Meeresforschungen: Ein Frauenroman auf einem Bauernhof an der Nordsee – im Jahr 1947
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Über dieses E-Book
Nach dem Krieg flieht Anna Margarete Schrader, Ende zwanzig, aus dem zerstörten München nach Schleswig-Holstein. Sie findet Zuflucht auf einem abgelegenen Hof an der Nordseeküste, den die Altbäuerin Ida mit ihrer Schwiegertochter Frauke bewirtschaftet.
Zwischen den zwei Frauen herrscht ein stiller Kampf: Wer bestimmt auf dem Hof? Wer entscheidet über das Kind? Sie beide warten auf Paul – Idas Sohn, Fraukes Mann –, der noch in Kriegsgefangenschaft ist. Der Städterin begegnen sie distanziert.
In wachsender Einsamkeit, verstärkt durch die karge nördliche Landschaft und die Kälte der Bäuerinnen, stellt Anna sich dem, was sie hinter sich gelassen hat. Nur Irene, die Tochter der Jungbäuerin, durchbricht ihre Stille. Das Kind sucht Kontakt und schließt sich Anna immer öfter an. Schließlich entwickeln sie eine gemeinsame Leidenschaft: Sie lesen Bücher aus der Husumer Städtischen Bücherei – über die Geheimnisse der Tiefsee und die abenteuerliche Welt der Meere.
Allmählich gehen auch die Bäuerinnen auf den Hausgast zu, gemeinsam wirtschaften sie auf dem Hof, das Leben wird leichter.
Doch dann stellt die Rückkehr Pauls die Frauen brutal auf die Probe. Krieg und Gefangenschaft haben ihn verändert. Seine Heimkehr bringt keine Erleichterung, sondern Kontrolle und Gewalt. Er verlangt Gehorsam. Von dem Kind, das ihn nicht kennt. Von den Frauen, die ihn nicht mehr brauchen.
Es ist die Geschichte von Frauen. Eine Geschichte vom Aushalten und Aushandeln. Vom Weitergeben und Verschweigen. Von Schicksalsschlägen, Unterordnung und weiblicher Solidarität. Sie ringen um Würde, Nähe, Selbstbestimmung – und bleiben zugleich verstrickt im Ungesagten: in Trauer, Bitterkeit, Ohnmacht.
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Die Autorin Ami Tan (Das Kurtisanenhaus) sprach in einem Zeit-Interview einmal von der blinden Tragödie über die Generationen in ihrer Familie, durch die Schändung der Oma. In diesem Roman ist es erfahrene Ohnmacht, die die Frauen prägt. Durch die Begegnung der Bäuerinnen und der Städterin entsteht ein Raum, in dem Befreiung möglich erscheint.
Dorothee Schröder
Dorothee Schröder hat Germanistik und Philosophie studiert. Seit vielen Jahren arbeitet sie als Storytellerin, Autorin und Schreibmentorin. Sie hat bis heute die Romane 'Wagenburg.Familienroman' und 'Meeresforschungen' publiziert. Die gebürtige Hamburgerin lebt mit ihrem Mann in Süddeutschland.
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Buchvorschau
Meeresforschungen - Dorothee Schröder
Vorspann
Annas Verstrickung
I
Herrmann bezeichnete sie in den ersten Wochen als ganz entzückenden Fall von Wehrkraftzersetzung. Anna zog sich vor ihm aus. Er wurde sofort rot im Gesicht, wenn man ihm widersprach. Alle im Haus des Offiziers orientierten sich an seiner Gesichtsfarbe. Nur die Tochter des Gärtners, sie spielte gerne auf den Wegen im Garten, war regelmäßig im Weg, regelmäßig scheuchte er sie fort. Doch sie wich nicht zurück, sie schrie wie am Spieß. Eines Tages war die Kleine fort. Wo ist das Kind? Welches Kind? In den Tagen darauf ging sie durch das stille Haus, die Angestellten wichen ihr aus, niemand sprach, keiner sah sie an. Die ganze Familie des Gärtners war fort, sie wusste nicht einmal, wer und woher sie waren. Im Garten welkten die Blumen, vor den Rosen bildete sich ein Teppich aus Blättern, vertrocknenden Gelb-, Braun-, Rottönen. Sie lief einmal darüber, als schreite sie über ein Grab. An jenem Abend zog sie sich vor ihm aus. Er nahm ihr Kinn in die Hand, sah ihr schwer entzifferbar in die Augen. Dein Bedürfnis, mich zu hassen. Du bist ein Schwein. Er verschmierte den roten Lippenstift mit seinem Daumen auf ihrem Gesicht. Das war seine Art, sich mitzuteilen. Ich werde gehen. Er antwortete nicht, lehnte in dem Stuhl in seinem Ordonanzzimmer, leicht im Hohlkreuz, sein Bauch wölbte sich autoritär vor.
Sie ist spät geflohen. Floh seit dem Tag, an dem sie angekommen war.
Du hast erst kurz vor Schluss die Seiten gewechselt, sagen s i e.
Sie ist verrückt, sagt Herrmann.
Sie weiß nicht, ob er sie damit schützen oder strafen oder sich selbst schützen will, eine Zeugin zur Unzeugin machen.
Sie hat ihn sofort geliebt. Herrmann las Hegel, lange vor der Versetzung hinter die Front. Ihn faszinierte der Gedanke, dass der Weltgeist im Menschen zu sich selber kommt. Wir sind nur das Instrument der Welt, Anna, um sich selbst in das Antlitz zu blicken. Ihn faszinierte der Sinn darin, die innige Verschlungenheit seines Lebens mit der Existenz des Planeten, die Sehnsucht der Erde nach sich selbst.
Er sah in den Deutschen das Vermögen zur Intelligenz, um den neuartigen Menschen zu schaffen. Für Anna hatte jede Seele ein eigenes, persönliches Schicksal. Wir leben, Herrmann, weil sich etwas im Spiegel unseres gewordenen Lebens begegnen will, in aller Klarheit, aller Schärfe.
Er verehrte Wagner für die unerträgliche Süße mancher Töne, in denen die Sehnsucht sich in die Unendlichkeit erhob. Sie liebte große, glückliche Familien. Sie hat Familien bei ihrer Vernichtung zugesehen. Sie schreit, schreit, neeein!
Gnädige Nacht.
Anna wacht auf. Die Reihe weißer Betten. Weiße Wände. Unartikuliertes Schreien. Sie blickt an sich hinunter, ein flacher Umriss unter dem weißen Laken. Sie blinzelt. Auch über ihr Weiß, mit den Augen wandert sie über die Decke, mustert reglos eine Naht in der Verschalung. Sie heult auf, als s i e sie packen und unter der weißen Jacke nackt einen Flur entlangschleifen.
Woher sie kommt, hat sie vergessen.
Das gefräßige Tier, mächtiger Besitzwille.
Sie spürt es, mehr weiß sie nicht.
Es wird sie überschwemmen.
Sie gibt die dramatische Frau, Medea, der Name fällt ihr ein. Die Schwärze der Nacht, aus der schwarze Verzweiflung steigt, Scham, die schon die Mütter bedeckte. Aber sie trägt die Scham auch ab, schreit wie am Spieß. Während die Bilder kommen.
Langsam erkennt sie das Gefüge. Scham als Schicht, die an ihr klebt, weil sie ihr eigenes Schicksal wollte. Aber es war nur neue Unterordnung, und das Sehen dessen, was kein Kind je sehen durfte. Das Knebelband der Scham, sie ahnt es in Momenten, das Würgeband der Schuld, man wird ihr die Schandmaske aufsetzen.
Wer seid ihr? Ihr seid mir fremd! Um sich schlagend, löst sie alles auf.
Als sie wieder zu sich kommt, ist ein anderer bei ihr. Er ist jung, ein Arzt in Uniform. Es ging Ihnen nicht gut, hier sind Sie gut aufgehoben, Sie sind hier in einem amerikanischen Hospital, erklärt er ihr. Seine Wörter wollen Nebel durchdringen.
Sie waren Lagerärztin, sagen s i e. Aber das stimmte nicht. Sie wollte Schulärztin werden, wusste nicht, dass es jene Orte gab, wo der Atem gefror. Schon in Leipzig die halbtoten Kinder, sie sind unter ihren Händen gestorben.
Wovon sprechen Sie, fragen s i e. Sie verstummt.
Herrmann war doch ihr Ausweg, er war in einem Lager stationiert. Beim Abschied beschwor er die Zukunft im Krieg, in der sie verbunden blieben, er kniete vor ihr, küsste ihre Hände, schmiegte sich in ihren Schoss. Sie ist ohne Erlaubnis zu ihm gefahren, wusste nicht, wohin es ging. Sie alle wussten nicht, Leipzig tanzte doch auf einem Vulkan. Es fällt ihr schwer, das Wort Lager zu denken.
Ihr Name ist Odde. Die Pflegerin kommt jeden Tag in ihrem weißen Kittel, ihr großes weißes Gesicht leuchtend, eine Ausnahmeerscheinung. Alle im Saal warten auf sie, sie fasst die Patienten an, auch jene, die sich eingekotet haben. Odde lacht, wie nur eine Frau lachen kann. Sie ist anders, ist da, um zu helfen, zu retten.
Benimm dich, sag nichts, sagt Herrmann, dann bist du hier bald raus.
Doch es ist die Hand Oddes, die sie zum Gehen schubst. Ich schaffe es nicht. Doch sie geht, wieder geht sie. Ich lege ein Geständnis ab, sagt sie dem jungen Arzt. Sie wird nicht angeklagt, sondern aus der Anstalt entlassen.
1
Der Hof der Frauen
I
München im Schnee liegt hinter ihr. Der Zug schleicht durch eine Ebene voller Schutt, durch schmutzig weiße Landstriche. Das Stehen an dem Übergang in die englische Besatzungszone, zerlumpte Menschen klettern von Waggondächern, quellen aus den übervollen Gängen und Abteilen, vertreten sich bei eisigen Temperaturen stampfend die Beine. Der Kampf um einen Platz in oder auf dem Zug. Nach vier Tagen die Fahrt über die Elbe mit der Fähre, die Brücke liegt in Trümmern im Fluss. Sie geht stundenlang durch das zerstörte Hamburg, vorbei an in ordentlichen Reihen aufgeschichteten Trümmern, eilenden, trödelnden, verloren stehenden Menschen, die Nacht kommt. Endlich Hamburg-Altona, der Bahnhof. Sie durchirrt ihn auf der Suche nach einer Verbindung Richtung Husum. Auch er ist überfüllt, die Menschen lagern in der Wartehalle auf dem Boden, auf den Gängen, auf den Bahnsteigen, an den leeren Gleisen, in den Trümmern rund um das notdürftig hergerichtete Gebäude. Sie findet einen Platz in der Nähe des Gleises, von dem ihr Zug fahren soll. Am Morgen lautes Gedränge, die Leute halten Namensschilder und Fotos hoch, sprechen, rufen durcheinander, ein Zug soll Heimkehrer aus Friedland bringen. Sie steht eingekeilt zwischen den Mänteln, den Ellbogen und Pappkoffern, zwischen Hungergesichtern, sie will nur fort, fort zu der Bahn, die sie weiter nach Norden bringt.
Endlich ruckt der Zug und fährt
