Der Weg in die Vergangenheit zu meinem heutigen ICH: (Auf den Spuren zu mir selbst)
Von Sigrun Bergmann
()
Über dieses E-Book
Ein ehrlicher Blick zurück, ein mutiger Schritt nach vorn.
In diesem bewegenden autobiografischen Buch erzählt die Autorin ihre Geschichte, von einer Kindheit voller emotionaler Herausforderungen und einem komplizierten Verhältnis zur eigenen Mutter, über falsche Freunde und verletzende Beziehungen bis hin zur tiefgreifenden Wandlung durch eine schwere, traumatische Krankheit.
Doch im Dunkel beginnt auch Licht zu leuchten: Die Begegnung mit ihrem heutigen Mann, echte Liebe, neue Hoffnung und der unerschütterliche Wille, nicht aufzugeben.
Dieses Buch ist mehr als eine Lebensgeschichte. Es ist ein Zeugnis innerer Stärke, ein Appell an alle, die sich selbst verloren glauben und ein Beweis dafür, dass selbst nach einem Sturz um 360° ein neuer Anfang möglich ist.
Ehrlich. Berührend. Mutmachend.
Ähnlich wie Der Weg in die Vergangenheit zu meinem heutigen ICH
Ähnliche E-Books
Geschichten, wie sie das Leben schreibt Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenErzählt mir nichts vom Krönchen richten!: Tragik, Komik, Männer – Dietel Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenScherbentanz Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMein Leben mit Schuss: Wie Drogen mein Leben lange Zeit dominierten und ich mich unerwartet im Hospiz wiederfand, um zu sterben. Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenLeben unter Strom: Mein Leben mit Epilepsie, Verlust und Hoffnung Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenGeprägt & Gezeichnet Durchs Leben Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDas paradoxe Spiel des Schicksals Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenKrümmungsversuche: Lebensbeichte mit spannenden Rezepten, die man nicht nachbacken muss Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMein Schutzengel und ich: Eine Lebensgeschichte Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDESTINO BIZZARRO: Mein Traummann und ich im Kampf gegen den Krebs Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenVerlassen: Auf der Suche nach meiner Geschichte Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenLebe selbstbestimmt wunderbar: Schlaganfall & Hoffnung - Meine Geschichte auf dem Weg zurück ins Leben - mit Ratgeber für den Alltag Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDer Tod der Rose: Aus den Tagebüchern meiner Frau Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenOnce you are a dreamer, you are always a dreamer: Das Grenzgebiet Ukraine und die Spaltung der Menschheit Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenUmweg Leben: Einbahnstraße in den Tod Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAchterbahn - Eine Biografie Bewertung: 5 von 5 Sternen5/5Stell Dich hinten an Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenNicht mehr schweigen: Der lange Weg queerer Christinnen und Christen zu einem authentischen Leben Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenFelix: Von Mann zu Mann Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenIch bin nicht satt geworden Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMeine Psychose & ich: Lebensbuch einer 56-jährigen Frau, die gerade noch an ihrer letzten Psychose zu knabbern hat Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenSei Dein Wunder Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenATEMLOS GELEBT, geliebt, gekämpft, gesiegt: Gib nicht auf, auch nicht, wenn du besiegt wirst …" (Almafuerte) Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenKopf über Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAus dem Kokon fliegt ein Schmetterling Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Alkoholikerin: von Carmen Reiter Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWie ich die Last meines Lebens hinter mir ließ und 100 Kilo abnahm Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenSeeleninferno: Ein erzählender Ratgeber für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenCycle Breaker: Mein Weg aus der Selbstzerstörung in die Selbstliebe Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenIch verlasse dich, weil ich leben will: Frei werden von Schuldgefühlen Bewertung: 5 von 5 Sternen5/5
Biografien – Medizin für Sie
Niklas Luhmann: "... stattdessen ...": Eine biografische Einführung Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenArzt werden: Eine Erzählung über Studenten und Ärzte Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenEinsatz am Limit: Was im Rettungsdienst schiefläuft – und warum uns das alle angeht Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie unglaubliche Welt genialer Menschen mit Autismus Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenBorderline-Wie alles begann-Meine Lebensgeschichte Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWer stirbt denn nicht?: Wie die Aussicht auf den Tod mein Leben veränderte Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
Rezensionen für Der Weg in die Vergangenheit zu meinem heutigen ICH
0 Bewertungen0 Rezensionen
Buchvorschau
Der Weg in die Vergangenheit zu meinem heutigen ICH - Sigrun Bergmann
Ein Wort zuvor
Dies ist die Geschichte einer Frau, die wie viele, wenn nicht gar alle Frauen, ihre Träume hatte. Eine Geschichte, die – wie man sagt – das beschreibt, was man Leben nennt. Mit allen Höhen und Tiefen, angefüllt mit Hoffnung, Lachen, Liebe – aber auch mit Verzweiflung, inneren Kämpfen und vielen Tränen. Ein Leben zwischen Sport, Arbeit, Krankheiten, zwischen persönlicher Entwicklung, Träumen, Niederlagen, positiven und negativen Erfahrungen, Verlusten und Siegen. Ich weiß das, denn es ist meine Geschichte.
„Habe ich alles selbst erlebt, mögen Sie sagen und womöglich sogar recht damit haben. Und trotzdem glaube ich, ist dies eine besondere Geschichte. Denn die Verzweiflung in meinem Leben war bedrohlich, so bedrohlich, dass mir das Leben nicht mehr wichtig erschien, die Kämpfe, die ich bestritten habe, fanden zu großen Teilen in meinem Inneren statt, die Höhen und die Tiefen stellten sich als extrem dar, „falsche
und „richtige" Männer kreuzten meine Wege. Es war – zumindest in den ersten 50 Jahren meines Lebens – kein einfaches Leben. Ich habe die Familie verloren. Ich habe ein Bein verloren.
Ich habe meine Hoffnung verloren. Und ich habe fast alles wiedergefunden.
Bis auf die Träume, denn die hatte ich nie verloren. Sie waren stets bei mir, bis heute. Die Träume sind der Grund, warum ich noch lebe – und Freude dabei empfinde. Die Träume sind es, warum ich als „starke Frau" angesehen werde, und vielleicht bin ich das wirklich.
Mögen Sie lesen, wie eine Frau unter diesen Bedingungen leben kann, weiter leben möchte, ihre Träume verwirklicht? Es ist ein ehrlicher Bericht, den Sie in der Hand halten. Ich habe nichts hinzugefügt und wenig verschwiegen, denn mein Leben verdient Ehrlichkeit. (Die Namen von noch lebenden Menschen, die meinen Lebensweg begleiteten oder begleiten, habe ich zu deren Schutz geändert.) Wenn Sie beim Lesen bis hierhin gekommen sind, dann ist die Chance doch recht groß, dass wir eine Weile gemeinsam auf mein Leben schauen. Ich begrüße Sie herzlich und freue mich.
Holen wir alle noch einmal tief Luft – und dann geht es los.
Kapitel 1
Erster Blick auf meine Familie und auf meinen Mann
Menschen, die im Sternbild des Schützen geboren wurden, gelten im Allgemeinen als ehrlich und aufrichtig, als dynamische und fröhliche Personen mit einer weltoffenen Art. Sie knüpfen schnell Kontakte und argumentieren ihren Standpunkt durchaus gekonnt und direkt. Obwohl mich diese Charakterisierung nie direkt interessiert hat, sind Parallelen zu meinem Leben vorhanden, das will ich nicht leugnen. Ich gebe zu, regelmäßig Horoskope für mich und die Menschen, die mir lieb sind, zu lesen und mich an passenden Umschreibungen zu erfreuen. Mein Mann ist auch Schütze, hat nur einen Tag nach mir Geburtstag und ist ein vollkommen anderer Mensch als ich. Hat wohl auch mit den Aszendenten zu tun.
Tatsache ist, dass ich im Dezember 1969 in Köln geboren wurde, ich bin also sozusagen eine rheinische Schützin. Die Familie, in die ich hineingeboren wurde, war eine Arbeiterfamilie. Mein Vater arbeitete bei Hochtief und war Baumaschinenmeister, meine Mutter war Fleischereifachverkäuferin, ein Beruf, der wie so viele heutzutage eine ganz andere Bezeichnung hat. An meine Geburtsstadt Köln habe ich keine Erinnerung. Als ich drei Jahre alt war, sind wir nach Hilgen gezogen, in einen Ortsteil von Burscheid, einer bergischen Kleinstadt, die nicht sehr weit von Köln entfernt liegt, trotzdem eine eigene Welt ist. Dort habe ich meine Kindheit verbracht, dort bin ich aufgewachsen. Zumindest so lange, bis ich von zu Hause ausgezogen bin. Da war ich achtzehn Jahre alt, aber der Reihe nach.
Mein Vater arbeitete viel und war oft nicht zu Hause. Ich war regelmäßig, gerne und oft bei den Großeltern. Meine Mutter? Ach, die musste sich um Therapien und andere Heilungsprozesse für meinen Zwillingsbruder kümmern, der nicht wirklich gesund war. In der Kölner Zeit kam meine Oma, ich weiß nicht wie, zu uns in die große Stadt. Aber ich sollte von meinem Zwillingsbruder erzählen.
Allgemein sind viele Menschen ja der Auffassung, Zwillinge könnten nicht ohne einander, sie würden gleich empfinden, gerne das Gleiche essen und sich oftmals exakt gleich kleiden, auch wenn sie zehn Kilometer voneinander entfernt sind. Das stimmt nicht. Ich weiß das. Kommt die Verschiedenheit daher, dass wir zweieiige Zwillinge sind? Am Sternzeichen kann es nicht liegen, denn er ist selbstverständlich ebenso Schütze wie ich. Und trotzdem ist er charakterlich das komplette Gegenteil von mir. Ich würde Henning, nennen wir ihn so, als Eigenbrötler bezeichnen. Er lebt sein Leben für sich und wohnt auch heute noch bei unseren Eltern oben im Jugendzimmer. Er hat zwar, wenn überhaupt, nur wenige Freunde, hat aber seine Arbeit und wird im Kreise der Kollegen geschätzt und respektiert. Sein Privatleben besteht aus seinen vier Wänden zu Hause. Mein Verhältnis zu meinem Zwillingsbruder war schwierig, hat sich jedoch in der jüngsten Vergangenheit, nach meiner zweiten Hochzeit, etwas gebessert. Henning scheint sich etwas zu öffnen und sich mir anzunähern.
Vielleicht kann ich mit einer Episode aus der Kindheit verdeutlichen, wie Henning tickte. Er hatte die Veranlagung, Blödsinn zu machen, Unfug anzustellen. Und wenn meine Mutter gefragt hat: „Wer von euch war das?, dann hat er immer gesagt: „Das war die Sigrun.
Weil er genau wusste, dass er etwas gemacht hatte, was sich nicht gehört – und das bedeutete Ärger, für den er nicht geradestehen wollte. Was bedeutete, dass ich die Strafe für die Taten meines Bruders abbekam. Wo ich groß geworden bin, sagt man dazu: Ich habe die Hucke vollgekriegt, mehr als einmal und nicht ohne. Und wenn alles vorbei war und ich heulend in der Ecke saß, dann sagte Henning zu unserer Mutter: „Du, das war nicht die Sigrun. Das war ich. Und meine Mutter war des Schlagens müde und sagte nur: „Jetzt tut mir die Hand genug weh.
Und so oder so ähnlich ging es über die komplette Kindheit. Henning hat immer die Schuld mir zugewiesen. Er war sehr rechthaberisch, was sich bis heute nicht geändert hat. Andere Meinungen zuzulassen ist für ihn nahezu unmöglich. Auch wenn er weiß, dass er unrecht hat. Es ist nicht einfach, mit solchen Menschen leben zu müssen, besonders als Kind.
Christoph, nennen wir meinen zweiten Mann so, hat in Henning etwas ausgelöst. Ich weiß nicht was. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich es wissen will. Aber Henning ist zumindest etwas umgänglicher geworden. Die beiden haben sich vor drei Jahren zum ersten Mal gesehen und hatten sofort eine Basis, um miteinander umzugehen, einen Draht zueinander, einen Zugang. Wenn die beiden miteinander telefonieren, dann machen der regelrechte Blödsinn miteinander und faxen herum. Was für mich bedeutet: Das jetzige Verhalten von Henning – das hätte ich mir in der Kindheit gewünscht.
Ich als „kleine Schwester, die ich bis heute geblieben bin, weil ich elf Minuten nach ihm geboren wurde, habe ihn immer beschützt, auch in der Schule, wenn er mal wieder wegen seiner Weigerung andere Meinungen anzuerkennen, Schwierigkeiten bekam und Ärger mit den Klassenkameraden hatte. Ich habe mich dann schützend vor ihn gestellt. „Lasst ihn bitte in Ruhe
, habe ich gesagt. Im Sport habe ich ihn mitgezogen. Überhaupt Sport: Als das bei mir so richtig losging (mehr dazu später), hat meine Mutter mich immer gedrängt Henning mitzunehmen. Habe ich dann auch mal gemacht, aber befriedigend war das wohl für uns beide nicht. Nach wie vor weiß ich nicht, was Henning, mein Zwillingsbruder, darüber denkt, was mit mir in den vergangenen Jahren geschehen ist, wie er dazu steht, was ihn beschäftigt. Aber er ist noch immer sehr verschlossen und gibt sein Innenleben, seine Gedanken nicht preis. Er frisst das, was ihn beschäftigt, wie man sagt in sich hinein.
Im Gegensatz dazu war ich, sobald es ging, immer draußen. Ich war abenteuerlustig, kein Baum war mir zu hoch, keine Aufgabe zu schwer, kein Schneehang zu steil. Gerne gebe ich ein Beispiel: Wir waren im Harz, ich war vielleicht acht Jahre alt, es war Urlaubszeit, wir besuchten die Tante meiner Mutter, wie wir es, als Henning und ich Kinder waren, oft taten. Die Tante besaß ein großes Haus mit Garten und Garageneinfahrt, die durch ein großes Holztor verschlossen war. Riesengroß. Und da gab es eine Wäscheleine, die darüber hing und mit dem Tor verbunden war. Was ich nicht wusste: Das Tor war nicht arretiert. Ich bin also da hochgeklettert, habe mich an der Wäscheleine festgehalten und wollte auf dem Tor balancieren. Das Tor war nicht breit, vielleicht fünfzehn Zentimeter. Ich war guter Dinge, dass die Wäscheleine, an der ich mich festhielt, meinem Gewicht gewachsen war. Aber das nicht arretierte Tor kam, umso weiter ich auf ihm ging, in Schwingung, gab irgendwann nach und die Wäscheleine hat mich „natürlich nicht gehalten. Sie ist gerissen und ich bin ziemlich rüde auf den Boden geknallt. Ich war total „zerschunden
und sah wohl aus, als wäre ich ohne Schutz in eine Büffelherde geraten. Ich habe dann zu hören bekommen: „Jetzt fang bloß nicht an zu heulen. Da bist du selber Schuld." Es war – wie immer eigentlich – meine Mutter, die das zu mir sagte. (Mein Vater hat sich – was solche Geschichten angeht – immer herausgehalten.) Angesichts der Verletzungen in späteren Jahren bis hin zu meiner Leidensgeschichte war dies sicher eine eher harmlose Geschichte. Aber beispielhaft für meine Art, mich als Kind vor keinem Abenteuer zu ängstigen.
Jetzt habe ich meinen Vater erwähnt, was vielleicht eine gute Gelegenheit ist, ihn und meine Mutter in diese Geschichte einzuführen. Mein Vater ist teilweise auch eigenbrötlerisch, zieht sich gerne in sich selbst zurück und flieht in seine Hobbys. Ich sage bewusst er flüchtet, weil meine Mutter sehr anstrengend sein kann. Vater hatte seine Arbeit, klar, aber er zog sich gerne in den umgebauten Keller zu seinen Holzarbeiten zurück. Mutter war für die Erziehung zuständig. Sie war es auch, die den berüchtigten „Klaps austeilte, was zumeist mehr als ein bloßer Klaps war. Mein Vater hat mich, soweit ich mich erinnere, nie geschlagen. Ich erinnere mich nur daran, was meine Mutter mir angetan hat. Vater war das alles zu „anstrengend
. Auch wenn es in der Schule etwas zu regeln galt (ich war eine mittelmäßige Schülerin mit leichten Problemen in Mathe), dann war es meine Mutter, die das anging. Sie war auch der festen Überzeugung, dass es gut sei, ihre beiden Kinder in der gleichen Schulklasse zu belassen. Ansonsten hätte sie ja noch mehr Elternabende besuchen müssen. Es stand zur Diskussion, ob ich die Realschule besuchen sollte, während Henning auf die Hauptschule ging. Das wäre meiner Mutter zu viel Aufwand gewesen, weshalb ich ebenfalls die Hauptschule besuchte. Was dazu führte, dass ich nicht mehr viel tat. Besonders die Frage, warum ich mich für das verhasste Fach Mathematik anstrengen sollte, beschäftigte mich. Aber ich kam zu der Antwort, dass ich zumindest in Englisch, Deutsch und eben Mathe ordentliche Zeugnisnoten vorweisen musste, um die E-Kurse belegen zu können und später doch noch den Realschulabschluss zu machen. Henning und ich haben den dann auch erhalten, er dann sogar mit einem etwas besseren Durchschnitt als ich.
Es fiel mir leicht auf andere Kinder zuzugehen, mit ihnen in Kontakt zu kommen. Alleine etwas zu erleben, ging genau so wie mit Freunden oder Freundinnen. Das ist im Prinzip bis heute so geblieben. Dazugekommen ist, dass man mich heute auch gerne anspricht. Aber dazu später mehr.
Ich würde meine Kindheit als „sehr bewegt bezeichnen. Nachdem ich die Hausaufgaben erledigt hatte, war ich draußen. Ich war, wenn ich ehrlich bin, froh, das Haus meiner Eltern verlassen zu können. Das war dann später, als ich elf oder zwölf Jahre alt war, etwas leichter – und vor allem öfter – der Fall. Denn da hatte ich schon „meinen
Sport, Badminton, für mich entdeckt. Ein Klassenkamerad aus der Hauptschule brachte mich auf diesen Sport. Er war ein sehr guter Freund, und ich hatte mir, ehrlich gesagt, schon mehr erhofft als nur dies, in meiner jugendlichen Schwärmphase. Er spielte bereits Badminton und fragte mich eines Tages, ob ich nicht mitgehen wolle. Dann bin ich halt mitgegangen. Meine Mutter sofort: „Dann nimmst du Henning auch mit. Habe ich auch gemacht, wie so oft. Ich hatte immer Henning dabei, egal wohin ich ging. Aber er machte sich nichts aus Badminton. Mich hingegen hat der Sport sofort fasziniert. Dieses einfache Spiel auf dem Badminton-Court ist ein schönes Beispiel, um sich richtig auszupowern. Man ist total auf das Spiel konzentriert, Ablenkung wäre der Verlust zumindest des Punktes, wenn nicht gar des ganzen Spiels. Es ist aber auch ein Mannschaftssport. Ich habe Doppel und auch Mixed gespielt. Wenn man sich nicht mit seinem Teampartner versteht und gleichsam mit ihm „eins wird
, dann wird das nichts. Als Einzelspielerin war ich extrem ehrgeizig. „Ich muss dieses Spiel gewinnen", war meine Maxime. Für mich gab es nichts anderes. Natürlich habe ich auch Niederlagen hinnehmen müssen, klar. Dann war ich frustriert. Niederlagen haben mich geprägt. Ich verkrafte sie auch heute noch nicht gut. Obwohl ich weiß, dass man nicht bei vielen Gelegenheiten so viel über sich selbst lernen kann wie bei Niederlagen. Man reift, man wächst daran. Nicht nur im Sport, auch im Beruf, überall. Man muss Niederlagen erfahren.
Ich trainierte zweimal die Woche im Verein. An den Wochenenden spielte ich Turniere und Ligaspiele. Wir trainierten einmal in Hilgen, das zweite Mal in Burscheid. Und ich musste selber schauen, wie ich aus Hilgen dorthin gekommen bin. Oft, wenn das Wetter es zuließ, bin ich mit dem Fahrrad gefahren, ansonsten mit dem Bus. Meine Eltern haben mich nie zum Training gefahren und mich auch nie von dort abgeholt. Sie hatten keinen Anteil an meinem Sport. Sie waren daran nicht interessiert. Auch wenn ich neues Material, wie Griffbänder und andere Verschleißteile, brauchte, bin ich mit meinem Trainer zum Ausrüster nach Köln-Deutz gefahren, nie mit meinen Eltern. Obwohl es für meinen Vater ein Kinderspiel gewesen wäre, er kannte sich ja in Köln aus wie in seiner eigenen Westentasche. Aber: Nein. Niemals. Meine Oma war die Einzige, die Interesse hatte und die mich nach den Spielen fragte: „Wie ist es gelaufen? Gewonnen oder verloren? Und wenn ich verloren hatte, hat sie mich getröstet und mich aufgerichtet. „Das nächste Mal gewinnst du wieder.
Ich gebe zu, dass ich damals perfekt sein wollte. Und wenn ich nicht perfekt war, beim Sport Fehler machte und verlor, dann fühlte ich mich unperfekt. Das ist für eine heranwachsende Jugendliche kein schönes Gefühl, aber möglicherweise erklärlich. Das „Perfekt-sein-Wollen kam gewissermaßen aus der Familie. Meine Cousine war eine studierte Mathematikerin, mein Cousin ein studierter Chemiker. Die Cousine hat einen Professor, der am Max-Planck-Institut in Bonn tätig war, zunächst kennengelernt und später geheiratet, ist mit ihm nach Griechenland ausgewandert und hat Kinder von ihm bekommen. Alle meine Cousins hatten Abitur gemacht und studiert. Und wir, mein Bruder und ich, gingen „nur
auf die Hauptschule. Ich habe eine Ausbildung als Erzieherin abgeschlossen, mein Bruder wurde, wie es damals hieß, Feingeräteelektroniker, ein Berufszweig, für dessen Abschluss er meinem Vater dankbar sein konnte. Und das Gefühl, das meine Eltern mir vermittelten, war: „Unsere Kinder sind ja nichts. Sie haben es nie ausgesprochen, vermittelten jedoch diese Aussage mit ihrem Tun oder eben durch ihr Lassen. Das ging bis 1988 (wenn es überhaupt jemals endete), als ich meinen ersten Mann kennenlernte und sie sagten: „Der ist ja nur Maler und Lackierer.
Das passte nicht zu ihren Ansprüchen. Meine Eltern wollten eher, dass ich auch einen Doktor heiraten sollte, mindestens. Sie hätten sehr gerne gesagt: „Ja, die Sigrun hat Erzieherin gelernt, aber schau, jetzt hat sie einen Doktor (oder besser noch einen Professor) geheiratet. Genau genommen war es meine Mutter (Vater mischte sich auch da nicht ein), der es sehr wichtig gewesen wäre, in der Nachbarschaft oder beim Friseur darauf verweisen zu können, dass aus ihren Kindern sehr wohl „etwas Anständiges
geworden war. Das wäre für Mutter das Himmelreich gewesen: Zu behaupten, dass ihre Tochter, die Sigrun, einen Professor geheiratet hat. Das, was andere Menschen über die Familie dachten, war ihr immer immens wichtig.
Kapitel 2
Ein weiterer Blick auf meine Kindheit
So. Der Anfang ist gemacht. Wir haben einige handelnde Personen kennengelernt und einen kleinen Blick auf meine Kindheit und meine Jugend geworfen. Das Verhältnis zwischen meiner Mutter und mir wird uns noch einige Zeit beschäftigen, da bin ich sicher. Andere Personen, die wichtig für mein Leben waren oder sind, werde ich noch vorstellen. Die Reise hat begonnen. Jede lange Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Und jedes Buch mit dem ersten Kapitel.
Ich habe am Anfang gesagt, dass ich meine Kindheit als „bewegt" bezeichnen würde. Und das stimmt. Es gab – wie geschildert – nicht so schöne Abschnitte, es gab aber auch bezaubernde, wohlige und kindgerechte Zeiten, in denen ich mich unsagbar wohlfühlte. Wenn ich mit meinen Großeltern in der Natur war, wenn wir durch Wiesen und Wälder stromerten, auf der Suche nach Schwammerln oder kleine Schiffchen aus Borke oder Rinde bastelten und sie im nahen Bach treiben ließen, wenn die Familie im Dänemark-Urlaub weilte, die über alles geliebte Puddingsuppe als Mittagessen viel zu heiß war und mein Bruder und ich zum Zweck der Abkühlung mit dem Teller in der Hand diverse Runden um das Haus drehten, dann wünschte ich mir nichts,
