonen meiner Vergangenheit beherrschen".

    Ihre Erinnerungen, ihre Gefühle und ihr Denken hatten sich während ihrer Pilgerreise stark gewandelt.

    Anfängliche Wut und Enttäuschung sowie die Suche nach Erklärungen war mehr und mehr von einem gelassenen Grundgefühl abgelöst worden. Ja, sie hatte gelernt, die Dinge, die geschehen waren, zu akzeptieren und ohne Groll loszulassen, und sie hatte auch begonnen, alles aus dem Gefühl einer großen Liebe zu sich und der Welt sowie von einer Sterbebettperspektive her neu zu beleuchten.

    „Wie werde ich dereinst, in meinen letzten Stunden, über all dies denken?" –

    fragte sie sich fast täglich. Und mit dieser Frage hatte sich ihr Lebensgefühl allmählich grundlegend gewandelt. Jeder ihrer Schritte hatte sie auf ihrer Pilgerreise mehr und mehr von alldem, was gewesen war, weggeführt und bei sich ankommen lassen. Sie hatte das Gefühl, zeitloser unterwegs zu sein. Gleichzeitig genoss sie eine neue, bislang ungekannte Verantwortlichkeit, aus der heraus sie lebte: Sie fühlte sich nicht länger als Opfer widriger Erfahrungen, sondern als Regisseurin ihrer eigenen Geschichte.

    „Es ist nicht entscheidend, was Dir widerfahren ist, viel wichtiger ist vielmehr Deine Art, das Erlebte zu spüren und zu bewerten!" –

    so lautete ihr Epiktet-Spruch.

    In einer schwierigen inneren Bewegung hatte sie es schließlich geschafft, ihre Bewertungen dessen, was ihr am 3. November 2017 geschehen war, mehr und mehr zurückzunehmen und sich auf eine andere Wirklichkeit zu fokussieren.

    Wieder in ihrem Hotelzimmer angekommen notierte Susann als Einsicht des Tages, indem sie die Praxis von Harpe Kerkeling in seinen Pilgeraufzeichnungen imitierte, in ihr eigenes Tagebuch:

    Erkenntnis des Tages: Es sind nicht die Ereignisse selbst, die uns lähmen und traurig oder gar verzweifelt sein lassen, sondern unser Blick auf diese Ereignisse.

    Zusammenbruch

    3. November 2017: Potsdam

    Es traf sie wie ein Donnerschlag. Susann kam etwas früher vom Tennis zurück. Als sie von der Garage in das Haus trat, hörte sie, wie ihr Mann telefonierte.

    „Wie schön, er telefoniert mit seinem Freund Detlef",

    dachte sie spontan. Sie freute sich, dass er in letzter Zeit wieder stärker den Kontakt zu seinem alten Freund suchte, da ihr Mann ihr in den letzten Monaten oft sehr bedrückt und auch verschlossen vorgekommen war. Sie horchte auf, als sie ihn sagen hörte:

    „Ja, das versteh ich gut, meine Süße! Schließlich willst Du ja auch nicht, dass Deine Familie und Deine Freundinnen erfahren, dass Du mit dem Mann Deiner besten Freundin schläfst. Aber jetzt haben wir schon einmal mit dieser Heuchelei begonnen, und müssen nun damit fortfahren, ob wir wollen oder nicht. Ich weiß, dass das fies ist gegenüber Susann, die immer treu an meiner Seite stand. Das hat sie wirklich nicht verdient. Aber was soll ich tun? Ich liebe sie nicht mehr, ich liebe Dich, liebste Katja. Mein Leben mit Susann war überwiegend Leiden gewesen, und schon lange verfluche ich den Tag, an dem sie mir begegnet ist".

    Katja? Susann erstarrte. Ihr Mann telefonierte mit ihrer eigenen, allerbesten Freundin. Und er verfluchte den Tag, an dem er ihr, seiner Ehefrau, begegnet sei? Sie war wie gelähmt. Das konnte doch nicht sein. Sie sank in die Knie und setzte sich auf den Boden. So wurde sie unfreiwillig Zeugin des weiteren Telefonats ihres Mannes. Sie musste mit anhören, wie dieser sagte:

    „Weißt Du, Liebste, wenn das zwischen uns sein soll, wird es auch sein. Du bist das Wundervollste, was mir je begegnet ist, und meine Liebe für Dich hat kein Aber. Ich will Dich nicht anders haben, als Du bist. Genau so, mit all deiner Vorsicht, deiner Sanftheit, deiner Weichheit liebe ich Dich".

    Susann bemerkte, wie sie zu zittern begann und wie Tränen in ihr aufstiegen. Sie griff nach ihrer Sportjacke, die sie bereits an die Garderobe gehängt hatte, nahm ihren Autoschlüssel und stürzte aus dem Haus.

    Ziellos fuhr sie umher. Gefühle und Gedanken tobten in ihr. Nach einigen Kilometern stoppte sie auf einem Parkplatz und ließ ihren Tränen freien Lauf. Alle Gewissheiten, die ihr Leben getragen hatten, verschwammen. Sie fühlte sich doppelt getroffen: Zum einen konnte sie es nicht fassen, dass ihr Mann, den sie liebte und der ihr noch vor wenigen Wochen sagte „Du bist das Geschenk meines Lebens", sie in dieser Weise verriet. Konnte es wirklich sein, dass er nach allem, was sie in ihrer gemeinsamen Zeit erlebt, aufgebaut und gestaltet hatten, den Tag verfluchte, an dem er ihr begegnet ist? Zum anderen konnte sie nicht glauben, dass ihre vertraute Freundin sie in dieser perfiden Weise hinterging. Wie konnte dies sein? Es war wie ein Albtraum für sie, und sie wusste nicht, wohin ihr Weg sie von diesem Parkplatz aus führen sollte. Heim konnte sie nicht, und sie ignorierte auch das Brummen ihres Handys, auf dem ihr Mann sie zu erreichen versuchte.

    „Wohin in meiner Panik? Wohin mit meiner Panik?"

    Susann sprach diese Frage laut vor sich hin, während sie in ihrem Auto saß. Mittlerweile war es ihr gelungen, sich selbst dabei zu beobachten, wie ihre Gedanken und Gefühle sich um ihr inneres Fragezeichen gruppierten.

    „Du musst Dich jetzt erst einmal beruhigen",

    sagte sie zu sich selbst.

    „Nach Hause kannst Du in diesem Zustand nicht. Suche Dir einen sicheren Hafen, jemandem, der Dich auffängt und mit dem Du reden kannst!"

    Lange dachte sie darüber nach, wen sie aufsuchen und wem sie sich in ihrem Zustand zumuten konnte. Schließlich entschied sie sich dafür, zunächst in ein Hotel zu gehen und sich ganz auf sich zu besinnen.

    „Ich muss die Kontrolle behalten und klug agieren!" –

    redete sie sich ein. Gleichzeitig spürte sie aber, dass in ihr kein sicherer Grund mehr vorhanden war, auf dem sie sich mit ihren aufwogenden Gefühlen und ihrer Angst bewegen konnte. Sie war entsetzt, und sie fühlte, wie ihre Felle davon schwammen, längst davon geschwommen waren. Bevor sie das Haus verlassen hatte, um mit ihrer Freundin Tennis zu spielen, hatte sie mit ihrem Mann noch über die Planungen ihres kommenden runden Geburtstages gesprochen, und er hatte vorgeschlagen, dass ihre beste Freundin, Katja, ihr eine Geburtstagsrede halten solle. Er hatte sich bereit erklärt, hierzu alles in die Wege zu leiten – eine Farce, wie sie jetzt wusste. Wie konnte er wirklich vorhaben, eine solche Farce für sie zu inszenieren?

    Sie erinnerte sich an ein kleines Hotel in der Nähe von Saarmund, in dem sie vor vielen Jahren einmal ein Wochenende verbracht hatte und beschloss spontan, dieses Hotel aufzusuchen. An den Namen erinnerte sie nicht mehr genau. „Waldhotel oder „Hotel am Wald oder ähnlich musste es heißen. Aber den Weg dorthin kannte sie noch. Es war nicht so weit. Nach elf Kilometern erreichte sie das Hotel gegen 23 Uhr, das zu ihrer großen Erleichterung auch noch ein Zimmer frei hatte. Sie checkte ein und ließ sich voller Erschöpfung auf das Bett fallen.

    In ihr drehte sich alles: Wut und Enttäuschung brandeten aus ihrer Seele heran und durchfluteten sie. Sie fühlte sich nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, wollte sich aber auch nicht einfach ihren Tränen überlassen. Deshalb beschloss sie, noch einen Rotwein aus der Minibar zu trinken und ihr Handy, das ihr dauernd den Empfang von irgendwelchen WhatsApps und versuchten Anrufen ihres Mannes anzeigte, auf lautlos zu schalten.

    Sie konnte und wollte nicht mit ihm reden. Nach allem, was sie belauscht hatte, waren ihr Vertrauen und ihre Vertrautheit vollkommen zerstört. Sie fühlte sich innerlich ausgestoßen, unendlich heimatlos und grenzenlos ungeborgen.

    Bevor sie ihrer Erschöpfung endlich nachgab und sich zum Schlafen legte, schrieb sie ihrem Mann noch eine WhatsApp mit folgendem Wortlaut:

    „Ich weiß von Deinem ungeheuerlichen Verrat und dem Doppelspiel mit meiner Freundin. Lass mich in Ruhe, ich möchte nichts mehr von Dir hören und werde mein Handy jetzt ausschalten!"

    Sie war erleichtert, als sie auf „Senden" geklickt hatte und ihr Handy ganz ausschaltete.

    In dieser ersten Nacht der Ernüchterung fiel sie in einen tiefen, aber gleichwohl unruhigen Schlaf. Als sie am nächsten Morgen erwachte, kam ihr alles unwirklich und falsch vor. Die Versuchung war groß, wieder nach Hause zu fahren und einfach so weiter zu machen, wie bisher. Sie wusste, dass dies nicht mehr möglich war. Wie konnte sie ihrem Mann jemals wieder vertrauen. Was würde er ihr sagen? Wie hatte er sich bereits entschieden? Was war bereits seit Langem hinter ihrem Rücken vereinbart worden? Absolute Wehrlosigkeit war das Gefühl, das sie durchströmte.

    „Du darfst Dich nicht als Opfer fühlen!"

    Dieser Satz begleitete sie als inneres Mantra, während sie schlief und seltsame Traumlandschaften durchstreifte.

    Sie beobachtete sich dabei, wie sie mit ihrem Mann ein neues Haus kaufte. Erst nachdem sie den Kaufvertrag bereits unterschrieben hatten, erkannte sie, dass hinter der Mauer, welche das Grundstück nach Norden abgrenzte, ein reißender Fluss verlief. Dieser wurde nur durch die Mauer davon abgehalten, auch ihr neu erworbenes Anwesen zu überfluten. In ihm trieben Fußgänger, die erschrocken aufblickten als sie bemerkten, in was sie da hineingeraten waren. Susann beschloss, diesen Fluss zu ignorieren und sich bloß der Idylle von Haus und Garten zu widmen. Gleichzeitig spürte sie ganz deutlich, dass dieses Ausblenden der lauernden Gefahr eigentlich gar nicht möglich ist: zu unvereinbar waren die Gegensätze der Bilder diesseits und jenseits der Mauer: Hier das wohlige Gefühl der Geborgenheit und eines selbstverständlichen Wohnens in der Liebe, dort die Bedrohung einer alles wegspülenden Dynamik.

    „Wie passend",

    dachte sie, als sie im Erwachen diesen Bildern nachspürte.

    „Es wird niemals wieder so werden können, wie es gewesen ist",

    war ein Gedanke, der sie ansprang, abgelöst von einem zweiten, der lautete:

    „Nur mit ihm habe ich diese tiefe Verbundenheit jemals gelebt, weshalb es ihm doch gar nicht möglich sein kann, dies alles wegzuwerfen. Es muss eine Kraft in seiner Seele sein, die das gefährdet, was auch ihm lieb und teuer ist. Dafür kann er doch nichts. Diese Kraft hat ihn fortgerissen! Er wird sich schon besinnen."

    Aufbruch

    15. April 2018: Roncesvalles

    Seit November 2017 hatte sich viel getan im Leben von Susann. Die Untreue ihres Mannes und der Verrat ihrer Freundin hatten ihr monatelang zugesetzt. Nur ganz allmählich linderten sich ihre Seelenqualen, und sie blickte nüchtern auf die Gegebenheiten. Dabei schien ihr die Lage gar nicht so eindeutig, wie sie zu Anfang befürchtet hatte. Es gab auch Wiederannäherungen ihres Mannes, allerdings immer wieder gefolgt von stundenlangen nächtlichen Telefonaten zwischen ihm und Katja – ein Wechselbad der Gefühle, dem sich Susann im April 2018 endlich zu entziehen vermochte.

    Es war wirklich genug. Ihr Mann versuchte seit Monaten beides gleichzeitig zu haben: Sie als seine vertraute Partnerin und gleichzeitig eine intensive Gesprächs- und Liebesbeziehung mit Katja. Sie wusste auch, dass er dabei beide Seiten dreist belog. Ihr erzählte er, dass er sich von ihr einfach nicht abwenden könne und oft voller Liebe ihr Hochzeitsvideo auf seinem Laptop ansehe und dabei immer wieder seinen Ehering berühre, Katja erzählte er, dass er noch einige Zeit benötige, dabei aber jeder Schritt, den er unternähme für sie beide und ihre gemeinsame Zukunft sei.

    „Weißt Du, mein Schatz",

    hörte sie ihn mitten in der Nacht in sein Handy flüstern,

    „wenn wir erst unser Haus in Italien haben werden, dann musst Du aber auch Italienisch lernen. Du hast eine so gute Aussprache: viel besser als meine Frau mit ihrem stark deutschen Akzent".

    Und sie belauschte auch ein Telefongespräch, bei dem er sagte:

    „Du fehlst mir so sehr. Ich würde jetzt so gerne mit Dir schlafen!"

    Da endlich wusste sie, dass seine Erklärung, er pflege bloß eine wirkliche Seelenbegegnung mit ihrer Freundin Katja, eine Lüge war. Sie beschloss, weit weg zu fahren und ihre Seele auf dem Jakobsweg zur Ruhe kommen zu lassen.

    Für die ersten Etappen diese Pilgerreise hatte sie sich einige Tage im April 2018 reserviert. Mit dem Flugzeug ging es zunächst von Berlin nach Bilbao. Von dort nahm Susann den Zug nach Saint-Jean-Piet-de-Port, einem Ort mit etwa 1.500 Einwohnern im französischen Baskenland. Der Name dieses Ortes, in dem der französische Jakobsweg Via Podiensis endet und der Camino Navarro beginnt, bedeutet so viel wie „Heiliger Johann am Fuß des Passes". Gemeint ist der Ibaneta-Pass, der auf 1056 Metern über die Pyrenäen nach Spanien führt und bereits von Karl dem Großen im Jahre 778 auf seinem Spanien-Feldzug genutzt wurde.

    Auch die Rolandssage spielt in dieser Region. Roland, der die Nachhut des Heeres von Kaiser Karl befehligte, geriet bei Roncesvalles in einen Hinterhalt der islamischen Sarazenen. Bevor seine Truppe vollständig zerrieben wurde, wobei Roland selbst den Tod fand, soll er in sein Signalhorn Olifant geblasen haben, um das bereits über die Pyrenäen abgezogene Heer zur Hilfe zu rufen. Dabei soll er so heftig in sein Horn gestoßen haben, dass dieses zwar zersprang, aber Kaiser Karl das Signal auf der anderen Seite der Bergeketten vernommen habe.

    „Welche unglaubliche Geschichte",

    dachte Susann, als sie völlig erschöpft in Roncesvalles eintraf. Den ersten Tagesmarsch mit 31 Kilometern hatte sie erfolgreich hinter sich gebracht. Müde erreichte sie das Augustinerkloster, in dessen Nähe sich das Pilgerhospiz befindet. Nachdem sie ihr Bett bezogen hatte, setze sie sich noch an den Holztisch vor dem Refugio, an dem bereits andere Wanderer saßen und ihr Abendbrot einnahmen.

    „Na, Du siehst aber müde aus",

    sprach sie ein junger Mann auf Englisch an.

    „Willst Du auch einen Rotwein? Ich bin Marc aus Italien. Erzähl doch mal: Was ist Deine Sehnsucht?"

    Da war sie, diese allgegenwärtige Frage nach dem Motiv der eigenen Pilgerreise.

    „Oh, das ist eine lange Geschichte",

    antwortete Susann zurückhaltend. Sie wollte sich jetzt nicht so grundsätzlich äußern. Und schon gar nicht vor Menschen, die ihr fremd waren.

    „Ja, wir haben alle solche langen Geschichten",

    sagte Marc.

    „Keiner will und muss sie erzählen. Schließlich suchen wir ja alle auf unsere eigene Weise. Aber man kann als Pilger besser ausschreiten, wenn man dabei stärker an das denkt, was man hat, als an das, was einem fehlt!" ³

    Diese unerwartete Substanz in einer Smalltalk-Situation verblüffte Susann, und sie wollte schon etwas Ausweichendes entgegnen, als Marc fortfuhr:

    „Ja, so sind wir, die Pilger: Immer direkt und niemals oberflächlich. Wir blicken einander direkt ins Herz, und bei Dir glaube ich zu sehen, dass Du vor etwas wegläufst und noch nicht richtig weißt, wonach Du suchen möchtest."

    „Ja, das mag sein", dachte Susann.

    „Woher weiß der das bloß? Bin ich auch für die anderen wie ein offenes Buch?"

    „Mach Dir nichts draus. Suche erst von den Dingen, die Du hast, die besten aus und bedenke dann, wie eifrig Du nach ihnen gesucht haben würdest, wenn Du sie nicht hättest! ⁴ Das geht ganz einfach. Wenn Du stattdessen während Deines Weges bloß auf das Verlorene blickst und diesem nachtrauerst, dann kommst Du in Santiago de Compostela ärmer an, als Du heute losgelaufen bist! Lass Dir das von einem erfahrenen Pilger gesagt sein!"

    „Wieso, Du bist doch auch erst gerade losgelaufen, oder?" entgegnete Susann leicht verblüfft.

    „Nein, ich bin zwar auch heute in Saint-Jean-Piet-de-Port gestartet, da hast Du Recht, aber ich mache den Jakobsweg bereits zum dritten Mal. Und eigentlich ist es so, dass mein ganzes Leben seit Längerem zu einer Pilgerreise geworden ist!"

    „Nun spuck mal nicht so große Töne, Marc. Lass doch unseren Gast erst einmal zur Ruhe kommen",

    mischte sich eine junge Frau ein, die neben Susann auf der Holzbank saß und sich lässig eine Zigarette drehte. Susann lächelte sie dankbar an. Ja, sie hatte sich von der unerwarteten Direktheit, mit der Marc sie angesprochen hatte, etwas überrumpelt gefühlt. Gleichzeitig hatten seine Worte sie nachdenklich gestimmt. Er hatte Recht. Sie war auf dem langen Weg, den sie heute zurückgelegt hatte, überwiegend mit schmerzlichen Gefühlen über ihren Verlust und den doppelten Verrat, dessen Opfer sie geworden war, unterwegs gewesen. Die Frage nach den Dingen, die sie hat, hatte sie sich nicht gestellt. Während sich nun der Fokus der Aufmerksamkeit von ihr weg verlagerte und sich das Gespräch am Tisch in ein leichtes Geplauder wandelte, bohrte in ihr die Frage „Was sind die guten Dinge, die Du hast?" Irgendwann am späteren Abend stand sie auf und verschwand in der Pilgerherberge. Bevor sie sich zu Bett begab, schrieb sie in ihr Sehnsuchtsbuch:

    Erkenntnis des Tages: Das ganze Leben ist eine Pilgerreise!

    16. April 2018: Pamplona

    Susann war früh aufgestanden. Sie hatte sich vorgenommen, an diesem Tag bis Pamplona zu gelangen. Dies war zwar eine weite Strecke, aber sie hatte ja die Wochen zuvor trainiert und würde die über 40 Kilometer schon irgendwie schaffen. Als sie gerade los marschieren wollte, trat Marc aus der Tür der Herberge und blickte sie herausfordernd an.

    „Ach, da haben wir ja noch eine Frühaufsteherin. Willst Du heute auch bis Pamplona gelangen?" –

    fragte er sie lächelnd.

    „Na dann nichts wie los, ist ja schon ´ne ordentliche Strecke".

    Schweigend liefen sie miteinander los. Eigentlich wollte Susann lieber alleine laufen. Es gab so viel in ihrer Seele zu sortieren. Auch der Traum, der sie vor einigen Tagen so aufgewühlt hatte, rumorte noch in ihr und ließ sie einfach nicht los. Sie fragte sich, was dieser Traum ihr sagen wollte. Wollte er sie warnen? Wollte er ihr zeigen, dass sie zwar mit ihrem Mann irgendwann neu anfangen könne, dass aber alles unsicher und im Fluss sei – ein Fluss, der sie zu verschlingen drohte? Irgendwie spürte Marc ihr Bedürfnis, mit sich zu sein, weshalb er sie nicht ansprach, sondern still

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1