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Die Wikinger von Island: Verratene Treue
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Die Wikinger von Island: Verratene Treue
eBook490 Seiten

Die Wikinger von Island: Verratene Treue

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Über dieses E-Book

Geschworene Treue geht über alle anderen Bande hinaus.

Als der junge Kjell seinem Jarl die Treue schwören soll, ist er hin- und hergerissen. Einerseits wünscht er sich nichts sehnlicher, als endlich ein richtiger Krieger zu werden und wie die anderen Wikinger in die Schlacht zu ziehen, Ruhm und Ehre zu erlangen. Andererseits ist er der Sohn des Fischers und fühlt sich seinem Vater verpflichtet. Als der Tag der Entscheidung naht, verlässt sich Kjell auf seine Kunst, mit Worten umzugehen, und schlägt dem Oberhaupt des Dorfes einen Pakt vor: Er wird an seiner Seite einen Sommer lang ins Gefecht ziehen und sich seinen Platz unter den Kriegern verdienen. Sollte er die Erwartungen des Jarls dabei nicht erfüllen, wird er für immer ein Fischer bleiben. Er ahnt nicht, dass dieser Schwur sein Verderben werden könnte. Denn der nächste Feldzug gilt ausgerechnet dem Nachbardorf, wo Kjell vor Kurzem einer jungen Wikingerin begegnet ist, die ihm nicht mehr aus dem Kopf geht. Wird er es schaffen, sowohl sie zu retten als auch seinen Treueschwur zu halten? Und wie grausam könnte die Rache eines Jarls ausfallen, wenn dieser sich hintergangen fühlt?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum13. Okt. 2023
ISBN9783038962823
Die Wikinger von Island: Verratene Treue

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    Buchvorschau

    Die Wikinger von Island - Smilla Johansson

    Inhaltsverzeichnis

    Titel

    Informationen zum Buch

    Impressum

    Widmung

    Prolog

    Teil 1 - DER JUNGE

    Kapitel 1 - KJELL

    Kapitel 2 - KJELL

    Kapitel 3 - KJELL

    Kapitel 4 - HLÍFA

    Kapitel 5 - KJELL

    Kapitel 6 - KJELL

    Kapitel 7 - HLÍFA

    Kapitel 8 - KJELL

    Kapitel 9 - KJELL

    Kapitel 10 - KJELL

    Kapitel 11 - KJELL

    Teil 2 - DER BESCHÜTZER

    Kapitel 12 - KJELL

    Kapitel 13 - HLÍFA

    Kapitel 14 - KJELL

    Kapitel 15 - KJELL

    Kapitel 16 - KJELL

    Kapitel 17 - OLVIR

    Kapitel 18 - HLÍFA

    Kapitel 19 - KJELL

    Kapitel 20 - KJELL

    Kapitel 21 - HLÍFA

    Kapitel 22 - KJELL

    Kapitel 23 - OLVIR

    Kapitel 24 - HLÍFA

    Kapitel 25 - KJELL

    Kapitel 26 - HLÍFA

    Kapitel 27 - KJELL

    Kapitel 28 - OLVIR

    Kapitel 29 - KJELL

    Kapitel 30 - KJELL

    Kapitel 31 - HLÍFA

    Kapitel 32 - KJELL

    Kapitel 33 - KJELL

    Kapitel 34 - KJELL

    Teil 3 - DER VERRÄTER

    Kapitel 35 - KJELL

    Kapitel 36 - OLVIR

    Kapitel 37 - KJELL

    Kapitel 38 - KJELL

    Kapitel 39 - FINNBOGI

    Kapitel 40 - KJELL

    Epilog

    Nachwort

    Glossar

    Smilla Johansson

    Die Wikinger von Island

    Verratene Treue

    Fantasy

    Die Wikinger von Vinland (Band 3): Umkämpfte Freiheit

    Geschworene Treue geht über alle anderen Bande hinaus.

    Als der junge Kjell seinem Jarl die Treue schwören soll, ist er hin- und hergerissen. Einerseits wünscht er sich nichts sehnlicher, als endlich ein richtiger Krieger zu werden und wie die anderen Wikinger in die Schlacht zu ziehen, Ruhm und Ehre zu erlangen. Andererseits ist er der Sohn des Fischers und fühlt sich seinem Vater verpflichtet. Als der Tag der Entscheidung naht, verlässt sich Kjell auf seine Kunst, mit Worten umzugehen, und schlägt dem Oberhaupt des Dorfes einen Pakt vor: Er wird an seiner Seite einen Sommer lang ins Gefecht ziehen und sich seinen Platz unter den Kriegern verdienen. Sollte er die Erwartungen des Jarls dabei nicht erfüllen, wird er für immer ein Fischer bleiben. Er ahnt nicht, dass dieser Schwur sein Verderben werden könnte. Denn der nächste Feldzug gilt ausgerechnet dem Nachbardorf, wo Kjell vor Kurzem einer jungen Wikingerin begegnet ist, die ihm nicht mehr aus dem Kopf geht. Wird er es schaffen, sowohl sie zu retten als auch seinen Treueschwur zu halten? Und wie grausam könnte die Rache eines Jarls ausfallen, wenn dieser sich hintergangen fühlt?

    Die Autorin

    Smilla Johansson, Jahrgang 1998, lebt mit ihrer Familie in der kleinen Stadt Bocholt an der niederländischen Grenze. Benannt nach der bekannten Ermittlerin aus Peter Høegs Kriminalroman Fräulein Smillas Gespür für Schnee hatte sie kaum eine andere Wahl, als sich in der Welt der Bücher zuhause zu fühlen. Ein besonderes Faible hat sie für historische Romane, Fantasy aller Art und Krimis.

    www.sternensand-verlag.ch

    info@sternensand-verlag.ch

    1. Auflage, Oktober 2023

    © Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2023

    Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski

    Lektorat / Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH | Wolma Krefting

    Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH

    Satz: Sternensand Verlag GmbH

    ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-281-6

    ISBN (epub): 978-3-03896-282-3

    Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

    Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

    Für all die Lieben, die nicht mehr bei uns sind.

    Ihr seid niemals vergessen

    Prolog

    Húsavík, Island, im Jahr 1006 n. Chr.

    Grelle Blitze erhellten den schwarzen Nachthimmel und ohrenbetäubend laut grollte der Donner durch die Wolken. Thór ließ die Menschen erneut seine Wut spüren und schlug kräftig mit Mjölnir auf den Amboss. Der eiskalte Regen, der sich mittlerweile schon zu kleinen Kugeln geformt hatte, prasselte auf die wenigen Männer hinab, die es trotz des Sturms vor die Tür getrieben hatte.

    Der fremde Jarl zog sich die Kapuze seines Umhangs noch tiefer ins Gesicht und hielt sich so nah wie möglich an den Hauswänden, während er seinen Weg durch das Dorf fortsetzte.

    In den letzten Jahren, die er fern von dieser rauen Küste verbracht hatte, hatte er beinahe vergessen, wie grausam der Winter im Eisigen Land sein konnte. Dennoch gab es einen guten Grund für seine Rückkehr. So hoffte er zumindest. Für gewöhnlich konnte er sich auf seinen Thane verlassen, aber bei der Aufgabe, die er ihm nun übertragen hatte, schienen die Götter höchstselbst ihm die größten Steine in den Weg gelegt zu haben.

    Wie sonst war es zu erklären, dass er immer noch auf einem irrigen Pfad wandelte? Nach fünf Jahren immer noch vergeblich suchte?

    »Verfluchtes Weib«, grummelte er bei dem Gedanken an jene Frau, die ihm diesen Schlamassel eingebrockt hatte. Wenn dies jedoch die Geduldsprüfung darstellte, die ihm die Götter auferlegt hatten, würde er nicht nachgeben, bis er sein Ziel erreicht hatte. Bis er fand, wonach er suchte. Das war er seinem Bruder schuldig. Sie würden ihre Rache bekommen.

    Triefend nass und durchgefroren erreichte er das Langhaus von Jarl Harbard, der ihnen die Gastfreundschaft erwies und für die Zeit ihres Aufenthalts im Eisigen Land Obdach gewährte.

    Er stieß die Tür auf und ging schnell ins Gebäude hinein, das ihn mit warmer, nach Speis und Trank duftender Luft empfing. Das Feuer prasselte in der Mitte der Halle, war aber kaum zu sehen, da so viele Menschen sich darum drängten. Ganz Húsavík schien sich an diesem Abend hier versammelt zu haben.

    Es kümmerte ihn jedoch nicht. Eigentlich war ihm der Trubel sogar ganz recht, so konnte er sich wenigstens in Ruhe mit seinem Gefolgsmann austauschen, ohne auf lauschende Ohren achten zu müssen.

    Er zog sich die nasse Kapuze vom Kopf und bahnte sich auf der Suche nach seinem Krieger langsam einen Weg durch den Raum.

    An einem Tisch, versteckt am anderen Ende der Halle, fand er ihn schließlich und ließ sich ächzend auf die Bank ihm gegenüber fallen. Sein Thane sah auf und als er seinen Herrn erkannte, langte er sogleich nach einem vollen Krug Met, den er schon bereitgestellt hatte. Dankend nahm der Jarl das Getränk entgegen, leerte es bis zur Hälfte in einem Zug und setzte das Gefäß hart auf dem Tisch ab.

    »Ich hoffe, du bringst gute Neuigkeiten, Tjörvi.«

    Für einen Moment hielt der Thane dem Blick seines Herrn stand, dann senkte er missmutig den Kopf. »Ich fürchte, ich muss Euch erneut vertrösten, mein Jarl«, gestand er leise, was allerdings nur den Zorn seines Gegenübers schürte.

    »Pah! Vertrösten? Dass ich nicht lache. Enttäuschen ist wohl eher, was du sagen wolltest.« Verächtlich spuckte er zur Seite aus und beugte sich weiter über den Tisch. »Warum hast du mich überhaupt herkommen lassen, wenn du doch nur mit leeren Händen dastehst?«

    Tjörvi schluckte hart. Schweiß stand ihm auf der Stirn, und dem Jarl entging nicht, wie dessen Blick panisch zu den Männern huschte, die ein paar Bänke weiter saßen und bereits misstrauisch zu ihnen hinübersahen.

    Der Jarl grinste süffisant, als er das Unbehagen Tjörvis bemerkte. Gut so. Er sollte ruhig mitbekommen, dass seine Geduld allmählich erschöpft war.

    »Wie schwer kann es wohl sein, einen flüchtigen Verräter zu finden? Vor allem, wenn er ein plärrendes Balg mit sich herumschleppt?«, zischte er und hieb mit der Faust auf den Tisch.

    »Mein Herr …«, stotterte Tjörvi und wich ein Stück vor dem Zorn seines Jarls zurück. »Ich schwöre bei Oðin, ich war mir sicher, ihn hier gefunden zu haben, aber …«

    »Was?«

    »Er muss unsere Verfolgung wohl bemerkt haben.« Sämtliche Kälte, die der Sturm in den Körper des Jarls getrieben hatte, verschwand schlagartig, als die Worte seines Thane an seine Ohren drang. Hitze wallte in ihm auf und als er nun sprach, zitterte seine Stimme merklich vor unterdrückter Wut. »Falsch! Er hätte es nicht bemerkt, würdest du einmal das tun, was ich dir sage! Fünf Winter warte ich nun schon, dass irgendeiner von euch jämmerlichen Kreaturen mir bringt, wonach ich verlange.«

    Langsam zog der Jarl seine Arme vom Tisch zurück und lehnte sich lässig auf der Bank nach hinten, wobei sein Blick allerdings unentwegt seinen Thane fixierte. Nur mit einer enormen Portion Selbstbeherrschung gelang es ihm, seiner Stimme wieder einen ruhigen, obgleich nicht weniger drohenden Ton zu verpassen.

    »Vielleicht ist es an der Zeit, dass du in die Fußstapfen deines Vorgängers trittst, Tjörvi, und das Feld einem Mann überlässt, der mich nicht so maßlos enttäuschen wird. Du weißt noch, was mit Einar passiert ist, oder soll ich dich daran erinnern?«

    Provozierend langsam nahm der Jarl seine Axt vom Gürtel und legte sie auf den Tisch zwischen sie.

    Die Augen des Thane weiteten sich vor Schrecken und hektisch schüttelte er den Kopf. »Nein … das … das wird nicht nötig sein, mein Jarl. Ich versichere Euch …«, doch der Jarl unterbrach ihn harsch.

    »Keine leeren Worte mehr, Tjörvi! Entweder du bringst mir den Verräter samt Balg bis zum nächsten Winter nach Hause oder ich finde jemanden, der es an deiner Stelle tut und nicht so gnadenlos scheitert wie du.«

    Damit war alles gesagt. Ruckartig erhob sich der Jarl, steckte seine Axt zurück an den Gürtel und wandte sich, ohne auf eine Antwort zu warten, von seinem Gegenüber ab.

    Kurz huschte sein Blick durch das volle Langhaus. Was er jetzt brauchte, war ein leichtes Mädchen, das ihn den Ärger über seinen unfähigen Thane vergessen ließ. Als er in der Menge eine geeignete Sklavin gefunden hatte, ging er zielstrebig auf sie zu, packte sie grob am Arm und zerrte sie mit sich zur Tür.

    Teil 1 - DER JUNGE

    Ein Bild, das Symbol, Logo, Kreis, Emblem enthält. Automatisch generierte Beschreibung

    Kapitel 1 - KJELL

    Hvallátur, Island, im Jahr 1008 n. Chr.

    Gegenwart

    Der Nebel hing in dicken Schwaden tief über dem stillen Wasser des Fjords. Mani zeigte sein makelloses Antlitz am Himmel und sein silbernes Licht brach sich leuchtend hell in den Wellen, die leise ans Ufer plätscherten.

    So still wie das Wasser war es auch in den Gassen Hvalláturs, als der junge Mann die Tür zur Hütte seines Vaters sachte hinter sich zuzog und sich das Fuchsfell fest um die Schultern schnürte. Sein Atem formte gleichmäßige Wölkchen über seinem Kopf, die von einer lauen Brise aufgelöst wurden. Der ferne Ruf eines Nachtvogels erklang aus Richtung des spärlichen Waldes in seinem Rücken, doch Kjell widerstand dem Drang, sich umzudrehen.

    Für gewöhnlich entdeckte er die leuchtenden Augen des Tieres ohnehin nicht.

    Die Luft war kalt, brannte ihm unangenehm im Hals, was er als Sohn des einzigen Fischers im Dorf allerdings gewöhnt war. Der Winter war vorbei, die Eisschicht auf dem Fjord nur noch hauchdünn, und sämtliche Bewohner des Dorfes verlangten nach diesem harten Winter nach frischem Fisch. Selbst als Knirps, der einem erwachsenen Mann gerade mal bis zu den Knien reichte, war er an der Seite seines Vaters Alrík in dem kleinen Boot auf den Fjord hinausgerudert. Dies war seine Aufgabe gewesen, so lange er sich erinnern konnte, und obwohl Kjell insgeheim seit einigen Jahren andere Pläne für seine Zukunft hegte, hatte er noch nicht den richtigen Moment gefunden, sich aus seinem jetzigen Netz aus Verpflichtungen zu lösen.

    Sein Vater war stolz auf ihn und ganz besonders auf seine Entwicklung, die ihn später einmal zu einem herausragenden Fischer machen würde. Alrík hatte es ihm noch nie offen gesagt, aber Kjell wusste bereits, dass er in die Fußstapfen seines Vaters treten sollte.

    Wirklich verübeln konnte Kjell es ihm nicht. Fischer zu sein, derjenige, der dafür sorgte, dass alle genug zu essen hatten, war eine wichtige und ehrenvolle Aufgabe, allerdings war es nicht das, was Kjell sein Leben lang machen wollte. Nicht, wenn das hieß, nie näher an einen Kampf oder eine heldenhafte Tat heranzukommen als am Feuer des Langhauses des Jarls, wo sich die Krieger die haarsträubendsten Geschichten erzählten.

    Wie sollte er sich einen heldenhaften und ruhmreichen Namen machen, wenn in den Methallen und in den bekannten Sagas nie auch nur ein einziger seiner Zunft auftrat? Für das Überleben der Menschen in den Erzählungen sorgten nicht die Handwerker, sondern die großen Krieger, die mit Brynja und Schwert gerüstet in die Schlacht zogen. Doch was konnte er daran schon ändern?

    Seufzend und dieser verzweifelten Wunschgedanken müßig machte Kjell sich auf den Weg durch das frühmorgendliche Hvallátur, bis er die kleine Hütte direkt am Fjordufer erreichte. Hier lagerten während der Frostzeit die beiden Fischerboote und sämtliche Ausrüstung seiner Familie. Er entriegelte das weite Holztor, wodurch der Mond sein Licht ins Innere werfen konnte und er sich nicht darum bemühen musste, eine Fackel zu entzünden.

    Kjell mochte die Dunkelheit. Besonders sobald er allein war. Im Finsteren hatte er nicht das Bedürfnis, sich einen Schatten zu suchen, mit dem er verschmelzen konnte, um dem Spott der anderen Jungen zu entgehen. Die Schatten verschwanden in der Düsternis ebenso wie er selbst, als er jetzt einige Netze und Reusen zusammensuchte und in eines der Bote warf. Zuletzt griff er nach seiner Angel.

    Wenn sein Vater ihn schon in aller Frühe auf den Fjord hinausschickte, wollte Kjell die Zeit so gut wie möglich nutzen.

    Unter voller körperlicher Anstrengung zog er das Ruderboot aus dem Schuppen und beförderte es mit einem kräftigen Ruck ins flache Wasser. Das Holz knirschte unangenehm auf dem kiesigen Untergrund, und Kjell atmete erleichtert auf, als es wieder verklang und er schnell hinterher sprang, die Riemen aufnahm und mit rhythmischen Zügen hinaus in die Bucht ruderte.

    Mit jedem Schlag entfernte er sich weiter vom Ufer und sah zu, wie der Steg, an dem die Drachenboote lagen, langsam vom Nebel verschluckt wurde. Nur das sanfte Plätschern des Wassers begleitete ihn und er hielt erst inne, als er um sich herum nichts weiter sah als weißen Nebel.

    Routiniert warf er die Netze aus und nahm anschließend seine Angel. So saß er da. Ruhig und schweigend und hing seinen Gedanken nach, die er nur dann zuließ, wenn niemand außer ihm und den Göttern selbst sie hören konnten.

    Diese Atmosphäre der Stille war ihm allerdings nicht so lange vergönnt, wie er es sich erhofft hatte. Sobald die Nacht wich und auch der Nebel die Bucht und damit das Dorf freigab, erwachte seine Heimat zum Leben. Während Kjell die Schnur seiner Angel einholte – immerhin hatte er ein paar Fische fangen können –, beobachtete er aus dem Augenwinkel, wie ein zweites Boot zielstrebig auf ihn zuhielt.

    Er brauchte nicht genauer hinzuschauen, um zu erkennen, wer da auf ihn zuruderte, kannte er den jungen Mann doch besser als sein eigenes Spiegelbild. Die langen, dunkelblonden Haare, die zu einem langen Zopf geflochten waren, die schmale Nase und der kleine Mund, der von ein paar einzelnen Bartstoppeln umgeben war. Lediglich in der Statur unterschied er sich von ihm, vor allem die breiten Schultern und die starke muskuläre Ausprägung der Arme waren ihm nicht zu eigen.

    Innerlich seufzte Kjell laut auf, nicht mal hier konnte er seine Ruhe haben. Äußerlich allerdings gab er sich die größte Mühe, seinen Unmut zu verbergen.

    »So früh schon auf dem Wasser, Bruder?«, rief der Mann zu ihm hinüber. Er war mittlerweile nah genug, dass Kjell sein feixendes Grinsen nur zu gut sehen konnte.

    »Einer von uns muss schließlich tun, was Vater uns aufträgt, Olvir«, brummte Kjell, schaffte es gleichwohl nicht, die Verbitterung vollständig aus seiner Stimme zu verbannen. »Oder meinst du, die Freiheiten, die du dir nimmst, kommen von ganz allein?«

    Olvir verzog den Mund und musterte Kjell einen Augenblick lang, dann zuckte er die Schultern. »Nun … ja.«

    Kjell schnaubte und wandte sich von seinem Bruder ab. Er ließ sich auf der schmalen Ruderbank nieder und packte die Riemen.

    Kommentarlos wollte er zum Rückzug ansetzen, doch Olvir versperrte ihm mit einem kräftigen Ruderschlag den Weg.

    »Im Ernst, Kjell. Du hättest schon längst den Mut haben können, ihm zu sagen, dass du das hier nicht länger machen willst«, meinte er und deutete mit einer ausladenden Geste auf das Boot und die ausgeworfenen Netze drum herum.

    Kjell schüttelte den Kopf. »Du hast nicht mitbekommen, wie enttäuscht Vater an dem Abend war, als du es ihm gesagt hast.«

    »Nein, das habe ich nicht«, gestand Olvir nun weniger herablassend, und der Spott verschwand aus seinem Gesicht. »Trotzdem tut es mir nicht leid. Wir sind nicht auf dieser Welt, um das Leben unseres Vaters zu leben. Die Nornen haben für jeden von uns einen eigenen Faden gewoben, und es wird auch für dich Zeit, den von Vater loszulassen und deinen eigenen aufzunehmen, Kjell.«

    »So weise wie Oðin selbst«, nuschelte Kjell kopfschüttelnd, sah dann doch wieder zu Olvir auf. »So einfach, wie du es darstellst, ist es nicht.«

    »Für mich war es das«, widersprach sein Bruder und verschränkte die Arme vor dem Körper.

    »Ja, weil du der Erste warst. Aber jetzt liegen Vaters ganze Erwartungen auf mir«, erwiderte er mit belegter Stimme.

    Darauf wusste Olvir nichts zu sagen, doch Kjell erkannte an dem zerknirschten Gesichtsausdruck seines Bruders, dass er Olvir von seiner Überheblichkeit geheilt hatte – zumindest für den Moment.

    »Es tut mir leid«, murmelte Olvir unvermittelt und in seinen Augen, die ebenso ungewöhnlich grün waren wie seine eigenen, erkannte Kjell pure Aufrichtigkeit. »Ich sollte mich bei dir bedanken, immerhin ziehst du das hier auch für mich weiter durch. Und wann immer du so weit bist, kannst du darauf zählen, dass ich dir ebenso den Rücken decken werde, wie du es nun für mich tust«, sagte Olvir und schlug sich zum Zeichen seiner Ehrlichkeit mit der Faust auf die gestählte Brust.

    Kjell nickte dankend und wollte schon erleichtert aufatmen, als Olvir erneut das Wort ergriff.

    »Schon gut, dafür sind wir schließlich Brüder.« Rasch winkte er ab und fand zu seinem Grinsen zurück. »Das war aber nicht der Grund, warum ich bis hierher zu dir gepaddelt bin.«

    Neugierig horchte Kjell auf. Da war etwas in der Stimme seines Bruders, das er bisher nicht häufig gehört hatte, obgleich er es nicht genau benennen konnte. »So, warum dann?«

    »Vater hat nach dir verlangt. Offenbar hat er uns etwas Wichtiges zu sagen«, meinte Olvir schulterzuckend.

    Kjell stutzte und sogleich machte sich ein ungutes Gefühl in seiner Magengegend breit. Wenn sein Vater, dem nichts wichtiger war als eine gute Tagesausbeute in den Netzen, ihn von seiner morgendlichen Aufgabe zurückrief, mussten es zweifelsfrei sehr dringende Nachrichten sein.

    »Mehr weißt du nicht darüber?«, hakte er vorsichtig nach, während Olvir die Blockade seines Bootes löste und Kjells Weg wieder freigab.

    »Nein. Er sagte nur, dass es wichtig sei und uns beide betreffen würde«, erklärte Olvir, der nun ebenfalls begann, mit kräftigen Zügen sein Boot in Bewegung zu setzen.

    »Und du findest das nicht merkwürdig?«, wollte Kjell der seltsamen Forderung seines Vaters auf den Grund gehen.

    »Warum sollte ich? Hat er nicht ein Recht darauf, mit uns zu reden, wann immer es ihm beliebt?«

    Kjell stöhnte genervt auf. »Du weißt genau, wie ich das gemeint habe.«

    Olvir lachte laut und rempelte mit seinem Riemen gegen den Bug von Kjells Boot, sodass es arg ins Schwanken geriet. »Natürlich weiß ich, wie du das gemeint hast. Aber du musst endlich mal dein ständiges Misstrauen ablegen. Das hilft dir nicht weiter.«

    »Ich weiß«, murmelte Kjell mehr zu sich selbst und wechselte dann schnell das Thema. Er hatte dieses Gespräch mit seinem Bruder schon viel zu oft geführt. »Na los! Wer zuletzt am Ufer ist, trägt den Fang nach Hause!«

    Damit legte er sich sofort mit seinem vollen Gewicht in die Riemen, ohne auf eine Antwort oder gar Zustimmung seines Bruders zu warten. Er wusste auch so, dass Olvir jederzeit jedem Wettkampf sofort zustimmen würde, selbst wenn er kaum eine Chance auf den Sieg hatte.

    Man sah es Kjell mit seiner durchschnittlichen Statur zwar nicht an, erst recht nicht, sobald er neben seinem deutlich muskulöseren Zwillingsbruder stand, aber die Tage, an denen Olvir ihn im Rudern geschlagen hatte, konnte Kjell an einer Hand abzählen.

    Der Sieg war ihm also so gut wie gewiss.

    Grummelnd stapfte Olvir schließlich hinter Kjell her, den Beutel mit den Fischen über der Schulter. Kjell konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Es gab nicht vieles, in dem er besser war als sein Bruder, und daher freute er sich nun umso mehr über diesen kleinen Sieg.

    Noch mehr genoss er es, dass der Spott der anderen nicht ihn traf, als sie heute durchs Dorf gingen, sondern ausnahmsweise sein Bruder, der bei sämtlichen Leuten in Hvallátur hoch angesehen war, sich den höhnischen Bemerkungen ausgeliefert sah.

    Für Olvir musste es schon reichlich bitter sein, unter den Augen der schaulustigen Kinder mit einem Sack frischer Fische durch die Gassen zu ziehen, wo er doch sonst nur mit dem Schwert in der Hand gesehen und auch genau dafür respektiert wurde.

    Denn auch sie kannten all die Sagen über heldenhafte Krieger. Krieger, nicht Fischer.

    Kjell hingegen schmunzelte in sich hinein und genoss die Ablenkung. Für heute war es nicht notwendig, dass er sich in den Schatten versteckte, bis sie die Hütte ihres Vaters erreichten.

    Olvir nahm den Beutel von der Schulter und schüttete den Inhalt in einen großen Eimer, der mit Eis gefüllt war. So würden die Fische noch ein paar Stunden frisch bleiben. Zeit genug, um das Gespräch mit ihrem Vater Alrík hinter sich zu bringen.

    Gemeinsam betraten sie die Hütte und fanden den Fischer im Hauptraum vor dem Feuer sitzend, die Füße auf die steinerne Umrandung gelegt, ein kaputtes Netz auf dem Schoß.

    Als das Licht durch die offene Tür hereinfiel, sah er auf. »Ach Jungs, da seid ihr ja.«

    Kjell war kurz davor, erleichtert aufzuatmen. Sein Vater machte nicht den Eindruck, dass etwas Besorgniserregendes oder Ungewöhnliches vorgefallen war, weswegen er sie beide zum Gespräch gerufen hatte. Das Zittern seiner Hände allerdings sprach eine andere Sprache.

    »Was gibt's denn?«, fiel Olvir gleich mit der Tür ins Haus und zog sich einen Stuhl heran.

    Kjell hingegen blieb neben dem Feuer stehen und lehnte sich an einen der zwei Stützpfeiler.

    Innerlich war er noch zu unruhig, um sich zu setzen. Zuerst musste er wissen, was hier vor sich ging.

    Alrík seufzte und legte das Fischernetz zur Seite. »Ich muss etwas mit euch beiden besprechen. Es betrifft eure Zukunft hier in Hvallátur.« Seine Stimme klang belegt und Kjells ungutes Gefühl bestätigte sich in dem Moment, da sich ihre Blicke trafen.

    Trotzdem schwieg er. Er hatte geahnt, dass dieser Tag bald kommen würde, und so sehr er sich ihn auf der einen Seite herbeigesehnt hatte, so sehr fürchtete er ihn auf der anderen Seite.

    »Willst du uns etwa verstoßen oder nur mich, weil ich deinem Weg nicht weiter folgen werde?«, fragte Olvir entsetzt. Offenbar hatte er nicht die gleichen offensichtlichen Schlüsse gezogen wie er.

    Ein trauriges Lächeln legte sich auf Alríks Züge. Bedächtig schob er den Ärmel seines Hemdes hoch und zeigte ihnen seinen goldenen Armreif.

    »Ich muss euch nicht erklären, was er bedeutet.« Er wandte sich an Kjell. »Was war das Erste, das Wichtigste, das ich euch beigebracht habe?«

    »Geschworene Treue geht über alle anderen Bande hinaus«, antwortete Kjell prompt, zu oft hatte er diesen Satz von seinem Vater schon gehört.

    Alrík nickte zufrieden. »Um diesen Schwur geht es.« Er drehte sich wieder Olvir zu. »Ihr beide seid nun erwachsene Männer, und Jarl Rókis Gesetze werden ab diesem Sommer auch für euch gelten.«

    »Was willst du damit andeuten, Vater?«, fragte Kjell sichtlich beunruhigt, doch gleichzeitig sah er, wie Olvir triumphierend die Faust ballte und von seinem Stuhl aufsprang.

    »Das heißt, wir dürfen Jarl Róki endlich unsere Treue und ewige Gefolgschaft schwören?«

    Alrík nickte erneut.

    Kjell entging der geknickte Ausdruck seines Vaters nicht und er verstand ihn nur zu gut. Dass sein Bruder geradezu wild entschlossen war, endlich in Jarl Rókis Reihen aufgenommen zu werden, wunderte ihn nicht. Schließlich hatte er schon vor drei Wintern dem Weg seines Vaters den Rücken gekehrt. Mehr als einmal war er mit Alrík aneinandergeraten, wenn es um den Schwur ging und warum sie beide ihn nicht wie alle Jungen bereits mit zwölf hatten leisten dürfen.

    Kjell hingegen zögerte. Er wollte nicht zeit seines Lebens Fische fangen, doch glaubte er nicht, dass es so einfach war, wie Olvir es sich gerade machte oder vorstellte.

    »Und was passiert, wenn ich nicht in seine Reihen eintreten will?«, fragte er vorsichtig und stierte ins Feuer, um dem finsteren Blick seines Vaters zu entgehen.

    »Man wird dich zwingen, das Dorf zu verlassen. Jarl Róki duldet keine Männer, die ihm nicht die Treue geschworen, ihr Leben nicht in seine Hand gelegt haben.«

    Verstehend nickte Kjell und schluckte. Das war das Letzte, was er wollte: seine Familie zurückzulassen, vielleicht sogar sie zu verlieren.

    »Geschworene Treue geht über alle anderen Bande hinaus, auch über die des Blutes«, fügte Alrík hinzu und brachte Kjell damit dazu, den Kopf zu heben.

    »Das ist nicht richtig, Vater. Und du weißt es.«

    Alrík schwieg, was Kjell nur weiter befeuerte. »Warum sonst haben wir nicht wie alle anderen Jungen vor sechs Wintern den Schwur geleistet, wenn du nicht an seiner Richtigkeit zweifelst?«

    Nun spürte Kjell auch den entsetzten Blick seines Bruders auf sich, aber das war ihm egal.

    Er fühlte sich innerlich so zerrissen. Vor eine Wahl gestellt, die er nicht treffen konnte, nicht treffen wollte.

    Leistete er den Schwur bei Jarl Róki, konnte er zwar bei seiner Familie bleiben, würde aber den Beruf seines Vaters annehmen müssen – das Dorf brauchte einen Fischer. Verweigerte er sich dem Jarl, musste er seine Heimat verlassen und damit auch seine Familie. Für ihn galt der Grundsatz des Jarls nicht.

    Warum konnte er nicht kämpfen, ohne gleichzeitig seinem Vater in den Rücken zu fallen? Denn so, wie er es sah, liefen beide Möglichkeiten auf dasselbe hinaus.

    »Er hat recht, Vater«, meldete sich nun Olvir zu Wort. »Warum erst jetzt?«

    Alrík beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf den Knien ab und vergrub das Gesicht in den Händen. Diese Geste, der Schmerz ebenso wie die Schwermut, die darin lag, ließ eigentlich nur eine Antwort zu und sie alle kannten sie.

    Kjell schloss die Augen, als sein Vater sie aussprach.

    »Ich tat es eurer Mutter zuliebe. Als sie starb, nahm sie mir das Versprechen ab, es so lange wie möglich hinauszuzögern. Sie wollte, dass ihr die Tragweite dieser Entscheidung auch begreifen könnt, wenn ihr sie eines Tages trefft. Sie …« Er geriet ins Stocken.

    Kjell brauchte nicht zu ihm zu schauen, um die Tränen seines Vaters zu sehen, er hörte sie in seiner Stimme.

    »Sie wollte nur unsere Familie beschützen.«

    Olvir schnaubte und Kjell vernahm das Schaben von Holz, als er den Stuhl energisch an den Tisch zurückschob »Dabei wäre das eigentlich deine Aufgabe gewesen, Vater!« Das Nächste, was Kjell hörte, war die Tür, die Olvir öffnete. »Wie gut, dass ich meine Wahl schon getroffen habe.«

    Die Tür fiel hinter ihm zu und Kjell lehnte sich seufzend gegen den Balken, rutschte daran in eine sitzende Position hinunter.

    Eine erdrückende Stille legte sich über den Raum, allein vom Prasseln des Feuers und den leisen Schluchzern seines Vaters durchbrochen.

    Er wusste nicht, wie lange er so dasaß, spürte aber irgendwann, wie Alrík aufstand und sich neben ihn setzte, den Arm um seine Schultern gelegt.

    Kjell öffnete die Lider. Der Raum war verschwommen und er brauchte einen Moment, ehe er seine eigenen Tränen bemerkte. Mit dem Handrücken wischte er sich übers Gesicht, dann wandte er sich seinem Vater zu.

    »Was soll ich jetzt tun? Wie kann ich guten Gewissens eine solche Entscheidung treffen, ohne … dich zu enttäuschen?«

    Einen weiteren Augenblick lang herrschte Schweigen, ehe der Griff seines Vaters sich verstärkte. »Weißt du, mein Junge. Du kannst mich nicht enttäuschen, wenn du diese Entscheidung mit deinem Herzen triffst. Wähle für dich. Nicht für deinen Bruder, nicht für den Jarl … und auch nicht für mich. Es ist dein Leben. Deine Zukunft. Versprich mir das und du brauchst nicht unter der Last deines Gewissens zu leiden.«

    Kjell nickte langsam und löste sich schließlich von seinem Vater. Er schritt ebenfalls auf die Tür zu und griff nach der Klinke. »Ich brauche Zeit, um darüber nachzudenken.« Dann verließ er die Hütte.

    Kapitel 2 - KJELL

    Ziellos war Kjell losgelaufen, bis er Hvallátur hinter sich gelassen hatte. Sein Weg führte ihn intuitiv in die Berge. Hier oben, auf einem flachen Felsplateau, fern von allem, herrschte noch immer Winter.

    Er ließ Spuren im knirschenden Schnee zurück, als er auf den Rand der Klippe zuging und sich setzte und die Beine über den tödlichen Abgrund baumeln ließ. Die Kälte und den Wind nahm er gar nicht wahr, so sehr zog die atemberaubende Aussicht auf den Fjord, das Dorf und das nahe Umland seine Aufmerksamkeit auf sich. Vielleicht war es auch das Chaos seiner Gedanken, das ihm erlaubte, alles andere auszublenden.

    Nun war er also gekommen: der Tag der Entscheidung. Der Tag, an dem er vor eine Wahl gestellt wurde, die eigentlich keine solche war.

    Denn, welche Wahl hatte er schon?

    Er liebte seinen Vater und seinen Bruder, genauso wie er seine Heimat liebte und trotzdem schien es ihm, als müsse er sich zwischen beidem entscheiden.

    Genau darüber hatte er am Morgen doch mit Olvir gesprochen. Es konnte kein Zufall sein, dass die Nornen ihm ausgerechnet diesen Tag so in sein Schicksal gewoben hatten. Aber wer war er, an den Göttern zu zweifeln?

    Kjell Alríksson, der Sohn eines Fischers, der sich selbst zu Größerem berufen fühlte und gleichzeitig nicht den Mut hatte, eben diesen Weg zu gehen, nur weil er mit einer unangenehmen Entscheidung begann. Vielleicht sogar begonnen werden musste.

    Möglicherweise war es aber auch eine Chance, die die Götter ihm an diesem Tag, mit dieser Entscheidung boten. Die Wendung seines Lebens, der Beginn eines neuen Pfades.

    Wäre er da nicht ein Narr, diese Möglichkeit nicht zu ergreifen? Wann sonst konnte aus dem Sohn eines Fischers ein ruhmreicher Krieger, vielleicht sogar Thane werden, wenn nicht an einem Tag wie diesem, da alles in Trümmern zu liegen drohte? Denn eins war für Kjell ganz klar: Fischer mochte ein ehrbarer und für das Gemeinwohl aller ein wichtiger Beruf sein, aber seine Berufung war eine andere, das fühlte er.

    Damit sollte die Entscheidung längst gefällt sein – schon vor Jahren, genau genommen –, gleichwohl zögerte Kjell noch immer. Warum haderte er fortwährend mit sich, obwohl er doch nur den Mund aufzumachen brauchte?

    Er schloss die Augen und atmete tief ein, versuchte, sich ganz auf sich selbst und sein Problem zu konzentrieren.

    Von dem Seher des Dorfes hatte er gehört, dass zu jenen, die die Hilfe der Götter dringend brauchten, der Allvater selbst zu sprechen pflegte. Bisher hatte Kjell das nie für möglich gehalten.

    Hier auf dem Gipfel des Berges, wo er dem Himmel so nah war wie nirgendwo sonst, schienen ihm die Worte des Sehers gar nicht mehr so abwegig.

    Er verlangte schließlich nicht viel. Nur einen Rat, einen kleinen Schubs in die richtige Richtung vielleicht. Irgendetwas, das ihm half, diese schwere Entscheidung trotzdem treffen zu können.

    Ein weiterer Atemzug.

    Allmählich drang die Kälte zu ihm durch und auch den Wind spürte er wieder an seinen Haaren reißen. Plötzlich war ihm, als spürte er den Luftzug auch in seinem Inneren, wie er all die wirren Gedanken forttrieb und nur die Frage zurückließ, die Kjell sich zuletzt gestellt hatte: Warum zögere ich noch?

    Weil du Angst hast, antwortete eine Stimme tief in ihm. Weil du gesehen hast, wie grausam der Kampf sein kann, und weil du am eigenen Leib erfahren hast, was es heißt, jemanden durch einen Kampf zu verlieren.

    »Das stimmt nicht«, widersprach Kjell sich selbst. »Mutter ist nicht auf dem Schlachtfeld gestorben.«

    Der Krieg hat viele Gesichter und er berührt viele Orte abseits des Schlachtfeldes.

    Die Stimme seines Gewissens blieb hartnäckig.

    »Was ist, wenn ich es ändern kann?«

    In deiner jetzigen Situation kannst du es nicht.

    »Aber wer weiß schon, ob meine jetzige Situation sich nicht in den nächsten Stunden wandelt?«, hielt Kjell dagegen und fühlte die Zerrissenheit in sich brodeln.

    Ein tiefes Seufzen, welches durch seine Brust vibrierte, sandte ihm eine Gänsehaut über die Arme. Doch die erhoffte Erleichterung oder gar eine Erkenntnis schien sich nicht einzustellen.

    Auch wenn du glaubst, dein Pfad sei dir vorherbestimmt, gab es immer schon jene, die einen anderen Weg gegangen sind.

    »Und bin ich einer von ihnen?«

    Du wärest keiner, würde ich dir vorgeben, was du zu tun hast, ließ die Stimme verlauten und nun glaubte Kjell nicht mehr daran, dass er ein Selbstgespräch mit seinem Gewissen führte.

    Man hat stets die Wahl zwischen dem richtigen und dem einfachen Weg und manchmal führen sie beide ans gleiche Ziel, nötigenfalls auch über Umwege. Die Entscheidung, welchen du einschlägst, liegt ganz bei dir.

    Nach diesen Worten versiegte die Stimme in seinem Kopf und langsam spürte Kjell wieder den eisigen Wind, der ihm um die Ohren pfiff und seine Nase unangenehm kribbeln ließ.

    Gleichwohl hielt er die Augen weiterhin geschlossen, versuchte erneut in sich zu gehen und Kontakt zu der Stimme aufzunehmen, aber lediglich die Stille antwortete ihm.

    Lange saß er noch so da, wägte die Möglichkeiten ab, die er zu haben glaubte, bis er schließlich mit pochendem Herzen eine Entscheidung traf.

    »Ich weiß jetzt, was ich tun muss«, murmelte er leise.

    Kjell ballte die Fäuste und öffnete die Lider. Der Fjord lag klar unter ihm und ebenso klar waren nun seine Gedanken.

    Er stand auf, straffte die Schultern und sah zum wolkenverhangenen Himmel auf. Erleichtert atmete er aus und dankte dem Allvater, dass er ihm geholfen hatte, einen Entschluss zu fassen.

    Dann kehrte er der Klippe und der Weite davor den Rücken zu. In diesem Moment wollte er glauben, dass es die Stimme Oðins gewesen war, die er in seinem Inneren hatte nachhallen hören. Ob es wirklich so war, würde er jedoch nie erfahren, das wusste er.

    Bis zum Abend dachte Kjell kein einziges Mal mehr über seine vorläufige Entscheidung nach. Er ging allen aus dem Weg, besonders seinem Vater und seinem Bruder, und suchte stattdessen Zeit für sich, was bedeutete, dass er den Großteil des Tages im Felsland verbrachte.

    Auf der einen Seite grenzte es an Hvallátur und auf der anderen an ein etwa gleichgroßes Dorf: Hnjótur. Viel zu sehen oder gar zu jagen gab es in den felsigen Ebenen nicht, dafür war es eine unendliche Weite, in der Kjell gerne umherwanderte, wenn ihm langweilig war oder er auf etwas wartete, so wie jetzt.

    Der Abend schien immer noch in unerreichbarer Ferne zu liegen und verdammte ihn damit dazu, den Nachmittag in quälender Unruhe zu verbringen.

    So zog Kjell weiter durch die karge Ebene, bis er ein Plateau erreichte, auf dem er sich niederließ und auf das fremde Dorf schaute.

    Von Olvir, der sich seit ein paar Jahren redlich gut mit einigen der Kriegern Jarl Rókis verstand, wusste er um die nach und nach abgerissenen Handelsbeziehungen zwischen Hvallátur und Hnjótur in der letzten Zeit. Es gab sogar Gerüchte, dass sich die ersten Züge einer Verfeindung abzeichneten und man auch nicht mehr mit den Kriegern aus dem Nachbarort auf Raubzug fahren wollte. Insgesamt war es ein angespanntes Verhältnis, und Kjell bezweifelte, dass sich das in

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