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Lehmbau: Mit Lehm ökologisch planen und bauen
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eBook1.148 Seiten8 Stunden

Lehmbau: Mit Lehm ökologisch planen und bauen

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Über dieses E-Book

Bauen mit Lehm ist wieder „alltäglich“ geworden. Verbunden mit dieser Entwicklung entstand in den letzten Jahren ein enormer Zuwachs an Informationen auf diesem Fachgebiet.
Das Buch schafft Transparenz mit einem aktuellen Überblick zur gesamten Thematik. Der Autor berücksichtigt dabei die bauökologischen Aspekte und erläutert detailliert die Zyklusstufen Gewinnung und Klassifizierung von Baulehm, die Herstellung von Lehmbaustoffen und deren Konstruktionen, Planung und Bauausführung bis hin zum Gebäudeabbruch und -recycling von Lehmbauten. Jeder Abschnitt enthält die jeweiligen relevanten Prüfverfahren.
Die 2. Auflage berücksichtigt die aktuellen Entwicklungen im Hinblick auf die neue Lehmbau-Norm.
SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer Vieweg
Erscheinungsdatum22. Nov. 2018
ISBN9783658231217
Lehmbau: Mit Lehm ökologisch planen und bauen

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    Buchvorschau

    Lehmbau - Horst Schroeder

    © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019

    Horst SchroederLehmbauhttps://doi.org/10.1007/978-3-658-23121-7_1

    1. Entwicklung des Lehmbaus

    Horst Schroeder¹ 

    (1)

    German Assoc. for Building with Earth, Weimar, Deutschland

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    Um 10.000 v. u. Z. setzte in der Geschichte der Menschheit ein entscheidender Wandel ein: die bis dahin vorherrschende Form der Nahrungsbeschaffung durch Jagen und Sammeln wurde allmählich ersetzt durch Ackerbau und Viehzucht. Diese neue Lebensweise war begleitet von der Notwendigkeit, feste Behausungen für die Menschen und ggf. die Tiere, sowie Bauten für eine Vorratswirtschaft zu errichten. Zu den dafür verwendeten Baustoffen gehörte neben Naturstein und Holz vor allem der Lehm.

    1.1 Historische Wurzeln des Bauens mit Lehm

    Je nach vorherrschendem Klima und Vegetation, sowie den jeweiligen geologischen Gegebenheiten haben sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte verschiedenartige Bauweisen und Konstruktionsformen herausgebildet: In trocken-heißen Klimaten ohne bedeutende Holzvorkommen dominieren massive Konstruktionen, d. h. der Lehm in der Wand hat lastabtragende Funktion. Hinzu kommt die Aufgabe eines „Hitzepuffers" gegen die intensive Sonneneinstrahlung. In Übergangsklimaten oder Bergregionen mit reichen Holzvorkommen sind Skelettkonstruktionen vorherrschend: Die Lastabtragung im Gebäude übernimmt ein gesondertes Skelett aus Holz. Der Lehm, oft in Kombination mit Stein, dient zur Ausfachung und hat raumumschließende Funktion. Hier gibt es auch Übergangsformen aus beiden Systemen.

    Beide Bauweisen lassen sich in den verschiedenen Regionen der Welt Jahrtausende weit in die Geschichte zurückverfolgen.

    In SW Asien, das die Gebiete der heutigen Türkei, des Iran, Iraks, Libanons, Syriens, Jordaniens und Israels umfasst, setzte nach heutigen Erkenntnissen der Übergang zur Sesshaftwerdung des Menschen zuerst ein. Dementsprechend lassen sich die ersten festen Hauskonstruktionen aus der Zeit um 10.000 v. u. Z. auch in dieser Region archäologisch nachweisen.

    Zu den ältesten, festen Hauskonstruktionen aus Lehmbaustoffen gehören jene im Gebiet des heutigen Anatolien in der Türkei und in Palästina (Abb. 1.1, 1.2 und 1.3). Die ca. 8000 Jahre alten Hauskonstruktionen von Çatal Höyük, Anatolien wiesen schon einen erstaunlich hohen Standard auf. Die tragenden Außenwände bestanden aus Lehmsteinen mit innen liegenden Holzstützen zur Aufnahme der Dachkonstruktion . Diese war als Flachdach aus Knüppelholz mit Gräsern bzw. Schilf und einem Lehmschlag als Abdichtung gegen Regenwasser ausgebildet. Der Zugang in die Häuser erfolgte über das Dach. Die einzelnen Häuser selbst waren wie Bienenwaben aneinander stoßend angeordnet [1.1].

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    Abb. 1.1

    Modellskizze eines Lehmsteinhauses aus Çatal Höyük, Anatolien, Türkei, ca. 6000 v.d.Z. [1.1]

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    Abb. 1.2

    Archäologische Grabungsstätte Çatal Höyük, Anatolien/Türkei, ca. 6000 v. u. Z.

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    Abb. 1.3

    Konstruktionen aus Lehmsteinen: Jericho, Palästina/Israel, ca. 6000 v. u. Z.

    China ist in weiten Gebieten seines Territoriums mit Lehm, vor allem Lösslehm, bedeckt. Tragende Konstruktionen aus Lehm wie auch Skelettkonstruktionen mit Lehmbaustoffen sind hier über einen Zeitraum von mehreren tausend Jahren nachweisbar.

    Abb. 1.4 gibt eine historische Darstellung der Stampflehmbau weise wieder, die mit folgender Geschichte verbunden ist: Fu Yueh, Minister eines Herrschers der Shang – Dynastie (um 1320 v. u. Z.), soll der Erfinder dieser Technologie und der erste „Stampflehm-Baumeister" sein. Nach der Legende kam Fu Yueh auf merkwürdige Weise in sein Amt: Der Kaiser träumte eines Tages so lebhaft von einem weisen und tüchtigen Manne, dass er darüber erwachte und ein Bild von der Traumgestalt anfertigen ließ. Er schickte Boten mit dem Bild des Mannes durch das Land und ließ nach ihm suchen. Die Boten trafen auf Fu Yueh, der der Figur auf dem Bilde glich und gerade mit dem Errichten eines Stampflehmhauses beschäftigt war. Diese Szene ist auf dem Bild dargestellt. Er wurde an den Hof berufen und zum Minister ernannt [1.2].

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    Abb. 1.4

    Lehmstampfbau im Alten China, Shang-Dynastie, ca. 1320 v. u. Z. [1.2]

    Aber auch die Herstellung und die Verarbeitung von Lehmsteinen sind in China seit Jahrtausenden bekannt. Abb. 1.5 zeigt die Herstellung von Lehmsteinen zur Zeit der Ming-Dynastie [1.3].

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    Abb. 1.5

    Herstellung von Lehmsteinen im Alten China zur Zeit der Ming-Dynastie [1.3]

    Das größte und bekannteste Bauwerk Chinas ist die Große Chinesische Mauer. Es ist zugleich auch das größte Bauwerk, das je von Menschen errichtet wurde. Mit einer heute bekannten Gesamtlänge von etwa 50.000 km wurde ca. 2000 Jahre an der Mauer gebaut und je nach örtlicher Verfügbarkeit Holz, Stein und Lehm, auch als gebrannte Ziegel, sowie vegetabiles Material zur Bewehrung verarbeitet. In Abb. 1.6 ist ein Abschnitt der Mauer aus der Quin-Dynastie dargestellt, der vor 2200 Jahren aus Stampflehm errichtet wurde [1.4].

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    Abb. 1.6

    Die Große Chinesische Mauer, Abschnitt Provinz Gansu, ca. 220 v. u. Z. [1.4]

    Ein klassisches Lehmbauland mit einer ebenfalls Jahrtausende alten Bautradition ist Ägypten. Die jährlichen Hochwasser des Nil brachten fruchtbaren Schlamm aus dem äthiopischen Hochland, der in der Sonne trocknete und dadurch Festigkeit erhielt, bei erneuter Befeuchtung aber wieder plastisch wurde. Diese grundlegende Erkenntnis bildete die Basis für die Herstellung luftgetrockneter Schlammziegel, deren Haltbarkeit und Festigkeit durch die Zugabe von Sand oder pflanzlichen Fasern erhöht oder durch Brennen sogar noch weiter verbessert werden konnte. Im Alten Testament wird die Verwendung von Strohhäcksel für die Herstellung von Lehmsteinen beschrieben [Exodus 5,7 f.; 16.18 f].

    Abb. 1.7 zeigt in einer Darstellung aus der Zeit um 1500 v. u. Z. die einzelnen technologischen Teilschritte für die Herstellung von Lehmsteinen von der Aufbereitung des Lehms bis zur Verarbeitung [1.5]. Die symbolische Darstellung der zu dieser Zeit herrschenden Königin Hatschepsut als Baumeisterin bei der Herstellung von Lehmsteinen unterstreicht die Bedeutung dieser Tätigkeit, Abb. 1.8 [1.6]. In Ägypten kann man auch den Ursprung des Gewölbebaus mit an der Luft getrockneten Lehmsteinen nachweisen. Abb. 1.9 zeigt ein Lehmsteingewölbe für einen Lagerraum der Grabanlage Ramses II. aus der Zeit um 1300 v. u. Z.

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    Abb. 1.7

    Herstellung von Lehmsteinen im Alten Ägypten, ca. 1500 v. u. Z.; Darstellung im Grabmal des Großwesirs Rechmire, Theben-West [1.5]

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    Abb. 1.8

    Königin Hatschepsut bei der Herstellung von Lehmsteinen aus Nilschlamm, ca. 1500 v. u. Z. [1.6]

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    Abb. 1.9

    Lehmsteingewölbe nahe Luxor/Ägypten, ca. 1300 v. u. Z.

    Im Gebiet des holzarmen, aber lehmreichen Zweistromlandes zwischen Euphrat und Tigris, in Afghanistan und Iran belegen archäologische Funde ebenfalls eine Jahrtausende zurückreichende Lehmbautradition . In Abb. 1.10 sind luftgetrocknete Lehmsteine aus verschiedenen Teilen dieser Region dargestellt [1.7]. Sie machen die bereits weit entwickelte Technik der Vorfertigung von Bauelementen deutlich:

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    Abb. 1.10

    Luftgetrocknete Lehmsteine u. vorgefertigte Konstruktionselemente in Mesopotamien u. Afghanistan, 4. Jahrtausend – 6. Jh. v. u. Z. [1.7]

    In dieser Region wurden auch große religiöse Bauten mit Lehmsteinen errichtet. Sie hatten die Form von Pyramiden und waren in ihren Ausmaßen mit jenen in Ägypten vergleichbar. Abb. 1.11 vermittelt einen Eindruck vom Zustand der Pyramide (Zikkurat) von Chogha Zanbil nach der Restaurierung. Sie wurde errichtet von elamitischen Herrschern um 1500 v. u. Z. im heutigen Iran [1.8]. Auch der Turmbau zu Babel [Altes Testament, Genesis 11,3] gehört zu dieser Gebäudekategorie. Er wurde aus luftgetrockneten Lehmsteinen mit einer äußeren Verkleidung aus gebrannten Ziegeln errichtet.

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    Abb. 1.11

    Zikkurat Chogha Zanbil, Iran, ca. 1250 v. u. Z. [1.8]

    Aus dieser Region sind auch die ältesten, bisher bekannten schriftlichen Regeln zum Bauen mit Lehm aus der Zeit des babylonischen Herrschers Hammurabi auf gebrannten Tontafeln überliefert. Dieser lebte um 1800 v. u. Z. [1.9].

    Die nach Norden anschließenden zentralasiatischen Steppen- und Wüstengebiete Turkmeniens, Usbekistans und Kasachstans stellen ebenfalls eine Jahrtausende alte Kulturregion dar, in der Lehm als Baustoff seit mehr als fünf Jahrtausenden verwendet wurde [1.10]. Abb. 1.12 zeigt Ruinen der antiken Stadt Afrasiab, der Vorgängerin des heutigen Samarkand in Usbekistan, die im 13. Jh. während des Mongolenansturms durch Dshingis-Khan vollständig zerstört wurde. Die heutigen Städte Samarkand, Buchara, Chiwa haben eine mehr als 2500-jährige Geschichte und Lehmbautradition.

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    Abb. 1.12

    Lehmsteinmauern der Stadt Afrasiab, dem heutigen Samarkand, Usbekistan

    Am Fluss Indus im heutigen Pakistan liegt Moenjodaro, eine Stadt aus Lehmsteinen gebaut, deren Anfänge in das 3. Jahrtausend v. u. Z. zurück reichen [1.11].

    Auch in der sog. Neuen Welt, im präkolumbianischen Peru, waren verschiedene Lehmbautechniken bekannt. Für die Sonnenpyramide von Moche (ca. 200–500 u. Z.) mit einem Grundriss von 120 × 120 m² wurden nach Schätzungen 130 Millionen luftgetrocknete Lehmsteine verbaut. Die größte Stadt des präkolumbianischen Amerikas Chan Chan hatte im 14./15. Jh. ca. 60.000 Einwohner. Die heute noch 25 km² große Stadt ist von großen Lehmstein-Trümmerbergen bedeckt. Die rechtwinklig angelegten Stadtviertel waren von hohen Mauern aus Lehmsteinen umgeben. Auch die Stampflehmtechnologie war bekannt.

    Abb. 1.13 zeigt eine in Stampflehm ausgeführte Wand eines Palastes in Chan Chan, deren Oberfläche mit Friesen verziert ist (13. Jh. u. Z.) [1.8].

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    Abb. 1.13

    Ruinen eines Palastes aus Stampflehm, errichtet im 13. Jh. u. Z. in Chan Chan im heutigen Peru [1.8]

    Auch in Nordamerika reicht die Tradition des Hausbaus weit in die Vergangenheit zurück. Abb. 1.14a zeigt das Prinzip eines Grubenhauses der Pueblo-Indianer (Arizona, New Mexico) mit einer Stützenkonstruktion aus Holzständern für das Flachdach und einem Lehmschlag als Abdeckung und einem Hauszugang über eine Leiter in einer Dachöffnung (ca. 2. Jh. u. Z.) [1.12]. Diese Hauskonstruktion besitzt eine verblüffende Ähnlichkeit mit den neolithischen Lehmsteinhäusern von Çatal Höyük, Anatolien (Abb. 1.1), die ebenfalls über das Dach „betreten" wurden.

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    Abb. 1.14

    Lehmhäuser der Pueblo-Indianer im SW der USA

    Im kleinen Ort Taos im Tal des Rio Grande nördlich von Santa Fe im US-Bundesstaat New Mexico hat sich bis heute eine im Kern auf das 13./14. Jh. zurückgehende Siedlung der Pueblo-Indianer erhalten, deren Bauweise ihren Ursprung im Grubenhaus hat. Die Häuser sind ebenerdig, ebenso die Zugänge, und bis zu vier Geschosse hoch (Abb. 1.14b). Die Hauswände wurden aus Lehmsteinen hergestellt. Sie werden einmal im Jahr frisch mit Lehmmörtel verputzt. Das „Pueblo de Taos" gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe.

    1.2 Lehmbau als kulturelles Erbe

    Im Laufe der Jahrhunderte ist in vielen Teilen der Welt das Wissen um historische Lehmbautechniken verloren gegangen. „Moderne" Baustoffe wie Beton und Zement beginnen den Lehm auch in den ärmsten Entwicklungsländern zu verdrängen oder haben es bereits getan. Lehm wird hier oft mit Armut gleichgesetzt. Wer es sich leisten kann, baut besonders in städtischen Gebieten mit Beton oder gebrannten Ziegeln. Dennoch hat Lehm als Baustoff in der täglichen Baupraxis vor allem der ländlichen Regionen der Entwicklungsländer bis heute überdauert.

    Es ist insbesondere der internationalen Aktivität der Organisationen ICOMOS und CRATerre auf dem Gebiet der Erhaltung traditioneller Lehmarchitektur zu verdanken, dass in vielen Ländern der Dritten Welt das Bauen mit Lehm heute wieder als Teil der eigenen kulturellen Identität verstanden wird. Die Arbeit von ICOMOS ist in einer Reihe von spezialisierten Arbeitsgruppen auf die Erhaltung von historischen Baukonstruktionen konzentriert, darunter auch das International Committee for Earthen Architectural Heritage ISCEAH für den Bereich des Lehmbaus (http://​isceah.​icomos.​org).

    Die Aufnahme von historischen Lehmbauten in die Liste der Baudenkmale des Weltkulturerbes der UNESCO [1.13] hat in den betreffenden Ländern Anstoß für einen Sinneswandel gegeben: aus vermeintlicher Ärmlichkeit wird allmählich Stolz auf eigene historische bautechnische Leistungen. Von den im Jahr 2013 in die Liste des Weltkulturerbes eingetragenen 759 Kulturdenkmalen sind 143 oder 19 % teilweise oder vollständig aus Lehm, darunter die Große Chinesische Mauer, die Lehm-„Hochhäuser" in Shibam, Jemen, die berühmte Alhambra in Granada, Spanien (Abb. 1.15) oder der Potala-Palast des Dalai Lama in Lhasa, Tibet [1.14].

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    Abb. 1.15

    Weltkultuerbe der UNESCO

    Mit dem Status eines Baudenkmals verbunden ist die Verpflichtung zur Einhaltung von Grundsätzen zur Erhaltung und Restaurierung der historischen Bausubstanz entsprechend der Charta von Venedig, auf die sich die Teilnehmer des II. Internationalen Kongresses der Architekten und Techniker der Denkmalpflege 1964 verständigt hatten.

    Im Umfeld sanierter Lehmbau-Denkmale entsteht heute in Entwicklungsländern „sanfter" Tourismus, der zu dringend benötigten Deviseneinnahmen führt. Als Beispiel für diese Entwicklung zeigt Abb. 1.15b Häuser aus Stampflehm in Ait Benhaddou, Südmarokko, die zur Welterbeliste der UNESCO gehören. Diese Gebäude belegen eindrucksvoll die bautechnischen Fähigkeiten und Fertigkeiten ihrer Erbauer. Obwohl diese Bauweise heute noch vor allem in der ländlichen Bevölkerung von älteren Menschen beherrscht wird, gerät sie in Gefahr, vergessen zu werden. Die Ursachen sind in tiefgreifenden Veränderungen des Bauprozesses an sich zu sehen: Während das Bauen früher vor allem Angelegenheit der Dorfgemeinschaft oder Großfamilie war, übernehmen diese Aufgabe heute auch kleine Handwerksbetriebe und Unternehmer gegen Bezahlung.

    Um spezielle Lehmbautechniken vor dem Vergessen zu bewahren, ist der Weg zu musealen Einrichtungen, ähnlich unseren Freilichtmuseen, vorgezeichnet. In diesem Zusammenhang ist die Dokumentation gefährdeter historischer Lehmbausubstanz, aber auch traditioneller Techniken als Teil der kulturellen Identität von großer Bedeutung.

    Im Rahmen eines von der EU geförderten Projektes wurde 2011 ein „Atlas des Lehmbau-Kulturerbes in der Europäischen Union" vorgelegt, an dessen Erarbeitung 50 Autoren aus 27 europäischen Ländern beteiligt waren [1.15]. Der Atlas ist auf der Internetseite www.​culture-terra-incognita.​org verfügbar. Dargestellt werden die Verbreitungsgebiete für die Lehmbautechniken Fachwerk mit verschiedenen Ausfachungstechniken, Lehmsteinmauerwerk, Stampflehm und Lehmwellerbau. Die Darstellung der entsprechenden Verbreitungsgebiete für Deutschland beruht auf einer ungenügenden Datenbasis. Eine entsprechende Karte auf der Grundlage von Geoinformationssystemen GIS befindet sich deshalb im Aufbau (http://​dev.​lehmbau-atlas.​de).

    In verschiedenen europäischen Ländern und Region sind solche „Inventarisierungen" bereits durchgeführt worden, z. B. in Frankreich [1.16], Portugal [1.17], [1.18] in Tschechien [1.19] (http://​hlina.​info/​cs.​html) und Italien [1.20].

    Seit über 40 Jahren widmet sich die private Organisation World Monuments Fund WMF (www.​wmf.​org) der Bewahrung besonders bedrohter Baudenkmale vor weiterem Zerfall oder Zerstörung. Besonders bedroht sind Baudenkmale an isolierten, schwer zugänglichen Orten und in Kriegsgebieten. Die Organisation WMF gibt alle 2 Jahre eine Liste der 100 am meisten gefährdeten Baudenkmale heraus. Damit soll auf die bedrohliche Situation der Baudenkmale aufmerksam gemacht und weltweit Sponsoren für dringend notwendige Sicherungsarbeiten gefunden werden.

    1.3 Historische Entwicklung des Lehmbaus in Deutschland

    Vor etwa acht Jahrtausenden drangen Ackerbau und Viehzucht nur zögernd von Südosten über Handelswege nach Mitteleuropa und in das Gebiet des heutigen Deutschland vor. Holz und Lehm zum Hausbau standen fast überall zur Verfügung. Die Hausplanung musste hier jedoch im Vergleich zu den Häusern des östlichen Mittelmeerraums grundlegend verändert werden. Denn hier war es nicht die Sommerhitze, sondern Niederschläge und die Kälte im Winter, vor denen die Häuser ihre Bewohner und deren Vieh und Vorräte schützen mussten.

    Anhand von Pfostenlöchern, die sich als kreisrunde dunkle Verfärbungen vom umgebenden Baugrund abheben, lassen sich heute die Hausstrukturen aus dieser Zeit rekonstruieren. Das Bauprinzip dieser Häuser waren Pfostenkonstruktionen mit einem Geflecht aus Zweigen als Tragskelett für einen Bewurf aus Strohlehm (Abb. 1.16) [1.1]. Rekonstruktionen dieser frühen Holzständerbauten kann man heute in verschiedenen Freilichtmuseen besichtigen, in Thüringen z. B. in Oberdorla oder im Thüringischen Landesamt f. Archäologie u. Denkmalpflege in Weimar (Abb. 1.17) [1.21].

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    Abb. 1.16

    Langhaus der mitteleuropäischen Waldbauern, ca. 4000 v. u. Z. [1.1]

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    Abb. 1.17

    Modell eines jungsteinzeitlichen Langhauses in Pfostenbauweise mit Lehmbewurf, Thüringisches Landesamt f. Archäologie u. Denkmalpflege, Weimar [1.21]

    Im Zuge des Neubaus der BAB A71 wurde bei Erfurt – Gispersleben erst vor wenigen Jahren eine der bisher größten jungsteinzeitlichen Siedlungen in Mitteleuropa aus der Zeit ca. 4500 v. u. Z. archäologisch nachgewiesen. Hausstrukturen aus etwa der gleichen Zeit entdeckte man beim Aushub der Baugrube für das Tiefenmagazin der Herzogin Anna Amalia Bibliothek im Stadtzentrum von Weimar. Eine Studienarbeit an der Bauhaus-Universität Weimar in Kooperation mit dem Thüringischen Landesamt für Archäologische Denkmalpflege beschäftigte sich mit historischen Aspekten des Lehmbaus aus dieser Zeit [1.21].

    Das älteste schriftliche Zeugnis über das Bauen mit Lehm in Deutschland findet sich in dem Bericht „Germania" des römischen Schriftstellers Tacitus aus der Zeit um etwa 100 u. Z. Nach dieser Beschreibung waren die Häuser den ca. 4000 Jahre älteren Häusern der frühen Waldbauern noch recht ähnlich. Ihre Wände bestanden aus Holzpfosten, die in den Baugrund eingerammt oder eingegraben wurden. Die Öffnungen zwischen den Pfosten wurden mit einem Flechtwerk aus Weidenruten ausgefüllt und mit einem breiig aufbereiteten Strohlehmgemisch raumumschließend überzogen.

    Aus diesen Pfostenhäusern mit Flechtwerkwänden und Lehmbewurf hat sich später vermutlich eine tragende Lehmbauweise entwickelt, die heute in Mitteldeutschland als Wellerlehmbauweise bekannt ist. Der Lehmbewurf umhüllte, wahrscheinlich als Folge ständiger Reparaturen über die Nutzungsdauer des Gebäudes, aber auch aus Gründen des Brandschutzes , die tragenden Pfosten mit dem Flechtwerk schließlich mehrere Dezimeter stark, so dass irgendwann die Funktion der Tragstruktur auf den Lehmbaustoff überging und man auf Pfosten und Flechtwerk ganz verzichtete.

    Diesen allmählichen Übergang hat Behm-Blancke [1.22] für die Region um Weimar auf die Zeit nach dem 9. Jh. u. Z. datiert. So wurden Reste einer massiven Lehmwand vermutlich in Wellerlehmbauweise aus dem 10.–11. Jh. an einem frühmittelalterlichen Gehöft im Stadtgebiet von Weimar nachgewiesen [1.23]. Ab dieser Zeit ist die Verwendung von Kalksteinplatten für Wandsockel belegt. In den Sockelplatten konnten keine Vertiefungen für die Aufnahme von Holzständern nachgewiesen werden, dafür aber „abgestürzter Lehm, der die Platten umgab, so dass von „tragenden Lehmwänden ausgegangen wird. In der archäologischen Literatur wird in diesem Zusammenhang von „Stampfwänden" gesprochen. Wahrscheinlicher sind jedoch Wellerwände. Der schalungsgebundene Stampflehm bau setzte sich in Deutschland erst um die Wende des 18.–19. Jh. durch. Das älteste bekannte, inzwischen jedoch abgebrochene Zeugnis der Wellerlehmbauweise in Mittelthüringen ist ein Wohnstallhaus von 1577 in Wülfershausen bei Arnstadt [1.24].

    Das bislang älteste bekannt gewordene Beispiel für eine tragende Lehmsteinbauweise nördlich der Alpen ist die Heuneburg an der Donau, südwestlich von Ulm aus der Zeit um 500 v. u. Z. Sie entstand vermutlich unter keltischem Einfluss, also noch lange vor der römischen Besetzung. Denkbar sind aber auch Verbindungen über die Donau zur griechischen Baukultur, denn hier war die Verarbeitung von Lehmsteinen zu tragenden Wandkonstruktionen bereits seit langem bekannt.

    Eine zweite Entwicklungsrichtung der neolithischen Flechtwerkwände mit Lehmbewurf führt zu den Fachwerkkonstruktionen. Die Fachwerkbauweise mit regional unterschiedlichen stilistischen Ausprägungen charakterisierte über Jahrhunderte bis in die Gegenwart das architektonische Erscheinungsbild städtischer Siedlungen und ländlicher Räume in Deutschland und anderen europäischen, aber auch asiatischen Ländern. Abb. 1.18 verdeutlicht die Entwicklung des tragenden Holzskelettes vom frühen Pfostenhaus mit Firstsäule, Flechtwerk und Lehmbewurf über das Mittelsäulenhaus mit Ankerbalken bis zum Fachwerksaufbau mit Stockwerksrähm [1.25].

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    Abb. 1.18

    Entwicklung der Tragstrukturen vom Pfostenhaus zur Fachwerkkonstruktion [1.25]

    Die in den Baugrund eingesetzten, frei stehenden Holzpfosten wurden wegen der Fäulnisgefahr aus dem Boden herausgehoben und schließlich auf ein Fundament aus Steinplatten gesetzt. Aus dem Pfostenhaus wurde ein Ständerhaus. Durch den Wegfall der Einspannwirkung des Baugrundes wurden nun die einzelnen Bauteile Längswand, Querwand, Decke und Dach als scheibenartige, selbsttragende Systeme aus miteinander verzapften senkrechten Ständern, horizontalen Schwellen und Riegeln und schräg gestellten Streben ausgebildet. Die Öffnungen zwischen den vertikalen, horizontalen und schräg gestellten Hölzern, die Gefache, wurden wie bei den frühen Pfostenbauten mit einem Flechtwerk aus Staken und biegsamen Zweigen ausgefüllt und mit Strohlehm verschlossen.

    Eine ganze Reihe verschiedener Ausfachungstechniken ist heute noch belegbar. Abb. 1.19 zeigt von Volhard [1.26] durchgeführte Gefachanalysen in einem Fachwerkhaus aus dem Jahr 1289, dem Gotischen Haus in Limburg a. d. Lahn (vgl. Abb.​ 4.​1). Deutlich ist die Art des Antrags der Strohlehmmischung zu erkennen.

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    Abb. 1.19

    „Gotisches Haus" Limburg a.d. Lahn, Flechtwerk u. Strohlehmaufträge [1.26]

    Das Aufstreben der Städte in Mitteleuropa etwa ab dem 12.–13. Jh. führte zu Mangel an Bauplätzen und damit zur Notwendigkeit der Ausbildung eines zweiten Geschosses. Bevölkerungswachstum und damit verbundene Stadtbrände, aber auch Kriegszerstörungen bewirkten die Verknappung von Holz als bevorzugtem Baustoff, so dass Lehm als „feuerfestes", fast überall verfügbares Material an Bedeutung gewann. Diese Tatsache fand ihren Ausdruck auch in der Bildung eigener Zünfte, die in etwa heutigen Handwerkskammern entsprechen. Abb. 1.20 zeigt den „Claiber Hans Pühler, gest. 1608 in Nürnberg, auf einer Darstellung aus den Hausbüchern der Zwölfbrüderstiftungen [1.27] [1.28]. Erhalten geblieben ist aus dieser Zeit der Familienname „Kleiber als alte Bezeichnung für den Beruf des Lehmbauers.

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    Abb. 1.20

    Darstellung des Kleibers Hans Pühler, (gest. 1608 in Nürnberg) aus den Hausbüchern der Zwölf Brüder Stiftungen Nürnberg [1.27] [1.28] (Stadtbibliothek Nürnberg, Amb. 317b.2°, f. 76r)

    Die zunehmende Holzknappheit wurde zu einer maßgeblichen Triebkraft für die Entwicklung des Lehmbaus in Mitteleuropa, was auch durch schriftlich fixierte Bauregelungen nachzuvollziehen ist. Um den Verbrauch von Bauholz einzuschränken, forderte die sächsische „Forst- und Holzordnung von 1560 ein Erdgeschoss aus Stein oder Lehm. Nach der 1575 erlassenen „Generalbestallung für die Forstbedienten sollte nur dann Bauholz freigegeben werden, wenn das Erdgeschoss „nicht von Steinen oder Lehmwellerwänden" gebaut werden konnte. Die Ernestinische Landesordnung von 1556 verbot in Thüringen die reine Holzbauweise und erlaubte nur noch Neubauten aus Fachwerk, Wellerlehm, Ziegeln oder Steinen (Abb. 1.21) [1.29]. Kriegerische Auseinandersetzungen und deren Folgen in Mitteleuropa führten Mitte des 18. Jh. auch zur Einführung neuer Bauordnungen, wobei der Baustoff Lehm eine wichtige Rolle spielte (Österreich (1753) zur Verwendung ungebrannter („ägyptischer") Ziegel [1.30], Preußen (1764), Sachsen (1786), den Bau von Wellerwänden betreffend [1.31]).

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    Abb. 1.21

    Auszug aus Abs. LXIIII der Thüringischen (oder Ernestinischen) Landesordnung, eingeführt 1556 (Polizei- und Landesordnung von 1556, gedruckt 1580 in Jena)

    Der französische Baumeister und Architekt François Cointereaux veröffentlichte Ende des 18. Jh. eine Reihe von Schriften, die die in Frankreich vorhandenen Erfahrungen zur Stampflehmbauweise (frz. Pisé) zusammenfassten und deren Entwicklung auch in Deutschland maßgeblich beeinflussten [1.32]. Ausführlich werden Baustoff, Technologie und Konstruktion dargestellt und als eine Einheit behandelt. Hinweise zur Aufbereitung und Verarbeitung der Lehmbaustoffe sowie eine detaillierte Beschreibung der dazu erforderlichen Geräte und Arbeitsmittel machen diese Schriften zum ersten modernen „Fachbuch" des Lehmbaus.

    In Preußen war es vor allem der Königlich-Preußische Oberbaurat David Gilly, der zur Verbreitung dieser Bauweise in Preußen und Schlesien beitrug. Abb. 1.22 zeigt Gilly auf einem zeitgenössischen Stich von Ludwig Wilhelm Chodowiecki aus dem Jahre 1790 [1.31]. Unter dem Einfluss dieser Schriften führte in Hessen Regierungs-Advokat Wimpf mehrgeschossige Wohnhäuser in Stampflehmbauweise aus. Ein sechsgeschossiges, um 1830 in Weilburg/Lahn errichtetes Wohngebäude ist heute noch voll funktionstüchtig und gilt als das höchste Stampflehmhaus in Deutschland (Abb. 1.23).

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    Abb. 1.22

    David Gilly, preußischer Landbaumeister und Förderer des Lehmbaus, nach einer Darstellung v. L.W. Chodowiecki 1790 [1.31]

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    Abb. 1.23

    Sechsgeschossiges Wohnhaus aus Stampflehm in Weilburg a. d. Lahn, errichtet um 1830 durch W. J. Wimpf

    Grundlegende technische Neuerungen bei Feuerungsanlagen und im Maschinenbau im 19. Jh. hatten auch tiefgreifende Veränderungen in der Bauindustrie zur Folge: Die massenhafte Förderung von Stein- und Braunkohle für moderne Brennöfen und die spätere Umstellung auf Gas- und Ölfeuerung führte zur Industrialisierung der Ziegelherstellung. Die Entwicklung der Zementindustrie und damit auch die der Baustoffe Beton und Stahlbeton wäre ohne den Übergang von der Holz- zur Kohlefeuerung (später Öl und Gas) nicht möglich gewesen.

    Das Ziel war die Erhöhung der Festigkeiten der Baustoffe und damit die Verringerung der erforderlichen Dimensionen der Bauteile für denselben Zweck. Dies gelang vor allem mit der Kombination der Baustoffe Stahl und Beton. Es gelang aber nicht, auch Lehmbaustoffe mit ihren begrenzten Festigkeiten, außerdem noch mit dem Mangel der Wasserempfindlichkeit behaftet, dieser Entwicklung anzupassen. Lehm als Baustoff wurde deshalb mehr und mehr zurückgedrängt und verlor schließlich ganz an Bedeutung.

    Jeweils während und nach beiden Weltkriegen des 20. Jh. erlangte Lehm als Baustoff nochmals Bedeutung, vor allem aber deshalb, weil Industrieanlagen zur Herstellung von Baustoffen weitgehend zerstört waren und Transportmöglichkeiten nicht zur Verfügung standen.

    Der „Nachkriegs" – Lehmbau hatte für das Gebiet der DDR besondere Bedeutung: zu den Millionen obdachlos gewordener Menschen kamen weitere Millionen Flüchtlinge aus den als Kriegsfolge verlorenen Ostgebieten hinzu. Binnen kurzer Zeit musste mit den vorhandenen Baustoffen, dazu gehörte auch der Lehm, Wohnraum geschaffen werden. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang der Befehl Nr. 209 der Sowjetischen Militärverwaltung, nach dem 200.000 Neubauernhäuser errichtet werden sollten, davon mindestens 40 % aus natürlichen und örtlich verfügbaren Baustoffen.

    Wieder wurde der Baustoff Lehm Gegenstand staatlicher Verordnungen, aber auch Hochschulen befassten sich nun mit diesem Material. Aus dieser Zeit sind in Ostdeutschland vor allem Projekte für Neubauernhöfe und –siedlungen in verschiedenen Lehmbauweisen bekannt, die an der Hochschule für Baukunst und bildende Künste Weimar, einer Vorgängerin der heutigen Bauhaus-Universität, ausgearbeitet wurden [1.33]. Die Abb. 1.24 und 1.25 zeigen zwei verschiedene Typen als realisierte Beispiele: Fachwerkbauweise mit Lehmsteinausfachung und massive Lehmsteinbauweise [1.34]. Aus der gleichen Hochschule stammen die Entwürfe für zweigeschossige Wohnhäuser in Stampflehmbauweise, darunter ein 1951 in Gotha ausgeführtes 18-Familienhaus [1.35]. Abb. 1.26 zeigt ein saniertes Mehrfamilienhaus aus Stampflehm aus den 1950er Jahren in Mücheln im Geiseltal bei Merseburg mit einem Wandfries, in dem die Lehmbauweise der Erbauungszeit dargestellt wird.

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    Abb. 1.24

    Neubauernhof in Fachwerkbauweise mit Lehmsteinausfachung, 1947 [1.33]

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    Abb. 1.25

    Neubauernhof in Lehmsteinbauweise, tragend, 1946 [1.34]

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    Abb. 1.26

    Mehrfamilienhaus in Stampflehmbauweise in Mücheln im Geiseltal bei Merseburg, Bauzeit 1950er Jahre mit Wandfries

    Die Geschichte des Lehmbaus in der ehemaligen Sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR wurde von Rath [1.36] aufgearbeitet. Der Lehmbau hatte in dieser Zeit in der DDR einen hohen technologischen Standard erreicht, von dem z. B. auch die Neulandbewegung in der Sowjetunion, vor allem in Kasachstan, profitierte [1.37]. Ein Wohnungsbauprojekt in Stampflehmbauweise wurde im Rahmen eines Wiederaufbauprogramms in den 1950er Jahren in Hamhung, Nordkorea realisiert.

    Etwa ab 1960 wurde auch in der DDR nicht mehr mit Lehm gebaut, weil politische Entscheidungen die Industrialisierung der Prozesse bei der Herstellung von Baustoffen und im Wohnungsbau vorgaben.

    1.4 Lehmbau heute – ökologische und wirtschaftliche Aspekte

    Nach dem Bericht „Grenzen des Wachstums" an den Club of Rome (Meadows, 1972), nach den Erfahrungen mit der ersten globalen Ölkrise von 1973 setzte sich die Erkenntnis durch, dass der Energieverbrauch nicht ungebremst und parallel zum Wirtschaftswachstum verlaufen kann. Diese Erkenntnis wird heute auf den Ressourcenverbrauch als Ganzes übertragen.

    Im 5. Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change 2013 (IPCC) [1.38] wird festgestellt, dass die atmosphärische Konzentration der Treibhausgase (Kohlendioxid CO2, Methan CH4, Stickoxid N2O) seit Beginn der industriellen Revolution um 1750 bis zum Jahr 2011 um 40 % zugenommen hat. Dabei ist die Zuwachsrate der letzten 10 Jahre die größte seit 50 Jahren.

    Die Zunahme der CO2-Konzentration gilt als anthropogen und als eine der Ursachen für den „Treibhauseffekt" in der Atmosphäre mit einer globalen Erwärmung als Folgeerscheinung. Die bisher sichtbaren Auswirkungen sind im IPCC-Report im Einzelnen aufgelistet. So hat die globale Oberflächentemperatur im Zeitraum 2003–2012 um 0,78 °C im Vergleich zur Periode 1850–1900 zugenommen.

    Der Meeresspiegel ist seit 1993 um ca. 3 mm pro Jahr gestiegen, im 20. Jh. um insgesamt 17 cm. Auch die Wassertemperatur der Meere erhöht sich. Zugleich wird das Wasser durch erhöhte CO2-Aufnahme saurer, was sich negativ auf das Wachstum von Lebewesen im Meer (Korallen, Muscheln) auswirkt.

    1.4.1 Nachhaltiges Bauen

    Im Bericht „Our common future der Brundtland-Kommission an die UN-Kommission für Umwelt und Entwicklung (1987) wurde der Begriff „Nachhaltigkeit erstmals im Sinne einer zukunftsverträglichen Entwicklung der Menschheit angewendet. Eine „nachhaltige Entwicklung gewährleistet, „dass die Bedürfnisse der heutigen Generation befriedigt werden, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zur Realisierung ihrer eigenen Bedürfnisse zu beeinträchtigen [1.39].

    Bauen erzeugt immer einen mehr oder weniger tiefen Eingriff in natürliche Ressourcen und Kreisläufe. Den Begriff „Nachhaltigkeit auf das Bauen zu übertragen bedeutet, dass in allen Lebensphasen eines Gebäudes der Verbrauch vorhandener Ressourcen sowie die Belastung der Umwelt unter Berücksichtigung der Forderungen der Nutzer minimiert werden sollen. Während im Bauprozess nach traditionellem Verständnis vor allem gestalterisch – funktionale, statisch – konstruktive, stoffliche und bauwirtschaftliche Aspekte bewertet wurden, ist Bauen heute zunehmend eine Optimierungsaufgabe, bei der Anforderungen der Nutzer zusätzlich mit Forderungen des Gesetzgebers zum Schutz der Umwelt in Übereinstimmung zu bringen sind. Der Begriff „Nachhaltiges Bauen umfasst deshalb drei Dimensionen, die als gleichwertig und über einen geeigneten Zeithorizont zu betrachten sind [1.40]:

    Ökologie,

    Ökonomie,

    Nutzerinteressen/Soziokulturelles.

    Nach den Grundsätzen des Nachhaltigen Bauens errichtete Gebäude müssen darüber hinaus in allen drei Dimensionen definierten technischen Parametern und einer entsprechenden Qualität in der Planung und der Bauausführung genügen.

    Die allgemeinen Anforderungen an Baustoffe und Bauteile bzgl. ihrer technischen Qualität sind in der Musterbauordnung für die Länder der Bundesrepublik Deutschland (MBO) geregelt. Danach werden Bauprodukte, Baustoffe, Bauteile und Anlagen hergestellt, um dauerhaft in bauliche Anlagen eingebaut zu werden. „Bauprodukte dürfen nur verwendet werden, wenn bei ihrer Verwendung die baulichen Anlagen bei ordnungsgemäßer Instandhaltung während einer dem Zweck angemessenen Zeitdauer die Anforderungen dieses Gesetzes oder aufgrund dieses Gesetzes erfüllen und gebrauchstauglich sind" (MBO, § 3,2).

    Als Grundanforderungen an die Gebrauchstauglichkeit oder die technische und funktionale Qualität der Bauprodukte werden in der MBO folgende Aspekte benannt :

    mechanische Festigkeit und Standsicherheit,

    Brandschutz,

    Hygiene, Gesundheit und Umweltschutz,

    Nutzungssicherheit,

    Schallschutz,

    Energieeinsparung und Wärmeschutz.

    In der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates „Zur Festlegung harmonisierter Bedingungen für die Vermarktung von Bauprodukten" vom März 2011 [1.41] wird eine zusätzliche Anforderung eingeführt: die nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen. Danach müssen Bauwerke derart entworfen und errichtet sowie nach Ende des Gebrauchs wieder demontiert werden können, dass eine nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen möglich und folgendes gewährleistet ist:

    Das Bauwerk, seine Baustoffe und Bauteile müssen nach dem Abriss recycelt werden können.

    Das Bauwerk muss dauerhaft sein.

    Für das Bauwerk müssen umweltfreundliche Rohstoffe und Sekundärbaustoffe verwendet werden.

    Mit dieser Verordnung sind auch die nationalen Regierungen der EU gehalten, Prinzipien einer nachhaltigen Entwicklung in Bezug auf das Bauen in ihren Ländern anzuwenden.

    Für die Durchsetzung einer nachhaltigen Entwicklung ist es erforderlich, Schutzziele für die Bereiche Ökologie, Ökonomie und Nutzerinteressen explizit zu formulieren. Allgemeine Schutzziele für den Bereich „Ökologische Qualität" sind z. B. der Schutz der natürlichen Ressourcen und des Ökosystems. Aus den formulierten Schutzzielen müssen auf der Grundlage der Kenntnis der Ursache – Wirkungsbeziehungen Handlungsstrategien abgeleitet werden, die auf drei Ebenen abzielen: Roh- und Baustoff, Baukonstruktion und Umfeld [1.42]. Die durch den Bauprozess verursachten Wirkungen in diesen Ebenen müssen durch Indikatoren und die Festlegung von Bewertungsmaßstäben beschrieben werden.

    Maßstäbe für die Bewertung der Nachhaltigkeit von Gebäuden in Bezug auf ihre umweltbezogene, sozio-kulturelle und ökonomische Qualität sind in der Normengruppe DIN EN 15643 festgelegt. Die internationale Norm ISO 21929-1 definiert einen Rahmen für die Entwicklung von Indikatoren und die Zusammenstellung von Kernindikatoren für Gebäude, während ISO 15392 allgemeine Grundsätze zum Nachhaltigen Bauen formuliert.

    1.4.1.1 Roh- und Baustoffe

    Für das Nachhaltige Bauen kommt der Auswahl der Baustoffe eine entscheidende Bedeutung zu. Die hier verwendeten Baustoffe, die auch als ökologische Baustoffe bezeichnet werden, erzeugen i. d. R. nur geringe Umweltbelastungen und negative gesundheitliche Auswirkungen entlang ihrer gesamten Lebenslinie. Für die Baustoffauswahl bedeutet dies im Einzelnen:

    Die Rohstoffe für die Herstellung der Baustoffe müssen umweltverträglich und ressourcenschonend gewonnen sein. Zur Anwendung kommen sollen regenerative oder langfristig verfügbare Rohstoffe ohne Schadstoffe. Alle Rohstoffe müssen im Interesse des Verbraucherschutzes vollständig deklariert werden.

    Der Energieaufwand zur Gewinnung der Rohstoffe und der Herstellung der Baustoffe soll so gering wie möglich gehalten werden. Er wird auch als Primärenergieinhalt PEI (Abschn. 1.4.3.2) bezeichnet. Zugleich ist der Energieaufwand für die folgenden Lebenszyklusstufen (Abschn. 1.4.2) zu beachten.

    Der Transportenergieaufwand sowie die Transportwege zwischen den einzelnen Zyklusstufen sollen minimiert werden.

    Schadstoffemissionen bei der Herstellung und Verarbeitung der Baustoffe sollen weitgehend vermieden werden. Das gilt insbesondere auch für den Gebrauchszustand der aus den Baustoffen erstellten Gebäude in Bezug auf die Nutzer (Havarie, Innenraumklima und Gesundheit) sowie für die Demontage der Gebäude und die Entsorgung des Abbruchs.

    Die Baustoffe müssen kreislauffähig sein, d. h. sie sollen nach Ablauf der Lebensdauer des Gebäudes mit minimalem Energieaufwand wiederverwendet, recycelt oder zumindest umweltfreundlich verbracht werden können. Dadurch wird Abfall vermieden und Deponieraum minimiert.

    Die Baustoffe sollen langlebig sein, denn die Lebensdauer wirkt als Faktor in der Gesamtbilanz des Gebäudes. In baulichen Anlagen müssen sie die Gebrauchstauglichkeit während einer dem Zweck entsprechenden angemessenen Zeitdauer erfüllen.

    1.4.1.2 Baukonstruktionen

    Bauwerke, die den o. g. Forderungen des Nachhaltigen Bauens entsprechen, sollen recyclinggerecht konstruiert sein, d. h. das Herstellen von lösbaren Verbindungen und damit die Zerlegbarkeit der Bauteile und die sortenreine Gewinnung der (möglichst kreislauffähigen) Rückbaustoffe nach der Demontage sollen ermöglicht werden (VDI 2243:2002-07 Recyclingorientierte Produktentwicklung).

    Gebäude sollen unter Berücksichtigung der in der MBO genannten Anforderungen auch den Einsatz ökologischer Baustoffe erlauben. Dazu müssen Funktion und Anforderungen an die Konstruktion/das Bauteil klar definiert werden. So dürfen feuchteempfindliche Baustoffe (z. B. Lehm) nicht oder nur eingeschränkt für den Außenbereich eingesetzt werden. Im Innenbereich sind entsprechende konstruktive Vorkehrungen zu treffen.

    Gebäude sollen einfach und kompakt sowie besonders reparaturfreundlich und flexibel hinsichtlich ihrer Nutzung konstruiert sein. Mit der Einbeziehung der passiven Sonnenenergienutzung in die Gestaltung der Gebäude in Verbindung mit der Auswahl geeigneter Baustoffe soll zur Verringerung des gesamten Heizenergiebedarfes sowie zur ganzjährigen thermischen Behaglichkeit beigetragen werden.

    In Bezug auf das Schutzziel „Begrenzung des Energieverbrauchs" und damit der Reduzierung des CO2-Ausstoßes hat der Gesetzgeber in den letzten Jahren die Anforderungen hinsichtlich des Wärmeschutzes von Baukonstruktionen verschärft. Oft führt dies zu komplizierten, mehrschichtigen Außenwandkonstruktionen mit integrierter Wärmedämmung als nicht mehr zerlegbarer Materialverbund. Nicht selten werden durch Leckagen im Wandaufbau Luftströmungen erzeugt, in deren Folge sich Feuchteschäden und Schimmelpilze ausbilden können. In diesem Zusammenhang sind insbesondere auch Aspekte des Brandschutzes zu beachten.

    Besondere Anforderungen werden an die Hygiene der Raumluft gestellt. Geeignete Baustoffe für die Ausbildung der Bauteiloberflächen sind deshalb besonders wichtig. Diese Baustoffe sollen vor allem frei sein von gesundheitlich bedenklichen Inhaltsstoffen, die in den Innenraum ausgasen könnten. Sie sollen insbesondere diffusionsoffen und sorptionsfähig sein. Damit können rasche Schwankungen der Luftfeuchte im Innenraum „gepuffert" und die Gefahr der Bildung von Schimmelpilzen verringert werden.

    Rahmenbedingungen für die Bewertung der technischen Aspekte der umweltbezogenen Qualität von Gebäuden gibt DIN EN 15643-2 vor.

    Neben den technischen Anforderungen werden bei der Bewertung der Nachhaltigkeit von Gebäuden auch soziokulturelle Faktoren berücksichtigt. „Weiche" Faktoren wie Gesundheit und Behaglichkeit (Abschn.​ 5.​1.​3), Sicherheit, Gestaltungsqualität und Funktionalität entscheiden über das Wohlbefinden der Gebäudenutzer. Sie sind abhängig von subjektiven Wahrnehmungen, die Bewertungen zur Nutzerzufriedenheit zum Ergebnis haben. Im Zusammenhang mit der Qualität der Bauteiloberflächen stehen beispielsweise zunehmend besondere Anforderungen an die ästhetische Gestaltung der Oberflächen auf der Wunschliste der Bauherren (Farbe, Struktur/Textur, haptische Qualität etc.). Rahmenbedingungen für die Bewertung der soziokulturellen Qualität von Gebäuden sind in DIN EN 15643-3 festgelegt.

    Gebäude, die nach den Grundsätzen des Nachhaltigen Bauens konstruiert sind, müssen im Vergleich auch ökonomische Anforderungen erfüllen. Dazu gehören die Optimierung der Lebenszykluskosten, die generelle Verbesserung der Wirtschaftlichkeit beim Bauen sowie die Wertstabilität des Gebäudes. Rahmenbedingungen für die Bewertung der ökonomischen Qualität von Gebäuden sind in DIN EN 15643-4 vorgegeben.

    1.4.1.3 Umfeld

    Durch den Bauprozess bedingte Eingriffe in das Umfeld des Gebäudestandortes sollen so gering wie möglich gehalten werden. Dabei kann man Handlungsstrategien in zwei Richtungen entwickeln [1.42]: die Freiraumgestaltung und die Stadtstruktur.

    Bei Baumaßnahmen im Freiraum ist auf eine sparsame, natur- und sozialverträgliche Flächennutzung sowie auf einen bestandsorientierten Städtebau zu achten. Nutzer und Anwohner sollen keiner Wasser- und Bodenverunreinigung oder –vergiftung sowie unsachgemäßer Beseitigung von Abwasser, Rauch und festem oder flüssigem Abfall ausgesetzt werden.

    Innerörtliche Grünflächen sollen mit umliegenden Freiflächen der Stadt/der Region vernetzt und vor allem dem Bedürfnis nach Erholung und dem Naturschutz gerecht werden.

    Der gesamtstädtische Energiebedarf soll auf ein umweltverträgliches Maß reduziert werden. Durch nachhaltige Mobilität soll das Leben in den Städten „entschleunigt", der Individualverkehr weitgehend auf den ÖPNV verlegt und dadurch der innerörtliche Straßenraum als Lebensraum gestaltet werden können.

    1.4.2 Lebenszyklus und Stoffkreislauf eines Gebäudes

    Die Bewertung der beschriebenen Handlungsstrategien in Bezug auf ihre Umweltwirkungen in allen Lebensphasen eines Gebäudes führt zu einem zentralen Grundsatz des Nachhaltigen Bauens: zur Analyse des Lebenszyklus oder des Stoffkreislaufes der im Bauwerk verarbeiteten Baustoffe mit dem Ziel, Ressourcen zu schonen sowie durch Schließen des Kreises möglichst Abfall zu vermeiden und negative Umweltwirkungen so gering wie möglich zu halten. Dabei wird der gesamte Lebensweg von der Rohstofferkundung, über die Gewinnung, die Aufbereitung zu Baustoffen, deren Verarbeitung zu Bauteilen und -konstruktionen, die Bauwerksnutzung einschl. Instandhaltung bis hin zum Gebäudeabriss und Recycling mit den jeweils dazwischen liegenden Transportwegen und ihren prozessbegleitenden Stoff- und Energieströmen in Form einer Inventarisierung betrachtet.

    Beim Durchlaufen dieses Zyklus muss der Baustoff in jeder Stufe die in Abschn. 1.4.1 genannten technischen und funktionalen Anforderungen an die Gebrauchstauglichkeit und an das Nachhaltige Bauen erfüllen. Diese Anforderungen werden durch relevante Kenngrößen beschrieben, die durch standardisierte Prüfverfahren zu ermitteln sind. Ein Baustoff muss z. B. eine bestimmte Druckfestigkeit erreichen, um zu einer tragenden Konstruktion verarbeitet werden zu können. Die Erfüllung der Prüfkriterien sichert, dass nach Abschluss einer Zyklusstufe die für diesen Abschnitt geforderten Eigenschaften erreicht werden. Der Baustoff oder das Bauteil ist erst dann gebrauchstauglich.

    Abb. 1.27 zeigt das Modell eines Stoffkreislaufes/der Verarbeitungsstufen für den Baustoff Lehm [1.43] [1.44]. Nach Durchlaufen eines Zyklusabschnittes erlangt der Lehm eine neue Qualität: Rohlehm wird zu Baulehm , Baulehm wird zum Lehmbaustoff usw. Mit der Wiederverwendung von Recyclinglehm schließt sich der Stoffkreislauf.

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    Abb. 1.27

    Stoffkreislauf des Baustoffes Lehm [1.43] [1.44]

    In Tab. 1.1 werden wesentliche Kriterien zur Beschreibung der technischen, ökologischen, soziokulturellen und ökonomischen Qualität in Form von Kennwertgruppen und Parametern bezogen auf die Verarbeitungsstufen „Baulehm, „Lehmbaustoff, „Lehmbaukonstruktion und „Lehmrecycling nach Abb. 1.27 in einer Matrix dargestellt. Die für die Beschreibung der Gebrauchstauglichkeit relevanten Kennwerte mit entsprechenden Prüfkriterien können für die spezifischen Bedingungen eines bestimmten Bauvorhabens oder für die Erarbeitung einer Umweltproduktdeklaration (Abschn. 1.4.3.5) aus dieser Matrix abgeleitet werden. Die letzte Spalte verweist auf die entsprechenden Kapitelnummern in diesem Buch.

    Tab. 1.1

    Relevante Kenngrößen in den Verarbeitungsstufen des Lehms, Übersicht

    ● Prüfverfahren / Prozedur bekannt

    ○ kein Prüfverfahren bekannt

    1.4.3 Ökobilanz

    Eine Ökobilanz beinhaltet eine systematische quantitative Analyse der potenziellen Umweltwirkungen von Produkten entlang ihres Lebensweges. Dabei werden für jeden Lebensabschnitt des Produkts die Ressourcenverbräuche den entsprechenden Umweltwirkungen gegenübergestellt. Für die Produktkategorien müssen Ziel und Untersuchungsrahmen sowie die zu erfassenden Abschnitte der Ökobilanz, die zu deklarierenden Parameter und die Art und Weise, wie diese zusammengestellt werden, nach einem einheitlichen Schema festgelegt werden. Dieses Schema sind die Produktkategorieregeln (PKR) . Die Schritte zur Erarbeitung von PKR sind in DIN EN ISO 14025 dargestellt.

    Ökologische Bilanzierungen sind heute ein allgemein anerkannter methodischer Ansatz, der für die quantitative Analyse der Nachhaltigkeit von Bauprodukten Anwendung findet. Sie sind unentbehrlich für umweltpolitische Entscheidungen, z. B. wenn es um die verbindliche Festlegung von Größenordnungen zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes in entsprechenden Dokumenten auf internationaler Ebene geht. Umweltpolitische Ziele können nur durchgesetzt werden, wenn sie als Vorgaben in entsprechenden Normen und Vorschriften verankert werden. Dazu gehören auch Produktnormen im Bereich der Baustoffe. Die 2011 vom Dachverband Lehm e. V. herausgegebenen Technischen Merkblätter TM 02–04 DVL enthalten erstmals eine Prozedur zur Ermittlung des CO2-Äquivalentkennwerts auf der Grundlage der DIN EN ISO 14040. Die genannten Merkblätter sind 2013 durch DIN Normen für Lehmsteine und Lehmmörtel (DIN 18945 – 47) ersetzt worden. In diese Normen wurden entsprechende Prozeduren zur Ermittlung des CO2-Kennwertes jeweils als fakultative Prüfungen (Anhang A, informativ) aufgenommen. Für Lehmplatten liegt seit 2017 ein TM DVL 07 [1.45] vor, das durch die zukünftige DIN 18948 ersetzt werden soll.

    Eine ökologische Bilanzierung erfordert einen nicht unerheblichen Planungsaufwand sowie die Bereitschaft, traditionelle, gewohnte Planungsabläufe um Ansätze des Nachhaltigen Bauens zu erweitern. Dabei steht man nicht selten vor dem Problem einer mangelnden Datengrundlage. Trotz der Möglichkeit, mit den genannten Indikatoren ökologische Wirkungskategorien sehr detailliert beschreiben zu können, gibt es weiterhin prinzipiell bekannte, schädliche Umweltauswirkungen, die bisher noch nicht quantitativ erfasst werden können. Grundsätzlich besteht auch für die bereits definierten Indikatoren die Frage nach der Abbildgenauigkeit von Zusammenhängen. Nicht zuletzt ist die Zuverlässigkeit der in vorhandenen Ökobilanzdatenbanken hinterlegten Sachbilanzdaten zu hinterfragen. Dadurch ist jedes Ergebnis der Analyse in seiner Aussage mehr oder weniger begrenzt.

    Andererseits erscheinen ökologische Bilanzierungen schon heute als geeignetes Instrument, um plausibel erscheinende, ökologisch begründete Argumente auf ihre Wirklichkeitsnähe zu überprüfen. Dazu müssen die notwendigen Grundlagen und Instrumente jedoch noch weiter verbessert werden.

    Für die Durchführung einer Ökobilanz stehen derzeit folgende Normen zur Verfügung:

    DIN EN ISO 14040:2009-11 Umweltmanagement – Ökobilanz – Grundsätze und Rahmenbedingungen,

    DIN EN ISO 14044:2006-10 Umweltmanagement – Ökobilanz – Anforderungen und Anleitungen.

    Nach DIN EN ISO 14040 umfasst eine Ökobilanz vier Phasen, die sich gegenseitig beeinflussen und nicht voneinander getrennt werden können (Tab. 1.2).

    Tab. 1.2

    Aufbau einer Ökobilanz nach DIN EN ISO 14040

    1.4.3.1 Ziel und Untersuchungsrahmen

    Ziel einer Ökobilanz können Umweltinformationen für verschiedene Zielgruppen sein, z. B. für Planer, Baustoffhändler, Verarbeiter und Nutzer. Baustoffhersteller können Hinweise zur Verbesserung ihres betrieblichen Umweltmanagements erwarten. Das Umweltmanagement als Teilbereich des betrieblichen Managements entwickelt Handlungsstrategien zum Umweltschutz, zur Sicherung der Umweltverträglichkeit betrieblicher Produkte und Prozesse sowie zu den Verhaltensweisen der Mitarbeiter.

    Die Erstellung einer Ökobilanz kann weiterhin Bestandteil einer Typ III Umweltproduktdeklaration (UPD) nach DIN EN ISO 14025 sein (Abschn. 1.4.3.5). Ökobilanzen können zur Unterstützung umweltpolitischer Entscheidungsprozesse herangezogen, aber auch für Marketingzwecke eingesetzt werden.

    Der Untersuchungsrahmen einer Ökobilanz umfasst die Systembeschreibung, die Verfahrensgrundlagen sowie die Anforderungen an die Daten zur Berechnung der Ökobilanz.

    Systembeschreibung

    Die Systembeschreibung definiert das zu untersuchende Produktsystem mit seinen Funktionen, die funktionale/deklarierte Einheit, die Systemgrenze und die Referenz-Nutzungsdauer.

    Produktsystem

    Die wesentliche Eigenschaft eines Produktsystems wird durch seine Funktion (Leistungsmerkmale) bestimmt. Das Produktsystem ist eine Zusammenstellung von relevanten Prozessmodulen mit zugehörigen Elementar- und Produktflüssen, die den grundsätzlichen Lebensweg des Produktes von der Rohstoffgewinnung bis zur Entsorgung/Recycling modelliert. Die Darstellung des Produktsystems in Form eines Flussbildes der technologischen Abfolge der einzelnen Prozessmodule erleichtert es, die In- und Outputs entlang des Lebenswegs des Produktes zu identifizieren. Abb. 1.28 zeigt ein Flussbild für Produktlebensphasen A1–A3 (Tab. 1.4) von Lehmputzmörtel LPM nach DIN 18947.

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    Abb. 1.28

    Flussbild für Produktlebensphasen A1–A3 von Lehmputzmörtel LPM nach DIN 18947 [1.46]

    Funktionale Einheit

    Als funktionale Einheit wird die quantifizierte Leistung des Produktsystems bezogen auf eine Vergleichseinheit bezeichnet (z. B. eine Mengen-/Masseeinheit eines Baustoffes oder ein Beispielgebäude als produktspezifische Größe). Alle nachfolgenden Analysen (In- und Outputströme in der Sachbilanz , Abschätzung der Umweltwirkung) beziehen sich dann auf diese funktionale Einheit. Diese Bezugsbasis ist notwendig, um die Vergleichbarkeit der Ergebnisse von Ökobilanzen zu ermöglichen. Zu vergleichende Produkteinheiten müssen dabei in ihren Funktionen genau übereinstimmen.

    Funktionale Einheiten für Lehmbaustoffe sind in den jeweiligen Anhängen der DIN 18945 – 47 sowie im TM 07 DVL [1.45] und in den entsprechenden PKR/UPD festgelegt [1.46] (Tab. 1.3).

    Tab. 1.3

    Funktionale Einheiten für Lehmbaustoffe nach DIN 18945 – 47 und TM DVL 07

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