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Das Vermächtnis von Talbrem (Band 4): Kalte Asche
Das Vermächtnis von Talbrem (Band 4): Kalte Asche
Das Vermächtnis von Talbrem (Band 4): Kalte Asche
eBook562 Seiten

Das Vermächtnis von Talbrem (Band 4): Kalte Asche

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Über dieses E-Book

Kira erwacht an einem Ort, von dem sie nicht gedacht hätte, ihn so schnell zu betreten. Dort trifft sie auf eine der mächtigsten Frauen, die es in der Geschichte der Taliducz je gab. Diese verrät ihr nicht nur, dass ihre Begegnung vom Schicksal vorherbestimmt war, sondern lüftet auch ein Geheimnis über die Regentin, das der jungen Frau förmlich den Boden unter den Füßen wegreißt. Die Gefahr, die von der Tyrannin ausgeht, könnte jeden Moment über Talbrem hereinbrechen – und der Preis, um dies zu verhindern, übersteigt alles, was von Kira jemals gefordert wurde. Wird sie tatsächlich bereit sein, das Vermächtnis von Talbrem anzunehmen und diesen Weg bis zum Schluss zu gehen, wenn sie damit nicht nur ihr eigenes Glück aufgeben muss?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Sept. 2023
ISBN9783038962144
Das Vermächtnis von Talbrem (Band 4): Kalte Asche

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    Buchvorschau

    Das Vermächtnis von Talbrem (Band 4) - J. K. Bloom

    Inhaltsverzeichnis

    Titel

    Informationen zum Buch

    Impressum

    1 - Die Welt der Toten

    2 - Die wahre Geschichte

    3 - Ein ewiger Hass

    4 - Die Sehnsucht

    5 - Die Wiedervereinigung

    6 - Unter den Lebenden

    7 - Zu Hause

    8 - Die Totengöttin

    9 - Alte Zeiten genießen

    10 - Nur wir beide

    11 - Ein Morgen mit Sorgen

    12 - Pläne schmieden

    13 - Eine Liebe, die über den Tod hinaus geht

    14 - Ein Gespräch unter Männern

    15 - Der Hüter Eldorados

    16 - Planänderung

    17 - Familie ist alles

    18 - Von alten Büchern und Geheimnissen

    19 - Der Oberboss Henrik

    20 - Die Wahrheit über die Brooks und Evensens

    21 - Tafelkritzelei

    22 - Dublin

    23 - Das Comeback

    24 - Sicherheit geht vor

    25 - Da war doch noch was …

    26 - Mad Shitday

    27 - Warum man auf sein Bauchgefühl hören sollte

    28 - Die Hinrichtung einer Göttin

    29 - Talbrem gegen die Unsterblichkeit

    30 - Eine Stadt in Trümmern

    31 - Der Turm

    32 - Zwei gegen zwei

    33 - Antheas Geschichte

    34 - Der Tali der endlosen Macht

    35 - Der Abschied

    36 - Die Zwischenwelt

    37 - Erlösung

    38 - Ein verständnisvoller Lauscher

    39 - Harte Wochen

    40 - Bis zum Schluss

    41 - Das letzte Jahr

    Epilog

    Dank/Nachwort

    J. K. Bloom

    Das Vermächtnis von Talbrem

    Band 4: Kalte Asche

    Fantasy

    Das Vermächtnis von Talbrem (Band 4): Kalte Asche

    Kira erwacht an einem Ort, von dem sie nicht gedacht hätte, ihn so schnell zu betreten. Dort trifft sie auf eine der mächtigsten Frauen, die es in der Geschichte der Taliducz je gab. Diese verrät ihr nicht nur, dass ihre Begegnung vom Schicksal vorherbestimmt war, sondern lüftet auch ein Geheimnis über die Regentin, das der jungen Frau förmlich den Boden unter den Füßen wegreißt. Die Gefahr, die von der Tyrannin ausgeht, könnte jeden Moment über Talbrem hereinbrechen – und der Preis, um dies zu verhindern, übersteigt alles, was von Kira jemals gefordert wurde. Wird sie tatsächlich bereit sein, das Vermächtnis von Talbrem anzunehmen und diesen Weg bis zum Schluss zu gehen, wenn sie damit nicht nur ihr eigenes Glück aufgeben muss?

    Die Autorin

    J. K. Bloom schreibt schon, seit sie elf Jahre alt ist. Das Erschaffen neuer Welten ist ihre Leidenschaft, seitdem sie das erste Mal ein Gefühl für ihre Geschichten bekam. Sie ist selbst abenteuerlustig und reist sehr gern. Wenn sie ihre Nase nicht gerade zwischen die Seiten eines Buches steckt, schreibt sie, beschäftigt sich mit ihren zwei Katzen oder plant schon die nächste Reise an einen unbekannten Ort.

    www.sternensand-verlag.ch

    info@sternensand-verlag.ch

    1. Auflage, September 2023

    © Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2023

    Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski

    Lektorat: Sternensand Verlag GmbH | Denise Mallon

    Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH

    Satz: Sternensand Verlag GmbH

    ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-213-7

    ISBN (epub): 978-3-03896-214-4

    Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

    Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

    1 - Die Welt der Toten

    Mein Kopf fühlt sich grauenvoll an. Es ist kein Schmerz, sondern eher ein seltsamer Druck, der sich vom Hinterkopf bis zu meiner Stirn zieht.

    Als ich die Augen aufschlage, erkenne ich einen wunderschönen blauen Himmel und es riecht nach Erde und Gänseblümchen. Die Sonne scheint angenehm warm auf meinen Körper herab – weder zu heiß noch zu kalt. Es erinnert mich sofort an das Land der Zeitlosen, dessen Klima ähnlich war.

    Langsam kehren die Erinnerungen Stück für Stück zurück. Wie ein rasend schneller Film ziehen die Bilder vor meinem geistigen Auge vorbei, bevor sie in einem bedeutsamen Moment anhalten. Meine Hand tastet panisch den Bauch ab, ehe ich mich erhebe und die Umgebung genauer betrachte.

    Ich liege auf einem vermoosten Felsen, inmitten einer Landschaft, die mich an die Highlands in Schottland erinnert. An meinem Körper trage ich einen Pullover, der mit Blut besudelt ist, aber ein Loch kann ich nicht entdecken. Das wundert mich, denn schließlich hat mir Victor den Magiedolch in den Bauch gerammt.

    Mein Onkel Victor … meine Tante Elaine … die Regentin Josephine … und Kjell, den Mann, den ich liebe …

    Victor hatte mich erdolcht, um zu verschleiern, dass meine Tante in Wahrheit die Regentin ist. Meine Freunde eilten mir zu Hilfe – doch sie kamen zu spät.

    Die Trauer kehrt zurück und ich lege die Hand über den Mund, um einen Schluchzer zu unterdrücken.

    Wo bin ich? In der Totenwelt? Soll das bedeuten, ich habe es nicht geschafft? Ich bin wirklich gestorben?

    Zusätzlich setzt mir der Verrat von Victor und Elaine zu. Ich kann einfach nicht glauben, auf ihren Schein hereingefallen zu sein. Sie gehörten zur Familie. Besonders meine Tante Elaine und ich haben so viele Hürden überstanden, lustige Abende miteinander verbracht und über unsere Gefühle gesprochen. War das nur ein hinterlistiges Schauspiel?

    Ich will das alles nicht wahrhaben.

    Victor – mein Onkel! – hat mich getötet! Er hat mich ausgetrickst, mein Vertrauen ausgenutzt, um mich letztendlich aus dem Weg zu räumen. In mir wütet Enttäuschung und Trauer, weil ich von einer Person, der ich blind vertraut habe, verraten wurde.

    Zudem ist meine Tante in Wahrheit die Regentin Josephine Morrell – Verbündete des Verbrechers Michael Cameron, der vor Monaten noch mein einziges Problem gewesen war.

    Nachdem Josephine – aka Elaine – ihren eigenen Mann, Georg Morrell, getötet hatte, erledigte sie auch Cameron, um die Beweise für ihr Doppelleben zu beseitigen. Warum ist sie in all den Jahren nie aufgeflogen? Hatte sie das ihren Komplizen zu verdanken?

    Kjells letzte Worte vor meinem Tod kommen mir in den Sinn, als er sich mit mir per Telepathie-Magie verbunden hat. Mit letzter Kraft habe ich ihm mitteilen können, dass Tante Elaine und Victor die Verräter sind. Kann er sie aufhalten? Auch ohne mich?

    Ach Kjell, und du kannst dich noch nicht einmal mehr an unsere gemeinsame Zeit erinnern. Durch die Sigille und sein Sklavendasein im Land der Zeitlosen verlor er ein Teil seines Gedächtnisses. Für ihn war ich nur Kira-Jane Brooks, die Tochter eines Gesandten. Unbedeutend. Überflüssig.

    Dennoch … seine letzten Worte wollen mir nicht aus dem Kopf gehen.

    ›Gib sie mir zurück!‹, ruft Kjell, und aus seiner Stimme kann ich ein Weinen heraushören, gemischt mit einem Flehen. ›Bitte.‹

    Dieses Flehen in seiner Stimme überrascht mich … Er dürfte gar keine Gefühle mehr für mich hegen.

    Der Felsen, auf dem ich liege, sieht aus wie ein uralter Altar, der mit weichem Moos und Schlingpflanzen bewachsen ist.

    Langsam erhebe ich mich und fahre mir durch die Haare. Meine Beine baumeln über dem Boden und mein Blick fällt auf die Wiese. »Ich bin tot«, wispere ich und spüre, wie all der Kummer in mir erneut hochkriecht. »Ich bin wirklich gestorben.«

    Dabei habe ich noch so viel vorgehabt. Was wird nur mein kleiner Bruder Luca denken? Ob Kjell ihm helfen kann? Er darf nicht in die Klauen von Elaine und Victor geraten.

    Aber wie soll Kjell ihn retten, wenn er doch gar keine Erinnerungen an ihn hat? Woher soll er wissen, wer Luca ist? Hoffentlich wird Emily ihn schnell aufklären, damit meine Freunde ihn vor den Hewys beschützen.

    Was ist mit Dad? Es wird ihn zerstören, wenn er erfährt, dass ich gestorben bin. Er wird sich das niemals verzeihen. Die Schuldgefühle werden ihn zerfressen, und ich kann nicht einmal erahnen, was er dann tut. Moms Tod konnte er gerade noch verkraften, aber was ist mit dem Verlust seiner Tochter?

    Ich vermisse schon jetzt meine Freunde und Familie. Kyan, Emily, Sosa, Arran, Luise, Nathan, Raik und sogar die doofe Schnepfe Mary. Ganz besonders jedoch meinen Teufel, von dem ich geglaubt habe, ihn noch ein letztes Mal in den Arm nehmen zu können.

    Erschüttert lege ich das Gesicht in meine Hände und beginne zu weinen.

    Ich wollte niemals sterben. All meine Träume, Wünsche und Ziele werden nun nicht mehr in Erfüllung gehen. Stattdessen werde ich nur noch tagein, tagaus auf ihre Schatten herabblicken.

    Die Tür zu den Lebenden hat sich endgültig geschlossen.

    Ich bereue es, all das nicht kommen gesehen zu haben. Ich hätte Victor durchschauen müssen.

    Meine Tränen laufen zwischen meinen Fingern hindurch und ich lasse mich zurück ins Moos fallen.

    Diese Welt fühlt sich real und surreal zugleich an, etwas, das es bei den Lebenden nicht gegeben hat. Bevor ich bewusstlos geworden bin, spürte ich, wie ein Druck aus meiner Brust wich, als wäre er mein letzter Atemzug gewesen.

    Ich muss auf dem Felsen eingeschlafen sein, denn plötzlich erwache ich wieder und frage mich, wie ich im Reich der Toten, in dem nur meine Seele existiert, schlafen kann.

    Meine Tränen sind mittlerweile getrocknet, aber mir geht es nicht besser. Die Erkenntnis, gestorben zu sein, klafft wie eine offene Wunde in meiner Brust.

    Gerade als ich mich erhebe, erkenne ich in der Ferne eine blonde, schlanke Frau, die auf einem Hügel steht und in meine Richtung schaut. Neugierig blicke ich ihr entgegen.

    Dann geht alles rasend schnell. Während sie einen Schritt in meine Richtung macht, verwandelt sich ihr Körper in weißen Nebel und kommt blitzartig auf mich zugeschossen. Sie ist dabei schneller als ein Wimpernschlag und bleibt nur wenige Meter vor mir stehen.

    Der Nebel verwandelt sich wieder in ihren Körper zurück und graue, schon beinahe weiße Augen sehen mich abwartend an. Ihre Lippen umspielt ein vorsichtiges Lächeln. »Hallo, Kira.«

    »Wer bist du?«, entfährt es mir beinahe atemlos.

    Diese Frau ist von unsagbarer Schönheit. Ob sie auch eine Tote ist? Doch ihre Stimme kommt mir bekannt vor.

    »Ich bin hier, um dich in deiner Welt willkommen zu heißen«, beginnt sie.

    Ich schüttle verwirrt den Kopf. »In meiner Welt?«

    Sie nickt. »Du gehörst hierher. Dein Schicksal sollte dich zu uns führen, an den Ort, den du eines Tages regieren wirst.«

    »Regieren?«, platzt es nun etwas lauter als beabsichtigt aus mir heraus. »Was ist das denn für eine Welt?«, frage ich und spüre etwas Hoffnung in mir auflodern, doch nicht gestorben zu sein.

    »Die Welt der Toten«, antwortet die blondhaarige Schönheit.

    Ein tiefer Schmerz zieht sich durch das Innere meiner Brust. Jetzt, da ich es aus dem Mund der Fremden höre, fühlt es sich endgültig an. Meine Zeit als Lebende ist vorbei, und ich kann es nicht mehr rückgängig machen.

    »Dann bedeutet das …«, setze ich an, breche jedoch ab, als sich ein Kloß in meinem Hals bildet. Erneutes Bedauern überkommt mich und ich muss mich wirklich zusammenreißen, um nicht wieder zu weinen.

    »Du bist gestorben. Richtig«, spricht sie die Worte aus, die ich nicht zu äußern wage. »Aber das wärst du sowieso eines Tages.«

    »Das stimmt, aber erst, wenn ich alt und gebrechlich gewesen wäre. Wenn ich mein Leben gelebt hätte …«

    Plötzlich reicht mir die Fremde ihre Hand und lächelt mich aufmunternd an. »Komm, ich habe dir viel zu erzählen.«

    Mit Tränen in den Augen blicke ich sie an. »Wer bist du?«

    »Das wirst du noch früh genug erfahren. Aber erst gilt es, dir die Welt zu zeigen, über die du bald gebietest. Komm.«

    Ich bin ohnehin tot, denke ich. Was habe ich schon für eine Wahl? Was kann mir hier passieren?

    Auch, wenn ich mir nicht vorstellen mag, über eine ganze Welt zu regieren, beschließe ich, alles auf mich zukommen zu lassen. Durch meinen eigenen Tod fühlt sich alles, was nun nach meinem Leben kommt, irgendwie gleichgültig an. Denn ich habe ohnehin nichts mehr zu verlieren.

    Mit einem Nicken lege ich meine Hand in ihre, die sich im ersten Moment samtweich anfühlt. Doch als sie zupackt, steckt eine enorme Kraft dahinter. Ich bin mir sicher, dass sie keine gewöhnliche Tote in diesem Reich ist. Sie hat etwas sehr Seltsames an sich. Allein die Tatsache, dass sie mir ihren Namen nicht verrät, wirkt verdächtig.

    Ich bin barfuß, sodass ich das weiche Gras unter mir spüren kann. Diese Welt enthält keine Makel, nur Schönheit und Reinheit.

    Die Blondhaarige verschränkt ihre Hand fest mit meiner, als befürchtete sie, dass ich mich ihr wieder entziehen könnte. Mit der anderen malt sie einen Halbkreis in die Luft, und eine Nebelschwade bildet sich vor uns. »Komm, ich will dir später noch jemanden vorstellen.«

    Neugierig lasse ich mich von der Frau in den Nebel lotsen und erkenne schnell, dass wir ein Portal betreten.

    Auf der anderen Seite umhüllen uns dieselben Magie-Wolken, die es in Talbrem gibt. Wir stehen auf einem schwebenden, mit Gras überzogenen Felsen.

    Doch das ist nicht das Faszinierendste, was ich erblicke. Über mir erstreckt sich eine Art Tunnel, der aus Nebelschwaden und sich bewegenden Gemälden besteht. Er windet sich wie ein Strudel nach oben und lässt kein Ende erkennen – als wäre er unendlich. Diese Konstruktion erinnert mich an etwas, allerdings will mir gerade nicht einfallen, an was. Möglicherweise ist mein Kopf immer noch dabei, alles zu sortieren.

    »Was ist das?», frage ich und versuche mehr Details zu erkennen.

    Kleine Lichtpunkte schießen zwischen den Gemälden hin und her. Das Schauspiel ist zugleich faszinierend und surreal, sodass ich meinen Blick gar nicht abwenden kann.

    »Wir nennen sie die ›Spirale der Zeit‹.«

    Mir klappt die Kinnlade herunter. »Moment mal! Die gibt es auch in Talbrem.«

    Die Schönheit nickt. »Richtig.« Ein kleines Lächeln umspielt ihre Lippen. Doch als sie die Spirale hinaufschaut, erstirbt es. »Vor sehr langer Zeit war die Welt der Lebenden und der Toten miteinander verbunden. Den Lebenden war es gewährt, einen letzten Blick auf die Verstorbenen zu werfen, um sich von ihren Seelen zu verabschieden.«

    Da fällt mir etwas ein. »In unserer Welt wurde ein Teil der Spirale getilgt. Hat das etwas mit dieser Welt hier zu tun?«

    Sie stößt einen schweren Seufzer aus. »Zum Teil, ja. Aber ich will dir die Geschichte von Anfang an erzählen, damit du verstehst, wer ich bin und weshalb du hierhergehörst.«

    Warum sollte ich bitte ausgerechnet in eine Welt der Verstorbenen gehören? Und wenn ich tot sein und hierhergehören soll, warum vermisse ich dann so sehr das Leben?

    Meine rätselhafte Begleitung macht erneut eine Armbewegung und zaubert auf die Wiese vor uns eine weiße Sitzbank. Freundlich deutet sie mir mit der Hand, darauf Platz zu nehmen.

    Für einen Moment sitzen wir beide nur so da. Dann atmet sie tief ein und aus. Ihre Augen blicken dabei in die Ferne, als spielte sich dort die Geschichte ab, die sie zu erzählen bereit ist. »Vor Tausenden Jahren reiste eine Frau in die Wildnis, um nach ihrer Bestimmung zu suchen. Sie kehrte dafür sogar ihrem eigenen Dorf den Rücken. Sie reiste über viele Jahre durch die Welt, lernte neue Völker kennen, erfuhr einiges über ihre Gebräuche und Rieten.« Sie macht eine kleine Pause und holt abermals tief Luft, ehe sie fortfährt. »Eines Tages, als diese Frau sich in einer Höhle niederließ, betrachtete sie eine Höhlenmalerei. Dabei fiel ihr auf, dass die Malereien aller ihr bekannten Völker etwas gemeinsam hatten. Sie alle enthielten bestimmte Zeichen, welche offensichtlich die rituelle Beschwörung einer höheren Macht symbolisierten. Die Frau begann daraufhin, jedes dieser Zeichen nacheinander an eine Wand zu malen. Als sie die finalen Linien des letzten Symbols zeichnete, geschah etwas Unglaubliches. Alle Symbole begannen zu leuchten und übertrugen sich auf die Frau.«

    Ich blinzle. »Wow! Was ist dann passiert? Ist sie gestorben?«

    Meine Begleitung schüttelt den Kopf. »Nein, sie wurde zur ersten Taliducz.«

    Ich reiße meine Augen auf. »Wie bitte?«

    »Eine unbekannte Magie, die wir bis heute nicht erklären können, ging auf diese Frau über, sodass sie plötzlich die Fähigkeit besaß, bestimmte Zeichen zu kontrollieren. Aus den Zeichen an der Wand tropfte silberne Flüssigkeit auf den Boden und bildete eine Pfütze. Daraus hervor entstiegen Bilder, die dieser Frau – ähnlich einer Vision – ihr Schicksal zeigten und den Weg, dieses Schicksal zu erfüllen. Ihr wurde viel Mut abverlangt.«

    Ich schlucke, als mir bewusst wird, worauf meine Begleitung hinaus will. Sigillen! Um sich eine Sigille in die Haut zu ritzen, benötigt man einen Taliducz-Knochen und die Flüssigkeit des Talismon.

    »In ihrer Vision, opferte sie einen ihrer Finger, um sich mit ihrem eigenen Knochen die magischen Zeichen in die Haut einzubrennen.«

    Ich schlage mir die Hände vor den Mund. »Hat sie es getan?«

    Die rätselhafte Frau neben mir lacht leise. »Sonst wären wir nicht hier, oder?«

    Stimmt. Dennoch erschreckt es mich, dass sie sich eigenhändig einen Finger abtrennte.

    »Damit wurde sie zu einer ganz besonderen Frau«, fährt sie fort, »denn sie war die erste Lessia.«

    Ich atme scharf die Luft ein.

    Aber, dieser Begriff … das ist doch …

    O Gott! Bitte lass Kyan nicht recht behalten! Dann existierte die Lessia wirklich. Wie alt mag dieses Buch über die Lessia gewesen sein, das Kyan gemeinsam mit seiner Großmutter aufbewahrt hatte?

    Bevor ich etwas erwidern kann, setzt meine seltsame Begleitung ihre Geschichte fort: »Sie war die Erste und wurde angeführt von der – ihr nun selbst innewohnenden – unbekannten Macht. Sie kehrte mit einem vollen Topf silbernen Wassers in ihr Dorf zurück. Dort ließ die unbekannte Macht sie ein Ritual durchführen, das alle Dorfbewohner zu Taliducz machte.«

    Ich werde stutzig. »Und das haben sie einfach so mit sich machen lassen?«

    Die wundersame Frau neben mir zuckt nur mit den Schultern. »Die Geschichte ist so alt, Kira, dass niemand mit Sicherheit sagen kann, wie die erste Lessia gelebt hat. Mit den Jahren wurden viele Details ausgelassen oder sogar verändert. Wichtig an dieser Stelle ist nur, dass diese Gemeinschaft, das erste überhaupt existierende Taliducz-Dorf war.« Sie streicht sich eine gewellte Strähne hinters Ohr. »Die Lessia wurde ihre Anführerin. Nur sie allein konnte den Dorfbewohnern Sigillen einbrennen. Sie konnte die Magie steuern, die andere Taliducz ausführten. Somit wahrte sie eine gewisse Ordnung. Doch bald heiratete die Lessia und bekam eine Tochter – die Erbin der Macht. Mit dem Tod der ersten Lessia, verfügte die Tochter über die gesamten Fähigkeiten ihrer Mutter und wurde zu ihrer Nachfolgerin.«

    »Warum überließ sie das Einbrennen nicht anderen?«, will ich gefesselt wissen.

    »Um Ordnung zu bewahren und die Kontrolle nicht zu verlieren. Weshalb sich das jedoch eines Tages änderte, erkläre ich dir noch«, sagt sie und lehnt ihren Rücken gegen die Bank. »Nachdem die erste Lessia gestorben war, erwachte sie aufs Neue und glaubte, wiedergeboren zu sein. Schnell merkte sie jedoch, wie surreal und anders ihre neue Umgebung war.«

    Ich lächle vorsichtig und ahne es bereits. »Die Welt der Toten, oder?«

    Sie nickt. »Korrekt. Die Welt der toten Taliducz. Denn sie bekamen ihr eigenes Totenreich aus einem ganz besonderen Grund.« Sie erhebt sich und schaut wieder hinauf zur Spirale. »Der Kreislauf des Lebens, Kira, ist das Wichtigste, was es auf dieser Welt gibt. Er existiert auch bei den Menschen, doch er ist mit dem unseren nicht zu vergleichen.«

    »Der Kreislauf des Lebens?«

    »Ja, in der alten Sprache wird er auch als der ›Kreislauf der Magie‹ beschrieben. Denn sowohl die Seelen als auch die Macht, die wir vor so vielen Jahren erhalten haben, sind ein essenzieller Bestandteil unseres Daseins. Stirbt eine Seele, wandert diese mit ihrer gesamten Magie in die Welt der Toten, in der sie ewig verweilen darf, wenn sie möchte. Entscheidet sie sich dafür, diese Welt zu verlassen, löst sie sich in ihre Bestandteile auf und wird zu Magiestaub. Aus diesem wird eine neue Seele erschaffen, die in einen neuen Körper einkehrt. Und der Kreislauf beginnt von vorn.«

    »Gibt es denn Seelen, die schon seit Anbeginn der Zeit hier sind?«, frage ich neugierig und blicke ebenfalls zur Spirale hinauf.

    Sie wendet sich mir zu. »Nein. Selbst die erste Lessia ist längst wieder zu einem Bestandteil der Welten geworden.«

    »Bedeutet das also, niemand hält die Ewigkeit aus?«

    Trauer schleicht sich in den so freundlichen Ausdruck der Fremden. Sie senkt den Blick und ballt in ihrem Schoß die Hände zu Fäusten. »Nein, denn die Lessia besitzt die Macht, darüber zu entscheiden, welche Seele sich in ihre Bestandteile auflöst. Gerät das Gleichgewicht ins Wanken, ist sie gezwungen zu handeln. Zu viele Seelen in der Welt der Toten könnten sowohl hier als auch in Talbrem Chaos verursachen.«

    Und da wird es mir auf einen Schlag klar, wen ich hier eigentlich vor mir habe. Ich hatte es die ganze Zeit schon im Gefühl, doch ihre Geschichte hat mich zu sehr in den Bann gezogen.

    Aber nun bin ich mir sicher, dass sie aus einem bestimmten Grund zu mir gekommen ist. Weshalb sie diejenige ist, die mir die Welt der Toten zeigt.

    Meine Lippen werden zu einer schmalen Linie und ich schaue die Frau mit den fast weißen Augen eindringlich an. »Ich verstehe.«

    Sie seufzt und nimmt meine Hände in ihre. »Hätte ich dir gleich zu Anfang verraten, wer ich bin, hättest du mir sicherlich Tausende von Fragen gestellt und Angst vor mir gehabt.«

    Angst wäre der falsche Ausdruck dafür. Es handelt sich bei dem Gefühl eher um Respekt. Schließlich ist sie die Lessia, eine Heilige, die von den Taliducz einst verehrt wurde. Sie ist die Nachkommin einer besonderen Frau, ohne die es uns gar nicht gäbe. Allein diese Vorstellung beschert mir eine Gänsehaut.

    Und jetzt ist sie hier, hält meine Hand, als wäre ich für sie von größter Wichtigkeit. Und genau das bin ich wohl, denn ich scheine zu ihr, zu ihrem Volk zu gehören. Kyans Thesen kommen mir wieder in den Sinn. Er war davon überzeugt, dass ich eine Nachfahrin ihrer Blutlinie bin.

    Die Erbin der Lessia.

    Es klingt so unfassbar unreal und doch weiß ich, dass es stimmt.

    Ich erinnere mich an die Worte, die kurz vor meinem Tod durch meine Gedankenwelt rauschten. Das war nicht irgendeine Frau, die zu mir sprach, sondern die Lessia höchstpersönlich.

    ›Ich bin ihre Brücke und geleite sie in die Welt, in die sie schon seit Anbeginn ihrer Geburt gehört. Sie ist kein Teil der Menschen, kein Teil von Talbrem. Sie ist ein Teil von uns.‹

    Ein Teil der Totenwelt.

    Wenn ich also für all das hier bestimmt gewesen bin, hat sie meinen Tod vorhergesehen? »Hast du geahnt, dass Victor mich töten würde?«

    Sie drückt zart meine Hand. »Nein. Wir können nicht in die Zukunft sehen. Aber ich wusste, wenn du Josephine folgst, wird es deinen Tod bedeuten. Deswegen wollte ich mich mit dir verbinden, um dich zu warnen.«

    Und ich habe ihr nicht geglaubt. So dumm …

    »Du solltest jedoch wissen, dass ich all deine Erinnerungen kenne. Die Lessia ist dazu bemächtigt, wenn eine Seele in diese Welt gelangt.«

    Dann weiß sie alles. Über meine Freunde, meine Familie, meine Liebe. Ich fühle mich ein wenig nackt.

    »Kannst du mit jedem eine Telepathie aufbauen oder nur mit mir?«, hake ich nach.

    »Nur mit Blutsverwandten, und da du meine Erbin bist, ist es möglich, mich mit dir zu verbinden. Aber es verlangt ein Stück meiner Kraft ab, wenn ich diese Fähigkeit nutze. Da zwischen unseren Leben fast ein Jahrtausend liegt, war es sehr schwer, dich zu erreichen. Je ferner die Verwandtschaft, desto schwieriger ist es.«

    Mir klappt die Kinnlade herunter. »Ein Jahrtausend!?«

    Die Lessia nickt. »So alt bin ich schon«, gibt sie lachend von sich, wird dann jedoch wieder ernst. »Ich habe es aus der Not heraus getan. Ich musste dich vor der Falle warnen.«

    Hätte ich auf ihre Worte gehört, wäre ich jetzt noch am Leben.

    Verärgert über meine Fehlentscheidung lege das Gesicht in meine Hände. »Verdammter Mist.«

    Die Lessia streicht mir tröstend über den Rücken. »Es ist nicht so schlimm, wie du vielleicht im Moment denken magst. Eines Tages wärst du ohnehin hierhergekommen, um meine Regentschaft zu übernehmen.«

    Ich beiße die Zähne zusammen. »Aber ich hatte noch ein ganzes Leben vor mir! Außerdem sind Josephine und Victor weiterhin auf freiem Fuß und ich kann nichts dagegen tun.« Frustriert blicke ich auf meine Handflächen hinab und spüre, wie sich neue Tränen anbahnen.

    »Ich kenne diesen Schmerz zu gut«, sagt die Lessia traurig. »Als ich starb, war ich gerade einmal neunundzwanzig Jahre alt. Ich musste meinen Mann und meine fünfjährige Tochter zurücklassen.«

    »Warum?«, frage ich vorsichtig.

    »Das werde ich dir noch erzählen. Aber jetzt muss ich meine Geschichte fortsetzen.«

    Ich atme tief ein, schiebe meinen Kummer beiseite und lausche gespannt ihrer Stimme.

    »Die Jahrhunderte vergingen und das Volk der Taliducz wurde größer. Irgendwann wuchs ein ganzes Königreich heran, welches in der Menschenwelt jedoch keinen Platz mehr fand. Denn die Magie und Macht der Taliducz bereiteten den Menschen solche Angst, dass die beiden Völker Kriege gegeneinander führten. Die Kraft der Lessia reichte nicht mehr aus, um die Sigillen unter Kontrolle zu halten. Es waren zu viele. Am Ende verlor sie schließlich den Überblick.«

    Sie macht eine Pause und ich bemerke, wie sich ihre Finger im Stoff ihres Kleides verkrampfen. Ihre Miene wird hart und aus irgendeinem Grund fällt es ihr schwer, die Erzählung fortzusetzen. »Was hast du?«

    »Das, was nun kommt, ist meine Geschichte«, haucht sie und so stark die Lessia mir anfangs auch vorkam, wirkt sie nun wie eine gebrochene Frau. »Ich kam in einem abgeschiedenen Taliducz-Dorf auf die Welt. Meine Mutter wusste nichts von ihrem Erbe, genauso wenig wie ich.«

    Erstaunt öffne ich den Mund. »Wie ist das möglich? Sagtest du nicht, die Lessia herrschte seit jeher über die Taliducz?«

    Sie schüttelt traurig den Kopf. »Es gab nicht nur Kriege zwischen den Menschen und uns, sondern auch unter uns Taliducz. Die letzte bekannte Lessia wurde sechshundert Jahre vor meiner Geburt durch eine Intrige in ihren eigenen Reihen getötet.«

    Verständnislos schüttele ich den Kopf. Warum wollten die damaligen Taliducz ihre Lessia töten? Waren sie mit ihrer Herrschaft nicht einverstanden? Oder wollten sie selbst an die Macht? Wie undankbar! Hatten sie denn nicht erkannt, dass es ohne die Lessia keine Taliduzc gegeben hätte?

    »Jene letzte Lessia hinterließ eine Tochter. Um ihre Blutlinie zu erhalten, wurde sie von den letzten verbliebenen Anhängern der Lessia gerettet und versteckt. Das Kind wuchs noch mit dem Glauben an die Lessia heran. Doch im Laufe der nächsten sechs Jahrhunderte ging dieser Glaube verloren. Ebenso die Macht, die in ihr schlummerte.«

    »Das ist grauenvoll.«

    »Ja, das ist es. Doch genau wie du, Kira, habe ich nicht ahnen können, welche Macht in mir schlummert. Eines Tages erwachten die Kräfte in mir und ich war in der Lage, Sigillen zu kontrollieren. Die letzte Lessia sprach schließlich auch mit mir in der Totenwelt und beauftragte mich, die Macht zurückzuerlangen.«

    »Sie lehrte dich?«

    »Zugegeben, es war nicht einfach, die Verbindung aufrechtzuerhalten, aber dank ihr konnte ich meine Kräfte weiterentwickeln.« Sie schaut zum endlosen Himmel hinauf und seufzt schwer. »Dir ist die Geschichte über Horaz, Anthea und Glaucus bekannt?«

    Mein Mund ist plötzlich ganz trocken. »Ja, ist sie«, sage ich, denn ich weiß, dass diese drei Taliducz in der Tat besonders waren. Sie haben dazu beigetragen, Talbrem zu erschaffen.

    »Zwei von ihnen waren meine Mörder.«

    Was!?

    2 - Die wahre Geschichte

    »Ich will dir die Geschichte aber dieses Mal nicht erzählen, sondern zeigen. Jede noch so kleine Erinnerung ist in meiner Seele eingeschlossen. Komm!« Auffordernd reicht sie mir ihre Hand, die ich nur zögerlich ergreife.

    Langsam bewegen wir uns auf den Rand des Plateaus zu. Obwohl ich bereits tot bin, bereitet es mir doch Angst, hinunterzufallen. »Was würde geschehen, wenn ich in die Wolken stürzen würde?«

    »Dann landest du wieder hier. Diese Welt lässt es nicht zu, dass dir etwas geschieht.«

    Die Lessia zeichnet erneut einen Halbkreis in die Luft und vor uns erscheint wie aus dem Nichts eine Nebelschwade. Eilig springen wir durch diesen portalähnlichen Übergang hindurch.

    Der Nebel verschwindet augenblicklich und ich fühle mich ins frühe Mittelalter zurückversetzt. Gerade als ich glaube, von einem heftigen Windstoß fortgerissen zu werden, begreife ich, dass eine Kutsche an uns vorbeifährt.

    Ruckartig packt die Lessia meine Hand und zieht mich zurück. Pferde, auf denen bewaffnete Soldaten sitzen, folgen dem Gefährt auf vier Rädern, welches ein gefährliches Tempo beibehält.

    Bevor sie um die nächste Kurve biegt, gerät die Kutsche aus dem Gleichgewicht und kippt schlitternd zur Seite. Die Tiere brechen mit ihr zusammen.

    Sofort versammeln sich die Soldaten um die Kutsche. Auch ich verspüre den Impuls, ebenfalls zum Geschehen zu eilen. Doch die Lessia hält mich zurück. Ein einsamer Reiter kapselt sich unauffällig von seinen Gefolgsleuten ab und kommt direkt auf uns zu. Dann bleibt er vor uns stehen. Niemand bemerkt sein Innehalten, da alle auf die Kutsche fixiert sind.

    »Temaya!«, ruft der Mann, der sein Gesicht hinter einem Helm verbirgt. »Beeil dich!«

    Ein kleines Mädchen, vielleicht gerade einmal elf Jahre alt, springt hinter einer der Hecken hervor und rennt mit wild entschlossenem Blick auf uns zu. Ihre goldenen Locken wehen anmutig im Wind.

    Sie scheint uns nicht zu sehen und rennt einfach weiter. Ich schaffe es nicht, rechtzeitig auszuweichen und befürchte, dass wir zusammenprallen. Doch nichts dergleichen geschieht. Sie läuft durch meinen Körper hindurch, als wäre ich ein Geist.

    Ich kann es kaum glauben, aber die Anwesenden nehmen mich nicht wahr. Dies scheint nur eine Illusion zu sein, auch wenn sich die Umgebung vollkommen real anfühlt.

    »Ein Freund meiner Familie brachte mich an einen Burghof, weit abseits der Hauptstadt«, erzählt mir die Lessia.

    Ich hatte die Ähnlichkeit zwischen dem Mädchen und ihr sofort bemerkt. »Temaya ist ein schöner Name.«

    Sie lächelt ein wenig verlegen. »Danke.« Ihr entgleitet ein Seufzer, als sie die Hand hebt und das Bild um uns herum anhält – die Zeit stoppt. »Der damalige Herrscher hatte ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt, um ein für alle Mal die Ära der Lessia zu beenden. Denn ohne Nachkommen kann die Lessia ihre Kräfte nicht weitergeben.«

    »Warte!« Plötzlich wird mir etwas Erschreckendes klar, als ich an meinen eigenen Tod denke. »Aber, wenn ich als deine Nachfahrin gerade gestorben bin, habe ich die Ära der Lessia damit nicht auch beendet?«

    Sie lacht. »Nein, keine Sorge. Es gibt ja noch deinen Bruder, und wie du weißt, werden Gene und Erbmassen immer weitergegeben. Er wird die Linie fortführen. Die Lessia-Kräfte aber können zu unserem Bedauern nur an Frauen weitergereicht werden.«

    »Also werden seine Kinder dann meinen Posten irgendwann übernehmen?«

    Sie schüttelt den Kopf. »Nein, deren Urenkelinnen, die er nicht mehr erleben wird. Es müssen noch viele Jahre vergehen, aber dazu später mehr.«

    Mit ihrem Arm zeichnet sie einen Halbkreis in die Luft und die Welt beginnt sich zu verändern. Die Umgebung krümmt sich, als würden wir irgendwo hineingesogen werden. Ein leichter Druck bildet sich auf meiner Brust, doch dieser verschwindet rasch, als wir plötzlich in einem Burghof landen.

    Vier Jugendliche laufen lachend durch uns hindurch, als ich gerade die neue Gegend wahrnehme. Die goldenen Locken und die leuchtend grauen Augen einer der jungen Frauen geben mir Aufschluss darüber, dass es sich bei ihr um Temaya handelt, die nun älter geworden ist.

    Sie trägt wie die andere Frau, die rotblonde Haare hat und gemeinsam mit ihr vor den zwei jungen Männern davonläuft, ein seidenes Kleid mit goldener Spitze. Als sie in eine Sackgasse getrieben werden, kichern die Frauen belustigt und einer der Männer nimmt die Rothaarige in seine Arme. »Hab ich dich.«

    Temaya will das Spiel noch nicht aufgeben und versucht ihrem Gegenüber zu entkommen, doch gerade als sie eine Lücke entdeckt hat, schlingt dieser ebenfalls seine Arme um sie und drückt sie liebevoll an sich.

    Die Lessia seufzt verträumt neben mir.

    Ein Grinsen schleicht sich auf meine Lippen. »Ich gehe mal davon aus, dass das dein Mann ist, richtig?«

    Ihre Wangen färben sich rosa, während sie den relativ schlanken, aber dafür muskulösen Kerl anschmachtet. »Ja, das war er.«

    Meine Mundwinkel senken sich, als ich ihren traurigen Tonfall wahrnehme. »War?«

    Sie lächelt. »Ich habe seine Seele bereits erlöst. Er wollte es so. Gemeinsam mit meiner Tochter und all den Verwandten, die ich zur damaligen Zeit kannte«, erklärt sie mir. »Und es ist in Ordnung, Kira. Auch eine Ewigkeit kann irgendwann zu viel werden. Ich schenke jedem Erlösung, der sie sich wünscht – sofern dadurch das Gleichgewicht nicht außer Kontrolle gerät.«

    Bevor ich weiterfragen kann, tut sich etwas in Temayas Erinnerung. Ihr Mann küsst sie und zieht ihren schlanken Körper in seine Arme, um ihr mit jeder Berührung zu zeigen, wie sehr er sie liebt. Der Anblick verpasst mir einen Stich in die Brust, da ich mich nach einer Liebe sehne, die ich nicht mehr haben kann.

    Eine Sache spendet mir tatsächlich Trost. Kjell wird durch seinen Gedächtnisverlust keinen Schmerz empfinden – er hat also Glück im Unglück.

    Trotzdem vermisse ich ihn unendlich, und es wird wohl sehr viel Zeit brauchen, bis ich diese Qual überwunden habe. Das Loch in meiner Brust wird allerdings für immer bleiben.

    »Zu ihm hatte ich eine ganz besondere Verbindung, weißt du? Seine Talis und seine Aura fühlten sich … anders an. Vertraut, geborgen, einfach richtig.«

    Ich nicke schwach. Wie gut ich all dies hier nachvollziehen kann.

    »Er war mehr als mein Seelenverwandter. Mehr als ein Freund. Mehr als die Liebe meines Lebens.« Sie lächelt verliebt. »Sogar meine Fühler haben das gespürt. Zwischen uns lag eine Verbindung, die mit Worten und Magie nicht zu beschreiben ist.«

    Ihr Mann sieht Temaya so tief in die Augen, dass mir bei diesem innigen Anblick die Knie weich werden.

    Allerdings hält der Moment nicht lange an.

    Die Lessia reißt mich aus meinen Gedanken. »Nun, wird es wichtig, Kira.«

    Ich horche auf. Wie gebannt beobachte ich die Situation, die vor meinen Augen weiter seinen Lauf nimmt.

    »Hoffentlich wirst du verstehen, weshalb die Vergangenheit bedeutend ist und dass manchmal eine Geschichte aus Lügen gesponnen wird, um die Wahrheit zu verschleiern.«

    Als Temayas Freundin sich von ihrem Geliebten löst, tritt sie ins Licht. Zum ersten Mal sehe ich in ihr wahres Gesicht und was ich erblicke, reißt mir den Boden unter den Füßen weg.

    Diese fuchsroten Haare, die in der Sonne fast wie Flammen leuchten, die meerblauen Augen, die mich an den Ozean erinnern und die eleganten Gesichtszüge, die ich nie wieder vergessen werde. Mein Magen verkrampft sich bei ihrem Anblick und mir stockt der Atem. »Elaine?«

    Dieses … Miststück! Wie …? Das ist unmöglich! Wie kann sie gleichzeitig in meiner Welt und in der von Temaya leben?

    Die Lessia drückt tröstend meine Hand. »Ich weiß, dass das nicht leicht für dich ist, aber sie ist es. Ohne jeden Zweifel.«

    Ich kann es noch immer nicht fassen und mache unwillkürlich einen Schritt auf die Frau zu, die mich auf dem Gewissen hat. Sie behandelte Kjell und Vera wie Sklaven. Sie kidnappte meinen Bruder und sperrte meinen Dad ins Gefängnis. Sie hat sogar meine Mom auf dem Gewissen. »Was soll das bedeuten? Ist sie wirklich meine Tante?«

    »Nein«, antwortet Temaya und verpasst mir damit innerlich einen Magentritt. Mein Vater hat also wirklich eine Lügnerin zur vermeintlichen Schwester. Wie mischte sich diese Schlange nur in unser Leben ein?

    »Dad hat doch …?«

    Die Lessia hält das Bild an und tritt seufzend neben mich. »Dazu solltest du wissen, wer Elaine in Wirklichkeit ist.«

    Ich richte meinen Blick auf meine Nicht-Tante und beobachte, wie sich die Personen vor mir wieder bewegen.

    »Anthea«, ruft Temaya, als sie sich von ihrem Geliebten löst, dessen warmes Lächeln mich ein wenig an den engelsblonden Raik erinnert.

    Anthea … Wieso kommt mir dieser Name so bekannt vor?

    Da schießt mir eine Erinnerung in den Sinn, die mich noch einmal stärker in eine tiefe Dunkelheit zieht. Wie konnte ich nur so blind sein?

    »Die ersten Taliducz, die jemals existierten, waren Horaz, auch der erste Werth genannt, Anthea, die von unvergleichlicher Schönheit war und Glaucus, der erste Gelehrte und Archivar.«

    Sie war es die ganze Zeit. Aber wie hat sie all die Jahre überdauert?

    »Als Horaz über ihrem leblosen Körper Tränen der Trauer und der Wut vergoss, verwandelten sich die kleinen Tropfen in eine außergewöhnliche blaue Kette, die sich wie Perlen um ihren Hals formten. Daraufhin erwachte Anthea und ihr neues Schmuckstück ist die dritte entworfene Schöpfung namens die ›Tränen der Unsterblichkeit‹. Wer sie trägt, erlangt ewiges Leben.«

    Ich sinke auf meine Knie, schlinge die Arme um meine Mitte und spüre von Sekunde zu Sekunde, wie sich ein Puzzleteil nach dem anderen zusammenfügt. Anthea ist in Wahrheit eine ewig lebende Taliducz und hat sich mein ganzes Leben lang als meine Tante ausgegeben.

    Die Lessia kniet sich besorgt zu mir herunter, und ich sehe, wie die vier Jugendlichen lachend durch einen Torbogen verschwinden.

    In meinem Hals stecken unzählige Worte fest, die ich am liebsten hinausschreien würde. Doch ich bin sprachlos.

    Warum hat sie sich in meine Familie eingemischt? Welche Ziele verfolgt sie damit? Sie tat uns so viel Leid an …

    Mom, Dad, Luca, Kjell …

    Ich kann das einfach nicht glauben.

    Die Lessia legt einen Arm um meine Schulter und spendet mir mit einem vorsichtigen Lächeln Trost. »Früher war Anthea anders. Erst ihr Rachedurst hat sie zu dem Monster werden lassen, das sie heute ist.«

    Tränen stauen sich in meinen Augen. Ich will einfach nicht wahrhaben, dass meine Tante Anthea ist, die vor tausend Jahren geboren wurde. »Aber, wieso ich? Wieso meine Familie?«

    Mitfühlend streicht die Lessia über meinen Oberarm. »Es geschah vor vielen Jahren. Anthea war auf der Suche nach den Schöpfungen, um über die Taliducz zu herrschen – allerdings nicht in Talbrem, sondern im Land der Zeitlosen. Eines Tages bekam sie Wind davon, dass die Familie Brooks Eldorado besitzt.«

    Ich blinzle entsetzt. »Wieso will sie über die Taliducz im Land der Zeitlosen herrschen?«

    Traurig presst sie die Lippen aufeinander, nimmt meine Hand in ihre und erhebt sich mit mir. »Lass mich zuerst meine Geschichte fortführen.«

    Auch wenn ich am liebsten alles auf einmal in Erfahrung bringen würde, nicke ich zustimmend.

    Mein Schädel brummt mit einem Mal und ich wundere mich, dass ich als Tote solch unangenehme Empfindungen spüren kann. Die Tatsache, von meiner über die Jahre liebgewonnenen Tante verraten worden zu sein, ist schon schwer zu ertragen. Doch zu erfahren, dass sie obendrein eine uralte rachsüchtige Taliducz ist, entzieht mir jegliche Kraft. Ich werde einige Zeit aufbringen müssen, um diese Tatsache zu verarbeiten.

    Die Lessia lässt das Bild erneut verzerren, bis wir uns inmitten einer Schlacht befinden. Schwerter werden durch Körper gestoßen, Blut tränkt den sandigen Boden und Magie erfüllt die Atmosphäre, die mir beinahe die Luft zum Atmen nimmt. Vollkommen erschrocken über die neue Situation, gehe ich instinktiv in eine Angriffsstellung über, bis mir wieder klar wird, dass ich nur ein Geist bin.

    Ich blicke zur Lessia, die vollkommen ruhig auf dem Schlachtfeld steht. Ihre Miene ist streng und undurchsichtig.

    Schreie, Wehklagen und das Klirren von Eisen dringen ohrenbetäubend zu mir. Körper fallen leblos zu Boden, nachdem sie Gliedmaßen verloren haben oder von Waffen durchbohrt wurden. Feuerschwaden brennen über den Köpfen der Kämpfenden. Der Boden bebt, bricht auf und einige Personen fallen die dunkle Schlucht hinab.

    Die Sonne brennt heiß über der steppenähnlichen Landschaft, in der es nichts gibt außer Sand und Dürre.

    »Horaz, pass auf!«, höre ich eine bekannte Stimme schreien und erkenne in der Menge Anthea. In glänzender Rüstung stürzt sie sich auf einen Taliducz, um Horaz, den ersten Werth, zu beschützen. Ihr Körper ist dabei von magischen Barrieren umgeben.

    Horaz? Dann waren die Kerle vorhin Horaz und

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