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Reise nach Havanna: Roman in drei Reisen
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Reise nach Havanna: Roman in drei Reisen
eBook220 Seiten10 Stunden

Reise nach Havanna: Roman in drei Reisen

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Über dieses E-Book

Ganz Havanna staunt: In den extravagantesten Kostümen Kubas präsentieren sich Eva und Ricardo dem Straßenpublikum. Ob ein glitzernder Paillettenkimono oder ein Spenzer in Zickzackmaschen, alles ist handgemacht. Die beiden wollen auffallen, um jeden Preis. Ihr Exhibitionismus steigert sich zu einer Tournee durch ganz Kuba, auf der Jagd nach dem letzten Ignoranten ... Ein Kubaner in New York begegnet seiner Traumfrau, bildschön, aber äußerst rätselhaft. Dass Elisa der Mona Lisa zum Verwechseln ähnlich sieht, ist nicht ihr einziges Geheimnis ... Auf Drängen seiner Ehefrau und des inzwischen erwachsenen Sohnes kehrt der schwule Ismael geschenkbeladen nach Kuba zurück, doch die Heimkehr wird immer mehr zum Albtraum - mit versöhnlichem Erwachen. Reinaldo Arenas jongliert mit Spannung, Erotik und Gefühl und verblüfft mit überraschenden Wendungen.

Von Reinaldo Arenas außerdem in der Edition diá:

Engelsberg. Roman
Aus dem kubanischen Spanisch von Klaus Laabs
ISBN 9783860345283

Der Palast der blütenweißen Stinktiere. Roman
Aus dem kubanischen Spanisch von Monika López
ISBN 9783860345290

Rosa
Roman in zwei Erzählungen
Aus dem kubanischen Spanisch von Klaus Laabs
ISBN 9783860345207

Wahnwitzige Welt. Ein Abenteuerroman
Aus dem kubanischen Spanisch von Monika López
ISBN 9783860345306
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition diá
Erscheinungsdatum28. März 2013
ISBN9783860345191
Reise nach Havanna: Roman in drei Reisen

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    Buchvorschau

    Reise nach Havanna - Reinaldo Arenas

    Über dieses Buch

    Ganz Havanna staunt: In den extravagantesten Kostümen Kubas präsentieren sich Eva und Ricardo dem Straßenpublikum. Ob ein glitzernder Paillettenkimono oder ein Spenzer in Zickzackmaschen, alles ist handgemacht. Die beiden wollen auffallen, um jeden Preis. Ihr Exhibitionismus steigert sich zu einer Tournee durch ganz Kuba, auf der Jagd nach dem letzten Ignoranten … Ein Kubaner in New York begegnet seiner Traumfrau, bildschön, aber äußerst rätselhaft. Dass Elisa der Mona Lisa zum Verwechseln ähnlich sieht, ist nicht ihr einziges Geheimnis … Auf Drängen seiner Ehefrau und des inzwischen erwachsenen Sohnes kehrt der schwule Ismael geschenkbeladen nach Kuba zurück, doch die Heimkehr wird immer mehr zum Albtraum – mit versöhnlichem Erwachen. Reinaldo Arenas jongliert mit Spannung, Erotik und Gefühl und verblüfft mit überraschenden Wendungen.

    »In allen drei Erzählungen erweist er sich als unbestechlicher Beobachter, geschickter Dramaturg und sprachlicher Meister.« (Christoph Links in »Freitag«)

    Der Autor

    Reinaldo Arenas, »einer der ergreifendsten kubanischen Romanschriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Jesús Díaz), 1943 im Osten Kubas geboren. Kind der Revolution, von ihr verfemt und verstoßen. 1980 Flucht in die USA, 1990 in New York gestorben. Seine furiosen Memoiren »Bevor es Nacht wird« – Schelmenroman, éducation sexuelle und politisches Manifest zugleich – wurden zu einem weltweiten Bestseller, der von Julian Schnabel mit Javier Bardem in der Hauptrolle 2000 verfilmt wurde. Sie gehören zu den großen Konfessionen unserer Zeit: eine hymnische Schamlosigkeit.

    Der Übersetzer

    Klaus Laabs, geboren 1953, lebt als Übersetzer und Herausgeber in Berlin. Vorrangig übersetzt er Werke hispanoamerikanischer, französischer sowie frankophoner Autoren aus der Karibik und Afrika (u. a. César Aira, Reinaldo Arenas, Aimé Césaire und José Lezama Lima).

    Reinaldo Arenas

    Reise nach Havanna

    Roman in drei Reisen

    Aus dem kubanischen Spanisch von Klaus Laabs

    Edition diá

    Inhalt

    Erste Reise: Pech gehabt, Eva

    Zweite Reise: Mona

    Dritte Reise: Reise nach Havanna

    Impressum

    Erste Reise: Pech gehabt, Eva

    Die erste Träne, die ich um dich weinte, fiel auf das Crochet mit vier Nadeln. Aber ich strickte weiter und kriegte es fast nicht mit. Erst jetzt, wo meine Hände pitschnass sind, merke ich richtig, dass ich heule. Deinetwegen, Ricardo (es fällt mir immer noch schwer, dich so zu nennen). Mein Gesicht muss von der schwarzen Chinawolle ganz verschmiert sein, weil die nichts taugt, es gibt bloß keine andere. Aber ich beruhige mich schon wieder. Ich bin schon beim Saum des Rocks. Ich komme zum Ende. Die Vierfadenmasche noch und die französischen Noppen; das Schwerste, ich weiß, aber es ist das letzte Stück. Danach der Abschluss, die Sperre und der letzte Schnitt mit der Rasierklinge (ganz rostig ist die). Und dann ist alles fertig. Wir werden ja sehen. Trotzdem, ich denke immerzu an dich. Obwohl ich gar nicht möchte, ach Ricardo (und ich sage deinen Namen fast schon ohne Probleme), ich denke immerzu an dich. Ich habe sogar vergessen, Notturno einzuschalten. Ist mir auch egal jetzt, ob Masiel bei der Hitparade unter den ersten zehn ist oder nicht. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre bei den schwierigsten Maschen durcheinandergekommen. Ich, die ich besser als irgendwer sonst das Geheimnis der Nadeln kenne. Und alles deinetwegen, Ricardo (inzwischen sage ich deinen Namen, als wenn nichts wäre); weil du es bist, für den ich in diesem Augenblick stricke; obwohl du diese Arbeit niemals sehen wirst, ich weiß es genau. Jedenfalls hoffe ich, es wird das Beste, was ich je gemacht habe, und das will schon was heißen … Ja, es ist ein Wunder, dass mir die Docken nicht zu einem dieser Knoten verheddern, die kein Mensch mehr auseinanderkriegt. Zumal jetzt, wo du nicht mehr da bist und mir beim Abwickeln hilfst. Ich sitze hier nämlich schon seit Tagen, allein, eingeschlossen, rund um die Uhr, ohne einen Fuß auf den Balkon zu setzen, ohne ans Telefon zu gehen, und stricke. Aber das stimmt so auch nicht, Ricardo. Weil ich dabei nicht nur hier gewesen bin. Während ich mit den Nadeln zugange bin und den Faden zupple, bin ich die ganze Zeit bei dir, überall. Und manchmal vergesse ich die Handarbeit, höre aber nicht auf damit. Meine geübten Hände lassen mich Gott sei Dank nicht im Stich … Wenigstens geweint habe ich, nach allem, und zum Glück ist mir eine Träne auf die Hand gefallen, so habe ich es gemerkt. Ich will mich jetzt zusammenreißen und aufpassen, was ich mache.

    Was ich für dich mache, Ricardo. Für dich, oder vielleicht, um mich an dir zu rächen. Weil es Dinge gibt, die man niemals verzeihen kann. Vielleicht hat dir niemand so viel verziehen im Leben wie ich. Immer wolltest du bei offenem Fenster schlafen, immer hast du dich über Mamas Schmerzen aufgeregt (du meintest, sie würde sie sich nur einbilden); manchmal hat dir sogar das Lied gefallen, das ich unausstehlich fand. In allem habe ich mich nach dir gerichtet, Ricardo. Und selbst als du die Reise fortsetzen wolltest, die fast keinen Sinn mehr hatte, habe ich nachgegeben. Ich habe gemurrt, aber ich habe nachgegeben. Nur eine Sache konnte ich dir nicht verzeihen. Und ausgerechnet die hast du gemacht. Und zwar im letzten Moment, als wir fast schon, wir beide, Ricardo, die große Schlacht gewonnen hatten.

    Als ich dich kennenlernte, warst du so bescheiden. Ich glaube, du warst gerade vom Land gekommen. Du standst hinter einem Mast, wie angelehnt. Ich sah auf deinen angehobenen Fuß und erblickte gestrickte Socken – sehr gut gestrickte allerdings, Ricardo –, und ich war entzückt. Du hobst das Bein noch höher und zogst die Hose ein Stück hoch, als ob du die Socke zeigen wolltest. Aber mit einer gewissen Schüchternheit. Damals warst du nämlich schüchtern, Ricardo. Und dann sahst du mich an, wie zufällig. Und ich sah dich an, als wollte ich es nicht … Ich erinnere mich an alles, Ricardo, ganz genau. Ich drehte noch eine Runde im Park, ging noch einmal an dir vorbei und tat völlig uninteressiert. Ich lief weiter und schlenkerte dabei die schiefergraue Handtasche mit den Absteppnähten aus Hawaiizwirn, der damals noch so einfach zu bekommen war. Ich lief weiter, und als ich mich umdrehte, hattest du mich eingeholt. Du kamst an meine Seite, als müsstest du mich beschützen. Und schon gingen wir zusammen. Du sagtest: »Du hast die schönsten Augen der Welt.« Und wir liefen weiter … Ich weiß noch genau, Ricardo, das war die Zeit, als Prinzessin Margaret in Mode war, wegen des Skandals mit dem Fotografen.

    Und als es dann zu dem Krach Liz Taylor/Eddy Fisher/Debbie Reynolds kam, heirateten wir.

    Ich mit langer Schleppe, ganz fein gearbeitet, aus Anker-Faden, beste Qualität, sechsmaschig gestrickt mit französischen Nadeln – solche, an die heute im Traum nicht mehr zu denken ist. Du in einem hautengen Frack, der dich noch dünner und jünger machte, als du warst. Was aber an deiner Garderobe am meisten auffiel, war die silberne Krawatte, die ich aus englischem Garn gestrickt hatte. »Ich komme mir vor, als hätte ich einen Zitteraal um den Hals«, sagtest du, als wir den ganzen Trubel hinter uns hatten. »Du siehst blendend aus«, sagte ich und wurde traurig bei dem Gedanken, dass Mama uns nicht sehen konnte (die Hochzeit war am Nachmittag, und sie vertrug die Sonne nicht). Aber dann habe ich mich gleich wieder gefreut. Und während wir uns in einem Regen aus Reiskörnern (womit man damals noch um sich schmeißen konnte) den Weg zum Auto bahnten, lachte ich allen zu und verabschiedete mich mit einem Gruß wie Queen Elizabeth. Du lächeltest diskret, als wäre es dir ein wenig gleichgültig. Du warst damals ziemlich beeinflusst von Clark Gable. Ich habe dich davon abgebracht, ihn zu imitieren, und du bist dann moderner geworden.

    In unseren Flitterwochen entdeckte ich, dass es dir besser stand, wenn du die Haare nach hinten gekämmt und die Koteletten etwas länger trugst, du sahst so ein bisschen nach Ricky Nelson aus, was fabelhaft zu dir passte. Dann überzeugte ich dich, dir das Haar aufhellen zu lassen, und die Ähnlichkeit war kolossal. »Richard«, rief ich laut nach dir, vor allen Leuten. Du lächeltest, so mit auseinandergezogenen Mundwinkeln, ein bisschen geringschätzig oder widerwillig. Und in deinen Augen war zu sehen, wie dankbar du warst.

    Aber noch waren wir gewöhnliche Leute, Ricardo, die kaum auffielen. Wir gingen an den Strand, ja, und obwohl ich diesen fabelhaften Bikini anhatte, ein Geschenk von Mama, erntete ich nur ein paar anerkennende Pfiffe und den einen oder anderen durchdringenden Blick – jetzt glaube ich, du warst froh darüber, und ich könnte die Wände hochgehen. Wir spazierten die Pinienallee entlang, ich mit einem fast durchsichtigen Slip wie in Plötzlich letzten Sommer, du in Sandalen mit Plexiglassohlen, die zwei großen Seeigeln ähnelten. Die Leute schauten uns natürlich an, aber so wie jeden anderen, vielleicht ein bisschen mehr, aber nicht allzu viel. Nicht, wie wir es verdient und uns gewünscht hätten, Ricardo … Ich habe immer davon geträumt, unter stürmischen Ovationen aus einem Raumschiff zu steigen. Aussteigen, die Arme ausbreiten und wieder zwischen den Wolken entschwinden. Plötzlich Alicia Alonso sein. Alicia im donnernden Applaus, nach vierundvierzig Pirouetten. Ja, Alicia, aber ohne dieses Hexengesicht, und fünfzig Jahre jünger … Aber nichts war, Ricardo, weder du noch ich hatten es geschafft aufzufallen. Nicht einmal, als wir in den Flitterwochen waren, an einem Ort, wo alle Welt hinkam, um sich zu amüsieren, wie ich doch annehme. Kleine Erfolge, ja, die hatten wir. Eine Alte von mindestens tausend Jahren fragte uns, nicht weit vom Meer entfernt, ob wir frisch verheiratet wären; bei anderer Gelegenheit, als im Kofferradio Luisito Aguilé gerade Ziehende Schwalbe sang und wir mitträllerten, kamen zwei Jungs zu uns und wollten wissen, ob das Radio neun oder sechs Transistoren hatte. Das war alles.

    So vergingen die Tage. Ich war verzweifelt. Und du auch, Ricardo. Am Ende, als uns nur noch eine Nacht am Strand blieb, entschloss ich mich, dieses enorme purpurrote Blouson anzuziehen, das Mama aus Acht-Meter-Docken gestrickt hatte, mit portugiesischen Nadeln, wie man sie damals schon kaum noch zu sehen bekam. Dir sagte ich, du solltest in Badehosen gehen und mit einem Hemd, das bis zu den Knöcheln reichte. Wir standen schon in der Tür, da kam mir die Idee, dir diesen ellenlangen, sittichgrünen Wollschal um den Hals zu wickeln, den mir Mama noch in letzter Minute eingepackt hatte, weil es nachts am Strand immer recht kühl ist, wie sie sagte. So zogen wir los. Ich mit dem Kofferradio (die Strada sang) und ganz vorsichtig, damit ich dir nicht auf den Schal trat, wenn du vor mir herliefst. Wir überquerten die Straße mit den Pinien, wo das Meer wie gelangweilt klang, und gingen ins Restaurant. Wind, der du kommst aus weiter Ferne, sang die Strada gerade. Und plötzlich war da ein ohrenbetäubender Tumult, begleitet vom Scheppern des Bestecks, das auf die Teller fiel. Danach Totenstille, in der uns das Publikum wie gelähmt anstarrte, während wir durch den Saal schritten und mit der röhrenden Strada und unseren Schritten die Stille zerrissen. So kamen wir an einen der freien Tische am Ende des Saals. Hochfeierlich, mit einer wundervollen Geste, die sogar mich überraschte, nahmst du einen Stuhl und schobst ihn mir unter. Und ich, mit meinem königlichen Blouson, unter dem die Beine hervorguckten, nahm Platz wie Sophia Loren in Die Eingeschlossenen von Altona. Als du dann neben mir gesessen hast, schlangst du dir den Schal noch mal um den Hals, sodass nur noch die Augen zu sehen waren, und riefst den Kellner. Während wir darauf warteten, bedient zu werden, hörten wir das Gemurmel der Leute, das plötzlich anstieg wie die Flut an diesem aufgewühlten Strand. Manchmal tat ich so, als sagte ich etwas zu dir, und spitzte die Lippen zu einem kaiserlichen Lächeln. Du pflichtetest mir bei, indem du diskret den Kopf senktest. »Wo die wohl her sind?«, fragte eine Frau an einem Tisch in der Nähe. Und da der Kellner sich nicht blicken ließ, bückte ich mich, hob das Ende deines Schals vom Boden und fing an, darauf herumzubeißen. Lautes Lachen kam von einem Tisch, an dem ein paar junge Männer saßen, offenbar Sportler, die uns um jeden Preis übertrumpfen wollten. Ohne Erfolg übrigens. Ich nahm deinen Schal aus dem Mund, stand auf, kletterte auf den Stuhl und rief laut den Kellner, auf Englisch, Französisch und Italienisch; das hatte mir Mama beigebracht. Dann, als ich sah, dass der Kellner – zum Glück – noch immer nicht kam, stellte ich mich auf den Tisch und schrie Killnerrr, Killinerrr und noch ein paar Lautverbindungen, die ich im selben Moment erfand. Im Handumdrehen (das Murmeln schwoll jetzt immer mehr an) brachte der Kellner die Suppe. Ich kostete geschmäcklerisch und bestellte einen Teller vom feinsten Salz. »Vom feinsten!«, wiederholte ich, während uns der Mann entgeistert ansah. »Für mich dasselbe«, sagtest du, und der Mann notierte die Bestellung. »Jetzt bestellen sie Salz«, hörte ich eine alte Frau zu einer anderen sagen, die noch verschrumpelter war. Die Sportsfreunde begannen uns mit Respekt anzusehen. Das Salz kam, und bedachtsam nahm ich einen Löffel und fing an, es zu essen. Ich weiß noch, dass ich dich unterm Tisch mit dem Knie anstieß. »Iss«, sagte ich zu dir. Und du fingst auch an zu essen. Das Gemurmel der Leute wurde ruckartig noch lauter. Ich drehte am Radio und stellte Katina Ranieri ein. Die Leute hörten nicht auf, uns anzustarren. Als wir mit dem Dessert fertig waren, rückte ich näher an dich heran, wickelte meine Schultern in deinen Schal und küsste dich aufs Ohr. Die Rechnung verlangten wir vom Kellner in einem gebieterischen Sopranduett. Ich ergriff dann den Zipfel des Hemds, das dir bis zu den Knöcheln ging, und wir fingen an, zwischen den Tischen zu tanzen. Am Ende gab es Applaus und sogar ein paar Bravos. Als wir in den Bungalow zurückkamen, waren wir ganz erregt. »Richard!«, sagte ich zu dir und wickelte dich aus dem Schal. Wir gingen ins Bett. Und du hast deine Sache sehr gut gemacht in dieser Nacht, Ricardo.

    Am nächsten Tag kehrten wir im Triumph nach Havanna zurück. Ich war kaum zu Hause, da durchwühlte ich die Kleiderschränke, die Wäschefächer in Mamas Zimmer und alle Schubladen und raffte die Wollknäuel zusammen, die noch irgendwo herumlagen. Du halfst mir bei diesem Beutezug. Danach gingst du in die Läden und kauftest die Garndocken, die noch auf dem Markt waren. Zum Glück bekam Mama von dem ganzen Aufstand nichts mit. Meine Tante hatte ihr den Antrag auf Familienzusammenführung geschickt, und nun wartete sie auf das Visum. Uns kam das sehr gelegen: Während Mama den Tag damit zubrachte, bei den Botschaften anzurufen und sich um irgendwelche Papiere zu kümmern, nahmen wir das Haus in Beschlag und machten uns in Ruhe ans Stricken. Abends, wenn du erschöpft nach Hause kamst (der Zwirn wurde schon knapp, und es ging mit den langen Schlangen los), erwartete ich dich immer, begraben unter einem Berg von bunten Fäden, beim fabelhaften Radau der Platten von Pat Boone, die ich seitdem nie wieder gehört habe. Schließlich hatten wir die ersten Sachen fertig. Das erste Stück war für dich, Ricardo. Eine mausgraue Hose mit Reißverschluss an den Beinen und posamentierten Taschen, eine Sensation. Für mich hatte ich ein Abendkleid in Schärpenmasche gestrickt, das über und über mit Strass besetzt war. Bevor wir das erste Mal ausgingen, probierten wir die Sachen vor Mama an, die in einem fort kreischte und mit nichts zufrieden war, weil das Visum auf sich warten ließ. Wir studierten auch ein paar exotische Tänze ein und erfanden fremdartige Schritte, die wir fantastisch hinkriegten. Endlich beschlossen wir, uns zum Architektenkongress auf der Rampa sehen zu lassen. Mama, die zu diesem Zeitpunkt ihr Visum schon hatte und jetzt auf einer langen Warteliste für das Flugzeug stand, zeigte uns ein paar Tänze aus ihrer Jugend, die wir gut gebrauchen konnten, mit ein paar Arrangements natürlich, und sie brachte uns sogar eine neue Masche bei, ein Patent von ihr. Fast in letzter Minute passierte eine Tragödie. Ohne dass du es merktest, wurdest du auf einmal dicker. Aber mit Mamas und meiner Hilfe – wir hielten uns an die Diät von Judy Garland und gönnten dir nur alle vierundzwanzig Stunden ein paar Salatblätter – kamst du wieder auf dein Normalgewicht, allerdings blieb eine gewisse Nervosität zurück. Als der Tag gekommen war, an dem wir ausgehen wollten, wirktest du ziemlich blass. Mama, die zum Glück noch ein bisschen Make-up von Max Factor übrig hatte, richtete dich aber wieder her.

    Wir brachen auf zur Rampa.

    Es war ein Wahnsinnsgedrängel. Die ganze Straße wurde von Polizisten bewacht, die mit Trillerpfeife und Gummiknüppel dafür sorgten, dass nur auf die Rampa kam, wer eine Einladung vorweisen konnte. »Besser, wir gehen wieder«, sagtest du. »Nie und nimmer«, antwortete ich. Hand in Hand, mit majestätischem Schritt und fast etwas pikiert, dass man uns an einen Ort eingeladen hatte, wo so viele Leute waren, liefen wir an den Polizisten vorbei und würdigten sie keines Blickes. In der ganzen Pracht unserer Garderobe betraten wir die Rampa. Vier Orchester spielten: La Aragón und noch schlechtere … Ohne Augen für irgendwen zu haben, steuerten wir den Kongresspavillon an, wo die ausländischen Architekten und die Bonzen waren, alle anderen mussten draußen bleiben. Man hörte nur, wie dort jemand auf dem Klavier klimperte. Entschlossen gingen wir auf den Eingang zu. Wohlerzogen gaben uns die Leute den Weg frei. Und wir gelangten bis in die Mitte des Saals, wo Bola de Nieve sang. Wir hatten schon bemerkt, dass die Leute nicht mehr zu Bola hinsahen, sondern die Augen auf uns richteten. Wir gingen nach vorn und postierten uns hinter dem Sänger. Ich mit leicht herausgestelltem Bein, in die Hüfte gestemmten Armen und silberner Stola, die von meinen Schultern bis auf den Boden fiel (der Luftzug wehte sie manchmal hoch und verdeckte dabei den Kopf des Sängers). Du neben mir, eine Hand am Kinn, die andere auf meiner

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