Der Zinnteller-Reflex: Nicht-Dualität als Ereignis
Von Sigrid Hauff
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Über dieses E-Book
Blitzartige Einsicht, unio mystica, Erleuchtung, satori und tao, Grenzüberschreitungen in Musik, Literatur, Kunst und Erotik - dass es sich dabei immer um ein und dieselbe Erfahrung der Nicht-Dualität handelt, ist eine Hypothese, die sich durch die frappierende Übereinstimmung der Erlebnisberichte aus den verschiedensten Kulturkreisen und über alle Zeiten hinweg, stützen lässt. Der bewegende Augenblick außerhalb von Raum, Zeit und dem eigenen Ich gilt weltweit und durch die gesamte Geschichte als Höhepunkt persönlicher Erfahrung. Eng damit verknüpft ist die Überwindung der Todesangst.
Im globalen Kontext gewinnen unsere Vorstellungen neue Perspektiven.
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Buchvorschau
Der Zinnteller-Reflex - Sigrid Hauff
Namenverzeichnis
Vorwort
Es war der matte Glanz eines Zinntellers, der wie ein Blitz in die Welt des einfachen Schuhmachers Jakob Böhme einschlug. Der Lichtblitz erhellte das Leben der Dinge und gab den Blick frei in das Herz des Universums – der Schuster fühlte sich aufgefordert, seinen Beruf aufzugeben und seine Gedanken niederzuschreiben.
Der Titel ZINNTELLER-REFLEX bezieht sich auf dieses weithin bekannte ‚Erleuchtungserlebnis’ des bedeutenden Mystikers Jakob Böhme, stellvertretend für andere ähnliche Erfahrungen blitzartiger Erkenntnisse, die Thema dieses Buches sind.
Der Moment der blitzartigen Einsicht, in dem jedes Raum-, Zeit- und Ichgefühl abhanden kommt, lässt sich nicht beschreiben. Er lässt sich jedoch einkreisen, in Zitaten von Dichtern, Denkern, Künstlern, Wissenschaftlern und alten Weisheitslehren, die sich an diesen unbeschreiblichen Augenblick herantasten. In vierzig Jahren der Lektüre quer durch Dichtung, Philosophie, Mystik, Wissenschaft, Weisheitslehren des alten Ägypten und des Fernen Ostens habe ich zufällig gefundene Hinweise auf das überwältigende Erlebnis der Einheit, der inneren Ungespaltenheit, der Nicht-Dualität festgehalten.
Der bewegende Augenblick ausserhalb von Raum, Zeit und dem eigenen Ich ist weltweit durch unsere gesamte Geschichte ein Höhepunkt persönlicher Erfahrung. Er gilt grundsätzlich und überall als unbeschreibbar. Die direkte Wahrnehmung, die intuitive Erkenntnis, die unvermittelte Erfahrung, die blitzartige Einsicht ist höchstes Ziel spiritueller Praxis oder zufälliges Gipfelerlebnis im Alltag. Nicht selten lenkt das überwältigende Erleben der mystischen Einheit mit Gott, Göttern, Natur und Kosmos das Leben in neue Bahnen.
Das Phänomen kosmischen Bewusstseins ist bekannt. Rüdiger Safranski bezeichnet es als die grosse Kommunion. Dass aber alle Kulturen dieses Phänomen kennen und es sich in allen Kulturen möglicherweise um ein und dieselbe Erfahrung der Nicht-Dualität handelt, ist eine Hypothese, die sich durch die frappierende Übereinstimmung der Zitate aus den verschiedensten Kulturkreisen in allen Teilen unseres Globus und über alle Zeiten hinweg, stützen lässt. In der aufgezeigten Übereinstimmung der Beschreibungs- und Erklärungsversuche von Stille, kosmischem Bewusstsein, unio mystica, Erleuchtung, satori und tao liegt der Kernpunkt dieser Textsammlung.
Reflexe und Reflektionen werfen Licht auf den Zerrspiegel des Unbegreiflichen und lassen das Erlebnis erleuchtungsartigen Glücks in immer neuen Aspekten aufblitzen. Für unseren Verstand und unsere Begriffswelt wird dieser unfassbare Moment wohl immer im Dunkeln bleiben.
Klassische und moderne, fremde und bekannte Zitate in diesem Buch weisen Zusammenhänge auf, die global, zeitlos und gerade deshalb aktuell sind und ‚hellhörig’ machen für diese Augenblicke jenseits von Raum und Zeit. Ich habe die Zitate nach Schwerpunkten nebeneinander gestellt, ohne Rücksicht darauf, aus welcher Epoche, aus welchem Kulturkreis sie stammen. Nur so zeigen die ausgewählten Textstellen, dass dieses ergreifende Ereignis der Nicht-Dualität in allen Kulturen quer durch die Geschichte und über unseren ganzen Erdball hinweg von höchster Bedeutung ist. Zitate von Dichtern, Denkern, Wissenschaftlern und Mystikern stehen gleichwertig neben Initiationsberichten aus Afrika und Zitaten aus den Weisheitslehren von Ägypten, Indien und Fernost.
Dichter, Denker, Künstler, Wissenschaftler und Extremsportler erzählen von einem Ausflug in die andere, mit Sprache nicht erfassbare Wirklichkeit, indem sie das, wofür ihnen die Begriffe fehlen, poetisch, philosophisch, wissenschaftlich umschreiben. Friedrich Hölderlin, Else Lasker-Schüler und Paul Celan; Platon, Rousseau und Ernst Bloch; John Cage, Sun Ra und Charles Mingus; Albert Einstein, Nils Bohr und Erwin Schrödinger; Sigmund Freud, Fritz Perls und Albert Hofmann; Jakob Böhme, Bayazid Al Bistami und Dschalaleddin Rumi und eine fast enzyklopädische Anzahl anderer spürten der ekstatischen Grenzüberschreitung aus unserer gewöhnlichen in eine andere Realität nach.
Überzeugt davon, dass in Zeiten globaler Wirtschaft auch im Denken Grenzen abgebaut werden müssen, hoffe ich, mit diesem Hinweis auf ein Phänomen, das in einem ganz wesentlichen Bereich persönlichen Erlebens alle Kulturen verbindet, zu mehr Verständnis, Respekt und Toleranz dem Fremden gegenüber zu führen und bin mir sicher, dass unser eigenes Erleben im Spiegel anderer Kulturen an Essenz gewinnt.
Für literarische Hinweise danke ich Günther Bonheim vom Jakob Böhme-Archiv Goerlitz, Winfried Feifel vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach, Dirk Heisserer, Ulrich Holbein, Mechthild Rausch, Detlef Thiel, Elisabeth Trautwein-Heymann, herman de vries und meinem aufgeschlossenen humorvollen langjährigen Partner Hartmut Geerken.
Die Quellennachweise beschränken sich auf nicht allgemein bekannte Literatur. Einige wenige sind leider nicht mehr festzustellen.
Sigrid Hauff
Augenblicke jenseits von Raum und Zeit
Entrückung, Ekstase, absolutes Bewusstsein. Nicht-Dualität als Ereignis
Ruhe. Eine unheimliche innere Stille. Das Denken setzt aus. Leicht, als ob du dich auflöst im Nichts. Oder im All. In einem Raum ohne Grenzen. Ohne Zeit. Du bist nicht mehr du. Du bist alles. Du bist nichts. Du bist – plötzlich, unerwartet, grundlos überglücklich.
Als ich, 17-jährig und erstmals verliebt, im Foyer eines Pariser Hotels traurig und verzweifelt auf die Eingangstür starrte und vergeblich auf meinen Freund wartete, trippelte durch die Schattenmuster der schmiedeeisernen Eingangstür in der Sonne ein Sperling auf mich zu: in diesem Moment geschah etwas mir völlig Unverständliches.
Der kleine Vogel wurde urplötzlich zur Erfüllung aller nur denkbaren Wünsche.
In diesem Augenblick einer bis dahin unbekannten absoluten Stille wurde mir die ganze Welt geschenkt. Der Moment, als dieser Vogel auf mich zuging, veränderte mich und mein Leben. Seit diesem Tag weiss ich, dass Glück unabhängig ist von allem, was unsere Alltagswelt an Kummer und Verzweiflung mit sich bringen mag.
Was tatsächlich geschehen war, blieb mir lange ein Rätsel. Bis ich bei der Lektüre immer wieder auf ähnliche Erfahrungen anderer stiess. Ich versuchte, dem Rätsel auf die Spur zu kommen.
Das Phänomen dieser überwältigenden Stille begegnete mir im Laufe der Jahre in literarischen Zeugnissen aller Zeiten in Ost und West. Philosophische Erkenntnis, religiöse und mystische Erfahrung, künstlerisches Schaffen und persönliche Lebenserfüllung scheinen im Erlebnis dieser ganz besonderen Stille miteinander verwurzelt. Es ist ein Augenblick, in dem sich das Bewusstsein dem ganzen Universum öffnet. Es ist das Erlebnis der Allgegenwart, der mystischen Einheit mit Gott, Göttern, Natur und dem eigenen Ich.
Augenblicke der Stille sind Augenblicke, in denen man einfach nur ist: offen, achtsam, präsent. Weder ein nach aussen noch nach innen gerichtetes Bewusstsein – selbstvergessen, in der Raum-Zeit der Kinder. Die innere Zerrissenheit verfliegt. Die Entzweiung des Menschen mit sich selbst weicht der wiederhergestellten Einheit.
Ich stiess auf spirituelle und physische Praktiken, die dieses kosmische Bewusstsein, das je nach Kultur einen anderen Namen hat, auslösen sollen und können. Die Hindus sprechen von Samadhi, die Buddhisten von Erleuchtung, Zenbuddhisten von Satori und Taoisten von Tao. Meditation, Mantras, Yoga- und Zenübungen sind Wege, diesen Zustand tiefer Entspannung bei wachem Geist gezielt auszulösen. Der Tanz der Derwische leitet über Trance und Ekstase in diesen Zustand über. Magische und religiöse Rituale wie auch Initiationsriten zielen ab auf Bewusstseinszustände jenseits von Raum und Zeit. Ekstase – das griechische Wort Ek-stasis bedeutet wörtlich: ausser sich sein. Sich in einem anderen Bewusstseinszustand befinden. Aus sich heraustreten, aussteigen aus der Ordnung von Raum, Zeit und Kausalität.
Die Kluft zwischen Sein und Bewusstsein schliesst sich in Augenblicken, wo das Unendliche unmittelbare Gegenwart ist. Das Glückgefühl, aufgehoben zu sein in einem Grösseren, überwindet jede Angst, auch die Angst vor dem Tod.
Es gibt Kulturen, die dieses Bewusstsein von Einheit zum Ziel aller spirituellen Anstrengungen machen, zum Wichtigsten, was es zu erreichen gilt. Es gibt Kulturen, die mit veränderten Bewusstseinszuständen ganz selbstverständlich umgehen, arbeiten und heilen. Und es gibt Kulturen wie unsere, in denen diese Momente eines ins Universale erweiterten Bewusstseins im Alltag eine so geringe Rolle spielen, dass sie nicht der Rede wert sind.
Oder doch?
Die Uhr meines Lebens holte Atem
Beschreibungen unbeschreiblicher Erlebnisse
moments
in
which
one
simply
is¹
Augenblicke in denen man einfach nur ist – das Gedicht des amerikanischen Dichters und Griechenland-Eremiten Robert Lax (1915 – 2000) nimmt den gemeinsamen Nenner aller nachfolgenden Berichte über Erlebnisse der Stille, der Einheit mit Gott, Göttern, Welt, Kosmos und mit dem eigenen Ich vorweg.
Im Augenblick der völligen Selbstauflösung bist du nicht du. Du bist ein Universum, das Universum. Du könntest antworten, sollte dich jemand fragen. Aber deine Antwort käme von weither, von anderswo. Du bist abwesend, schwebst ausserhalb von Raum und Zeit. Du schwebst auch zwischen Leben und Tod. Als ob die Entscheidung für Sein oder Nichtsein in diesem Augenblick bei dir liege.
Auch den Wortgewaltigen hat diese unerklärliche Erfahrung von Stille zunächst die Sprache verschlagen. Und doch haben Dichter, Schriftsteller und Philosophen versucht, in Worte zu fassen, wie ihnen diese Erfahrung in ihrem Leben zum grossen Ereignis wurde. Diese Stille ist mehr als das Gegenteil von Lärm und Unrast. Diese Augenblicke ausserhalb von Raum und Zeit überwältigen durch ein bislang unerlebtes Ausmass von Glück.
Die grössten Ereignisse – das sind nicht unsre lautesten, sondern unsre stillsten Stunden.
(Nietzsche, Zarathustra)
Mittags.
Und Zarathustra lief und lief und fand niemanden mehr und war allein
Und fand immer wieder sich und genoss und schlürfte
Seine Einsamkeit
Und dachte an gute Dinge, – stundenlang …
Unter einem knorrigen Baum, um den sich ein Traubenstock rankt, legt er sich zum Mittagsschlaf nieder. In der Stille dieses Augenblicks scheint ihm die Welt vollkommen. Er ist glücklich, und er fragt sich, was das ist, das Glück:
Das Wenigste gerade, das Leiseste, Leichteste, einer Eidechse Rascheln, ein Hauch, ein Busch, ein Augen-Blick – wenig macht die Art des besten Glücks. Still! – Was geschah mir:
Horch! Flog die Zeit wohl davon?
(Nietzsche, Zarathustra)
Der Zeiger rückte, die Uhr meines Lebens holte Atem – nie hörte ich solche Stille um mich: also dass mein Herz erschrak.
(Nietzsche, Ecce Homo)
Und so stand mein Geist geblendet in höchster
Verwunderung bewegungslos, still und gespannt,
und meine Verwunderung flammte weiter
während ich in Erstaunen starrte …
(Dante, Göttliche Komödie)
Auslöser für diese Aufrüttelerlebnisse sind offensichtlich sehr häufig völlig unbedeutende Gegenstände, unscheinbare Tiere, Pflanzen, beiläufiges Geschehen, die plötzlich und unerwartet berühren.
Die ganze Ewigkeit pocht aus meiner kleinen Taschenuhr und der ganze Weltenraum