Kursbuch 224: Zu viel, zu wenig
Von Armin Nassehi (Editor), Peter Felixberger (Editor) und Sibylle Anderl (Editor)
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Buchvorschau
Kursbuch 224 - Armin Nassehi
Armin Nassehi
Editorial
So ein Kursbuch hat viel Text. Über 140 Seiten sind es geworden. 143 und eine Vakatseite, um es genau zu sagen. Ist das zu viel? Hätten nicht auch 108 gereicht? Oder 85? Wäre irgendetwas verloren gegangen, wenn man die Dinge auf 80 Seiten verdichtet hätte? Oder ist es gar zu wenig? So wichtige Themen, entfaltet in aller Knappheit auf nur 143 Seiten. Andere hätten sich 196 oder gar 208 Seiten gegönnt. Nur wir nicht. Sind wir zu sparsam? Oder zu bescheiden? Oder nur zu blöd, im Editorial nicht ernsthaftere Fragen zu stellen?
Es geht in den Beiträgen dieses Kursbuchs allesamt um das angemessene Maß, und es geht darum, warum es sich nicht finden lässt und wir stets darauf stoßen, etwas sei »zu viel« oder »zu wenig« – und bisweilen wird beides über dasselbe behauptet. Insofern sind die obigen Fragen gar nicht so blöd. Was ist die angemessene Länge beziehungsweise Seitenzahl für eine Zeitschrift wie das Kursbuch? Ist es sinnvoll, Essays mit einer Länge von circa 25 000 Zeichen inklusive Leerzeichen zu schreiben? In einer Zeit, in der Texte eher kürzer werden, in den sozialen Medien sogar aphoristisch kurz. Die Frage stellt sich wirklich. Ich habe selbst in allen Kursbüchern, die wir seit 2012 herausgeben, einen Beitrag geschrieben (ich glaube, es gab nur zwei Ausnahmen, viel mehr jedenfalls nicht). Das Format des Kursbuch-Beitrages ist mir beim Schreiben so in Fleisch und Blut übergegangen, dass ich stets auf eine Länge von 25 000 bis 30 000 Zeichen komme, ohne das planen zu müssen, weil es sich inzwischen praktisch fügt. Ist das eher ein Zeichen, dass die Zeichenzahl angemessen ist, oder ist es nur ein Effekt der Gewohnheit und einer normativen Kraft des Faktischen, die im Nachhinein als das rechte Maß gemessen wird? Sind die Texte doch zu lang? Und wenn ja, warum? Und wenn nein, warum nicht?
Man könnte so weitermachen und wird feststellen, dass sich das goldene Maß nicht einstellt und dass Gründe für alle möglichen Lösungen zu finden sind. Und so geht es auch den Beiträgen dieses Kursbuchs, die sich allesamt schwertun, das angemessene Maß zu bestimmen. Sie arbeiten sich vielmehr reflexiv daran ab, dass eine solche Bestimmung ebenso unmöglich wie erforderlich ist. Am grundsätzlichsten zeigt das der Beitrag von Wilhelm Schmid, der an verschiedenen Beispielen darstellt, wie voraussetzungsvoll die Aufgabe ist, zwischen »zu viel« und »zu wenig« zu vermitteln. Seine Lösung ist eine praktische. Er plädiert für Askese, also die praktische Einübung eines Maßes. Ob etwas zu viel oder zu wenig ist, ist davon abhängig, was praktikabel ist, was die Frage nach der Angemessenheit nicht suspendiert, sondern praktisch auf sich selbst bezieht.
Ist Schmids Perspektive schon existenziell, wird das durch diejenige von Sibylle Anderl noch einmal ins Kosmische gesteigert. Sie schreibt: »›Zu viel, zu wenig‹ ist die Schlüsselformel, dass es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts.« Sie widmet sich der Frage einer kosmischen Asymmetrie, die es erst ermöglicht hat, dass aus dem Urknall überhaupt Substanzen entstanden sind, die die Basis für die materielle Welt darstellen. Nur weil es bisweilen »zu viel« hiervon und »zu wenig« davon gab, ist es zu Ungleichgewichten gekommen, die sich zu Formen stabilisieren konnten – um das sehr laienhaft zu rekonstruieren. Kritische Rohstoffe auf der Erde (von denen es ökonomisch gesehen immer zu wenig und vor allem zu wenig »hier« gibt), etwa Seltene Erden, tragen die Spuren dieser Ordnungsbildung noch in sich – und sind selbst im Laufe der Erdgeschichte von außen als Folge kosmischer Ereignisse auf die Erde gekommen.
Annekathrin Kohout beschäftigt sich mit Eruptionen ganz anderer Art, nämlich mit dem Zuviel an Erregungsdynamiken durch Soziale Medien – und kommt zu der griffigen Diagnose, dass es nicht einfach um ein Zuviel geht, sondern darum, dass aus Reflexion bloße Reflexe werden, die sich dann selbst steigern. Also auch hier eine Frage des Maßes, das offensichtlich schwer zu erreichen ist. Genauso wie bei Thomas Hutzschenreuter, der in Managementstrategien nicht auf Totalkontrolle setzt, sondern, wenn man das so paraphrasieren kann, auf kontrollierten Kontrollverlust. Mein eigener Beitrag nimmt ebenfalls die Frage nach dem Maß auf – auf 25 000 Zeichen. Ist das zu viel? Lassen wir das.
Mit Maja Göpel haben Peter Felixberger und ich ein, wie wir finden, sehr aufschlussreiches Gespräch geführt, in dem sie sehr deutlich hinweist, wie sich durch bestimmte Konstellationen privater und öffentlicher Handlungsfähigkeit Anreize verschieben und Fehlallokationen verursacht werden. Politisch wird daraus die Frage nach zu viel Ich und zu viel Wir – und das Gespräch ringt darum, wie man hier nicht nur ein Maß definieren kann, sondern auch, ob es das Maß ist, an dem man überhaupt ansetzen kann. Wir danken Maja für ihre interessante Perspektive auf die Dinge.
Sehr lesenswert ist die unaufgeregte Form, in der Clemens Fuest durch den Dschungel des Verhältnisses öffentlicher und privater Finanzen, der Verteilung von Vermögen und Einkommen sowie der Handlungsfähigkeit von Staaten und privaten Akteuren führt – Teile davon werden überdies in der VIZUAL-Kolumne von Jan Schwochow visualisiert, etwa die Beiträge unterschiedlicher Einkommens- und Vermögensklassen am Steueraufkommen.
Olaf Unverzarts Fotokolumne führt uns nach Katar – in ein Land, in dem alles (zumindest für die Begüterten) aus europäischer Perspektive als ein unglaubliches Zuviel erscheint, ein Zuviel an Luxus, an Ästhetik, an Größe, an Maßlosigkeit – und man darf sicher sein, dass sich auch dort trotz aller Fülle die Frage nach dem rechten Maß stellt. Die Bilder zeigen jedenfalls, dass die Fragestellung nach dem Maß selbst skalierbar zu sein scheint.
Für unsere Intermezzi von Christian Neuhäuser und Pascal Goeke haben wir die provokative Frage gestellt, was sie gegen Reiche haben. Beide betonen direkt am Anfang »nichts«, gar nichts – um dann über die Konstellationen nachzudenken, was die Frage bedeutet.
Berit Glanz kämpft in ihrem 16. »Islandtief« mit zu viel Schnee – einerseits ästhetisch schön, andererseits eine Folge des Klimawandels, der sich gerade in der ungewöhnlichen Klimasituation Islands auf besondere Weise niederschlägt.
Und schließlich bespricht Peter Felixberger in seiner LEGO-Kolumne das Buch Die Scham von Frédéric Gros. Er empfiehlt das Buch mit Nachdruck, ein Buch, das einerseits Bedingungen für Scham und Peinlichkeit aufzeigt, andererseits nach der Möglichkeit einer kathartisch wirksamen Scham sucht, die sich dann produktiv wenden lässt.
Wenn ich dieses Editorial so lese, dann scheint mir, dass für all das, was wir hier zu bieten haben, 143 Seiten das sich aufdrängende Maß ist. Weniger wäre zu wenig. Mehr wäre zu viel. Und das Schönste daran: Es lässt sich nicht widerlegen, weil dieses Kursbuch so ist, wie es ist. Wie sagen die Schöpfer unter uns? »Und siehe, es war gut.«
Jan Schwochow
Starke schultern Verantwortung | VIZUAL
Die Einkommenssteuer in Deutschland soll eigentlich für mehr Gerechtigkeit sorgen: Wer weniger verdient, gibt prozentual weniger an den Staat ab als jemand mit einem deutlich höheren Einkommen. Doch ist dieses System heute noch zeitgemäß und wirklich fair? Deutschland zählt zu den reichsten Ländern der Welt – dennoch wächst die Kluft zwischen Arm und Reich stetig. Menschen mit hohen Vermögen können ihr Geld gewinnbringend anlegen und so immer mehr Reichtum anhäufen, während diejenigen mit geringem Einkommen kaum noch die Chance ergreifen können, finanziell aufzusteigen.
Grafik 1 von Jan Schwochow: Reich wird reicher. Arm bleibt armGrafik 2 von Jan Schwochow: Was reicht zum Leben? und Steuern auf Arbeit hoch, auf Vermögen niedrigSCHAUPLATZ
Die Fotokolumne von Olaf Unverzart
Am Ende dieser kleinen Bildstrecke steht ein Haus mit einer roten Schleife. Irgendwo in Katar. Mein Guide erklärte mir, es handle sich um ein Geburtstagsgeschenk eines Scheichs an seine Ehefrau. Ich erinnere mich gut – es war für mich der Inbegriff von Reichtum und Dekadenz. Kein Einzelfall. Here we go! Die Parade kostspieliger und fragwürdiger Hobbys tritt auf: dicke Autos, Kamelrennen, Jetskis oder das Halten von Greifvögeln. Katar sorgt gut für seine einheimischen Bürger in einer klimatisierten Welt – während rund 90 Prozent der Bevölkerung ausländische Arbeitskräfte sind, oft Migranten, die für wenig Geld hart arbeiten müssen. Die Gesellschaft ist nach Herkunft, Status und Berufsschicht getrennt. Reichtum ist gleich Zucker, Aircondition, PS, Protz und Überfluss. Meine Begegnung mit dem Land und seinem Wohlstand war geprägt von Missverständnissen und gegenseitiger Verwunderung. Überangebot und Künstlichkeit waren alles andere als zurückhaltend. Am Ende fehlten mir Verzicht, Respekt sowie die Gabe, dass man eher miteinander und aufeinander schaut.
Foto von Olaf Unverzart aus Katar: Motorrad in Burberry-Karo lackiert mit passendem Burberry-MotorradhelmFoto von Olaf Unverzart aus Katar: KamelrennenFoto von Olaf Unverzart aus Katar: Mutter mit Kind im Arm hat den Rücken zugewandt und filmt mit Videokamera eine BuchtFoto von Olaf Unverzart aus Katar: Ein wohlhabender Mann mit seinem Falken in einem üppig ausgestatteten RaumFoto von Olaf Unverzart aus Katar: Ein Angestellter reinigt einen Rolls Royce in einem ShowroomFoto von Olaf Unverzart aus Katar: Viele Jet Ski auf Anhängern lagern am StrandFoto von Olaf Unverzart aus Katar: Ausgestopfte Antilope mit zwei kleinen Kitzen in einem WohnzimmerFoto von Olaf Unverzart aus Katar: Ein Hochhaus mit riesiger roter Schleife als GeschenkWilhelm Schmid
Es passt eigentlich nie
Grundsätzliche Gedanken über das angemessene Maß
Ein Abend auf dem Sofa. Beziehungsgespräch. Mein Gegenüber findet, ich lasse zu wenig Nähe zu. Ich staune, eigentlich ist es mir fast zu viel. Was jetzt? Keine Sorge, wir haben immer einen Weg gefunden. Getrennt haben wir uns nie. Aber es ist diese Frage, die alle kennen, auch wenn sie oft mit Bingewatching übersprungen wird. Und sie stellt sich bei Weitem nicht nur in Beziehungen: Zu
