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Der Marsch ins Chaos
Der Marsch ins Chaos
Der Marsch ins Chaos
eBook328 Seiten

Der Marsch ins Chaos

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Über dieses E-Book

Eines der erschütterndsten Anti-Kriegsbücher. Verstörend, aufrüttelnd.
Ein Bericht, der einem den Atem nimmt...

Dorniger lauschte angestrengt, mit geschlossenen Augen, alle Aufmerksamkeit sammelnd in den Ohren. Zunächst hörte er nur das Schnarchen der Soldaten, ihr Gestöhne, ihre Bewegungen, die Schritte der Wachen -- aber über diesen Geräuschen erhob sich, diese Laute durchtönte leises, dunkles gleichmäßiges Rollen. Ein nahendes Gewitter? Aber was hatte ein Gewitter mit ihrem Marschziel zu tun? Und so ohne Unterlaß, so gleichartig, so gleich im Tone rollte kein Donner. Das war etwas anderes. Das war . . . Dorniger begann zu verstehen, und als sein Kamerad ihn fragte: "Na, hast du's gehört?" -- da antwortete er nur mit einem gepreßten "Ja!" und vergrub sich in eine quälerische Grübelei. Morgen schon an die Front? So war man also dicht vor dem Ziele? Diesem fernen, dumpfen Rollen wird man entgegen marschieren, und je näher man kommt, um so stärker, gewaltiger, drohender wird es werden, und wenn man ganz nahe ist, wenn man an dem Ursprung dieses Donners ist, o mein Gott, dann marschiert man in ihn hinein und wird von ihm zermalmt! Als großes blutiges Maul sah sein überhitztes Gehirn die Front, als einen gigantischen Rachen, in den die armen Soldaten hineinmarschierten.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum11. Apr. 2019
ISBN9783748531449
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    Buchvorschau

    Der Marsch ins Chaos - Josef Hofbauer

    DER MARSCH

    INS CHAOS

    von

    Josef Hofbauer

    ______

    Erstmals erschienen im:

    Dr. Hans Epstein- und Phaidon Verlag,

    Wien, 1930

    _______

    Vollständig überarbeitete Ausgabe.

    Ungekürzte Fassung.

    © 2018 Klarwelt-Verlag

    ISBN: 978-3-96559-171-4

    © Alle Rechte vorbehalten.

    www.klarweltverlag.de

    Inhaltsverzeichnis

    Titel

    I.

    II.

    III.

    IV.

    V.

    VI.

    VII.

    VIII.

    IX.

    X.

    XI.

    XII.

    XIII.

    XIV.

    XV.

    XVI.

    XVII.

    XVIII.

    XIX.

    XX.

    Epilog. Zehn Jahre später

    I.

    un stand man, nach Frühstück und Brotfassung, seit Stunden schon vor den Baracken und wartete auf den Marschbefehl. Vor den Drahtzäunen und auf der Straße, vor dem Eingang zum Barackenlager, drängten sich hunderte, tausende Angehörige der Soldaten. Polizei war aufmarschiert und hielt in Gemeinschaft mit der verstärkten Lagerwache die unruhige Menge fern.

    Transferierung! Ganz unvermutet, am späten Abend erst, war der Befehl gekommen. Die Landstürmer, die in Wien daheim waren, konnten noch einmal nachhause zu jähem, überraschendem, durch die Plötzlichkeit das Quälende dieser letzten Stunden peinvoll steigerndem Abschied. Die Deutschböhmen und die Mährer und die Tschechen, die keine Verwandten in Wien hatten, waren nach schmerzlichem Herumwälzen auf den schmutzigen, zerlegenen Strohsäcken in traumvollen Schlaf gesunken, knapp ehe der Weckruf durchs Lager gellte. Sie hatten in stummer Zwiesprach noch einmal Abschied genommen von Weib und Kindern, die sie vor vier Wochen verlassen, um ¬¬— Taugliche der dritten Nachmusterung — nach dem fernen Wien zu fahren. Denn Wiener waren auch sie, wenn sie auch der Stadt, aus der in längst vergessenen Zeiten ihre Ahnen ausgewandert, nicht innerlich verbunden waren. Die Väter oder sie selber hatten versäumt, das Heimatsrecht zu erwerben an den Orten, in die sie auf der Suche nach Erwerb geraten waren . . .

    Die ersten Abteilungen sind auf der Straße. Ein wirrer Schrei begrüßt sie. Tausend Hände heben sich, winken, recken sich grüßend den Männern in den schleißigen, zerflickten Uniformen entgegen, den Männern, die kleine abgewetzte Kofferchen tragen oder auch nur schnurumwickelte Pakete. Sturzfluten von Zurufen überschütten sie. Kein Wort wird verständlich. Der Einzelruf wird verschlungen vom wildaufbrausenden Meer der Schreie der Liebe, des Schmerzes, des Bangens, der Freude über das letzte Wiedersehen, der Qual des letzten Abschiedes. Noch ist die Masse geschlossen, noch gilt ihr Ruf der Gesamtheit der Marschierenden — aber nun, da sich diese in langen Kolonnen auf der Straße vorwärts zu schieben beginnen, löst sich die Menge auf. Männer, Weiber, Kinder laufen neben den Marschierenden, laufen vor und zurück, Namen rufend, nach einem lieben Angesicht spähend.

    Landsturmrekrut Dorniger stöhnt unter der Last seines Koffers. Ihm hilft niemand beim Tragen. Und er hatte nie so schwere Last geschleppt. Wie wäre ein Buchhalter dazu gekommen? Gab es etwas zu tragen, so nahm man sich einen Dienstmann. Er wechselt den Koffer von einer Schulter auf die andere, trägt ihn dann wieder ein Weilchen mit der rechten, mit der linken Hand — findet keine Art des Tragens, die weniger peinvoll ist. Warum man nicht mit der Straßenbahn fahren durfte? Welch ein Unsinn, zu so weitem, beschwerdevollem Marsch zu zwingen, zu einem Marsch mit den Koffern! So hatte er sich den Anfang nicht vorgestellt, so nicht!

    Gegen das Marschieren hatte er nichts. Ein deutscher Turner ist das Marschieren gewöhnt. Aber mit einem so unbequemen Gepäck! Ganz schöne Strecken Marsches hatte es manchmal gegeben, wenn der Verein ausgerückt war. Aber da war man leichtbeschwingt marschiert, unbelastet, na ja, und keinem so ungewissen Ziel entgegen. Kein Mensch hatte ja eine Ahnung, wohin man getrieben wurde. Man stellt sich das Soldatenleben doch ein wenig anders vor, solang man es nicht kennt. War ich wirklich einmal so blöd, dass ich mich schämte, nicht dabei zu sein? Gar nicht so lang ist’s her. Wie die großen Siegesmeldungen aus Ostpreußen gekommen waren und wir einen Umzug gemacht haben, mit der Turnvereinsfahne voran, da war ich noch denen neidig, die beim großen Russentreiben mit dabei sein konnten. Na ja, ich hab mich ja dann abgefunden, und dann, wie die ersten Verwundeten heimgekommen, da war ich schon froh — aber zu sagen hab ich mich’s nicht getraut. Wär eine schöne Schande gewesen! Ein deutscher Turner, der den Krieg lieber nicht mitmacht! Und jetzt muss ich doch . . . jetzt marschier ich doch mit . . .

    Schwerer wurde die Last. Tiefe rote Furchen schon hatte der eiserne Griff des Soldatenkoffers in seine Hände geritzt. Wund schon waren die Schultern. Dorniger wankte, sah sich vergebens nach Hilfe um — ach, es war ja jeder mit sich beschäftigt, mit seiner Last, mit seiner Qual, mit seinem Leid!

    Aber nicht er allein war matt geworden. Waren ja alle „Scheißer, die Landstürmer. Verdorben durch Berufs- und Familienleben — ja, und wenn sie etwas wert wären, dann hätte man sie doch nicht erst bei der dritten Nachmusterung genommen. Verächtlich schauten die Offiziere nach dem „Sauhaufen. Nichts zu machen mit diesen Leuten, man musste ihnen eine Rast gönnen. Auf ihre Koffer ließen sich die müden Soldaten nieder, ihre Frauen, ihre Kinder kauerten neben ihnen.

    Keuchend, die schmerzenden Hände auf den Oberschenkeln, hockte Dorniger auf seiner Last.

    „Sö! — ja. Sö mit die Augengläser!"

    Dorniger sprang auf, pflanzte sich salutierend vor dem Gefreiten auf, der nachdenklich in der Nase bohrte.

    „Sö san g’wiss a intelligenter Mensch! Springen S’ durt umi zum Greisler und holen S’ mir a Flascherl Bier! Abtreten!"

    Dorniger, ein Dutzend Flüche verschluckend, sprang über die Straße, kaufte eine Flasche Bier, wollte sie dann einfach dem Gefreiten geben.

    „A, so g’müatlich mochen wir dos net! Wann S’ vor mir steh’n, da müassen S’ stramm stehn! Und dann melden: Herr Gefreiter, melde gehorsamst, do is dos Bier! . . . So, guat is! So is recht! Hochdeutsch brauchen S’ mit mir net z’ reden, aber a Haltung will i haben, a Haltung! So – abtreten!"

    An die Bezahlung des Bieres dachte der Herr Gefreite nicht und Dorniger wagte ihn nicht daran zu erinnern. Seufzend ließ er sich auf seinem Koffer nieder.

    „Mi brauch me dos nit!"

    „Was brauchen wir nicht?"

    Erstaunt fragte Dorniger den neben ihm kauernden Mann, der an einer erloschenen Pfeife saugte, die zwischen zusammengekniffenen Lippen hing.

    „Das Marschieren. Und iberhaupt das Militär. Und ganze Krieg!"

    „Natürlich brauchen wir den Krieg nicht. Aber jetzt ist er einmal da und da kann man nichts mehr machen. Jetzt muss man seine Pflicht erfüllen!"

    „Stimmte! Kann me jetzt nix machen gegen Krieg. Aber Pflicht? Meine Pflicht ise, an Hobelbank stehen und arbeiten für Frau und Kindel. Und alles andere — mi brauch me dos nit!"

    „Prochaska, du bist eben ein Böhm, du verstehst das nicht so! Ihr Böhm’ denkt halt über den Krieg anders . . ."

    „Wenn’s die Zeitungen schreiben, dass das eine deitsche Krieg is — was gehte dann mich an? Aber du weißt, dass ich kein Behm bin, sondern Wiener, Tscheche, aber Wiener. Da bist doch eher du ein Behm, weil du wohnst in Behmen . . . „Weil ich fünf Jahre in Komotau als Beamter leb’, bin ich noch lang kein Böhm. Du weißt doch, dass man unter einem Böhm nicht einen Menschen aus Böhmen versteht, sondern einen Tschechen! Das wär noch schöner, wenn wir uns mit euch verwechseln lassen sollten! Wir Deutschen wissen wenigstens noch, was Treue ist . . .! „Wenn ein Deutschböhm und ein Böhm zusammenkommen, müssen sie streiten! Zornig mengte sich ein anderer ins Gespräch. „Und dabei bist du doch nur ein gelernter Deutschböhm, Dorniger – bist doch erst ein paar Jahre fort von Wien! Und was hast du denn dem Prochaska oder den anderen Tschechen vorzuwerfen? Bist du vielleicht voller Begeisterung eingerückt? Wer hat denn noch vor ein paar Tagen bei der Präsentierung gehofft, dass er loskommt, weil er im vorigen Jahr Gelenksrheumatismus gehabt hat? Der Dorniger! Aber mein Lieber, fürs Gehabte gibt der Jud nichts — du kennst doch noch den alten Wiener Spruch? — und für eine gehabte Krankheit gibt der Regimentsarzt nichts. Nicht einmal für eine wirkliche Krankheit! Das gibt’s nicht, dass sich einer drückt und im Bett stirbt! jetzt gilt nur der Heldentod!

    „Antreten!"

    *

    Nicht genügend ausgeruht, durch das Gespräch mit den Kameraden auch keineswegs aufgemuntert, keucht Dorniger unter dem drückenden Koffer dahin. Keucht und stöhnt, glaubt zusammenbrechen zu müssen und hält doch aus, marschiert doch weiter, stürzt doch nicht zusammen, hält sich doch aufrecht, kommt doch, mit tausend anderen, die keuchen und stöhnen und fluchen, zum Bahnhof.

    Ein großes hölzernes Gittertor, bewacht von Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten. Auch Polizei ist aufmarschiert. Nun sollen die Angehörigen sich losreißen von ihren Freunden, sollen sie losgerissen werden von ihnen. Aber vergebens stürmen die Polizisten gegen die schreienden und kreischenden Weiber, wider die heulenden Kinder. Die Männer lassen nicht von ihren Frauen, schließen die Arme um sie und marschieren so durchs Tor. Ein starker Bursche hebt lachend sein altes Mutterl hoch und trägt es triumphierend mit sich. Und die Kinder — die Kinder finden immer wieder Lücken, durch die sie in den Rangierbahnhof eindringen können. Achselzuckend geben schließlich die Polizisten ihre Bemühungen auf und nun wälzt sich, triumphierend aufschreiend, der Wirbelnde Strom der bunten Menge, in der neben den grauen und blauen Soldatenblusen die Farben der Frauenkleider brennend leuchten, durch das Tor.

    Lange Lastzüge. Viehwagen, deren Schiebetüren weit offen stehen. Die Rekruten schaudern: Da sollen wir hinein! In ihre Ohren bohrt sich das Gejammer der Weiber: Ich lass dich nicht fort! Ich lass dich nicht!

    Kommandorufe dröhnen. Aber die Menge entwirrt sich nicht. Offiziere reden begütigend und scheltend auf die Soldaten und ihre Begleiter ein. Vergebens. Aber nun kommt eine Abteilung Soldaten in geschlossener Formation, im Gleichschritt. Bosniaken! Wutgeschrei der Weiber und Mädchen stürzt ihnen entgegen. Bosniaken! Mit denen kann man nicht reden — die verstehen nicht, was man ihnen zuruft. Sie marschieren wie Maschinen gegen die Menge. Nun müssen die Frauen ihre Männer loslassen. Nun müssen die Väter ihre Kinder auf den Boden stellen, sie den Müttern zuführen. Nun muss man nach letztem Kuss sich trennen.

    Vor den Wagen sammeln sich die Abteilungen. Die Frauen, die Kinder, die alten Männer, die lauter zu schreien, wilder zu jammern beginnen, werden langsam zurückgedrängt, in der Richtung zum Tore. Und während die Rekruten in die Wagen klettern, die vorsorglich schon in Friedenstagen mit der Aufschrift versehen worden sind: vierzig Mann oder acht Pferde — schieben die bosnischen Soldaten die tumultuierende Menge zum Tor hinaus, das nun eilig geschlossen wird.

    Kommandorııfe, das Pfeifen der Lokomotiven und das verzweifelte Schluchzen und Stöhnen und das wütende Heulen der vor dem Bahnhof sich stauenden Angehörigen stürzen ineinander, steigen gemeinsam als chaotisches, erschütterndes Getöse zum Himmel auf.

    II.

    Durch schmale, winkelige Gässchen, in denen alte, behäbige Bürgerhäuser träumen, noch manches alte Handwerkszeichen und kunstvolle Schild den Vorübergehenden freundlich grüßt, war Dorniger geschlendert. In diesen verlorenen Gassen gab es weniger Offiziere, da musste man nicht so oft salutieren. Und sie waren so anheimelnd, so vertraut, diese Gasseln, in denen der Schritt Widerhall gab, weil sie so stillegefüllt waren — Wege einer den Sonntagnachmittag verträumenden Stadt. — Nun durchwanderte er den Stadtpark.

    Hier war es nicht mehr so still wie in der alten Stadt. Kinder lachten und schrien — sie tummelten sich auf den breiten Wegen, freuten sich der vielen schwarzbraunen Eichhörnchen, die von Baum zu Baum huschten, wie Schatten über die Wege glitten, verfolgt von glänzenden Kinderaugen. Alte Damen und Herren fütterten die Vögel, die sie schwirrend umdrängten. Auf den Banken saßen Soldaten mit ihren Mädchen. Würdige Weißbärte erörterten, wie Dorniger aufgeschnappten Gesprächsbrocken entnahm, die Kriegslage.

    Rascher schritt Dorniger aus, den Weg zum Schlossberg hinan. Oben wimmelte es von Soldaten. Den ersten freien Sonntagnachmittag nützten hunderte Wiener zu einem Besuch des Schlossberges. Dort hatte man nicht nur einen bezaubernden Rundblick auf Graz — dort gab es auch ein Kaffeehaus, in dem man köstlichen Kaffee bekam und Gugelhupf —, Gottseidank, Mehlspeisen erhielt man noch ohne Brotkarten!

    Überfüllt war der Kaffeehausgarten. An allen Tischen drängten sich lachende, schwatzende Soldaten. Willkommensrufe begrüßten Dorniger. Der Kirschenbauer, Prochaska, Molitor, Doleschal, der Strasser, der Heinzelmeier — alle waren sie da.

    Dorniger schlürfte den Kaffee. Das war doch etwas anderes als die schwarze Brühe, mit der zweimal täglich in den Baracken die Bäuche gefüllt wurden! Er erzählte den fragenden Kameraden bereitwillig von seiner Wanderung durch die Grazer Gassen. Darauf berichtete Kirschenbauer:

    „Ich war drüben am Lend — das ist der Stadtteil grad uns gegenüber — und dort bin ich im Volksgarten gewesen. Dort hab ich was Symbolisches entdeckt. Im Volksgarten hat der Dichter Morre ein Denkmal. Hast von dem schon was g’hört?"

    „Nein."

    „Ich weiß von ihm auch nicht mehr, als dass er ein Volksstück geschrieben hat, das früher oft gespielt worden ist. „‘s Nuller! heißt’s. Da kommt ein alter Einleger vor, verstehst? Und der singt ein Lied, das könnt jeder von uns singen, so gut passt es auf uns — wenigstens der Refrain: A Nullerl, a Nullerl, a Nullerl bin i!

    „Verfluchter Kerl! Du musst einem jede Stimmung versauen!"

    „Aber recht hat er, meinte Prochaska, „mi sein me wirkli alle arme Nullerl, nix wie arme Nullerl!

    „Aber muss man denn immer davon reden! Wird’s denn dadurch anders?"

    „Na, so reden wir halt von was anderem, meinte begütigend Kirschenbauer, der Setzer. „Hast d’ schon deine Latrinenscheu überwunden?

    Wieder wurde Dorniger verlegen. Da hatte er geglaubt, seine Schwäche sei den Kameraden verborgen geblieben — und nun lachten und spotteten sie darüber! Aber tapfer verteidigte er sich:

    „Das ist nicht so zu verwundern! Wenn man daheim sein Wasserklosett hat . . . ich hab’ einen schrecklichen Ekel vor der Latrine gehabt. Ich hab’ jedes Mal gemeint, ich muss mich erbrechen. Das hab’ ich nicht verstehen können, dass das möglich ist – zu Dutzenden auf der Stange zu sitzen, dabei gemütlich miteinander zu plaudern, gar zu rauchen, Witze zu machen, zu schweinigeln, zu lachen, wenn einer recht geräuschvoll ist, als wär das ein wunderbarer Scherz — dann fragt wieder einer den andern, ob er Papier hat — nein, das war mir zu grauslich! Da hab’ ich mich halt bezwungen, hab’ immer bis mittags gewartet, dann bin ich in ein Kaffeehaus gegangen. Aber jetzt — von den Andritzer Baracken bis in die Stadt ist’s zu weit, man kann gar nicht an jedem Abend hinein — da hab’ ich mich halt auch dran gewöhnen müssen."

    „So wie man sich halt an alles gewöhnt. Daran, dass man sich nicht baden kann, dass man die Wäsche nicht mehr so oft wechseln kann wie früher — dass man auf einem dreckigen Strohsack schläft mit hundert Fremden zusammengesperrt — dass man sich von einem blöden Zugsführer schikanieren lassen, jeden Trottel grüßen muss, wenn er ein paar Sterndeln aufgenäht hat — ach ja, man gewöhnt sich schon an den Krieg und ans Soldatsein!"

    „Und dabei wissen wir noch gar nichts vom Krieg!"

    Leise und stockend sagte es Dorniger. „An was werden wir uns noch gewöhnen müssen?"

    „An was Besseres gewiss nicht!"

    Nachdenklich sogen die Männer an ihren Pfeifen und an den billigen Sonntagszigarren. Das Gespräch zerbröckelte. Jeder hing seinen Gedanken nach, die der gespenstischen Zukunft entgegeneilten.

    „Geh’n ma, geh’n ma! ‘s ist Zeit! Mir haben no an weiten Weg bis Andritz!"

    Die Soldaten zahlten und erhoben sich. Dorniger und Kirschenbauer traten nochmals an die Brüstung der Mauer, die das Schlossbergplateau umsäumt, ließen nochmals die Blicke hinweggleiten über die liebe, schöne Stadt. Kupferne Kirchenkuppeln und Türme leuchteten, von der scheidenden Sonne umschmeichelt, triumphierend auf. Rotgoldenes Licht lag auf der Mur. Tausend kleine Fenster glühten.

    „Ich glaub’, nirgends kann der Herbst so schön sein wie in der Steiermark!"

    Kirschenbauer sagte die Worte leise, andächtig vor sich hin, und sie klangen wie Worte eines Gebetes. Seine Hände ruhten auf dem Mauerrand, sein Oberkörper war weit darüber vorgebeugt, seine Blicke streiften hinaus in das farbenprunkende Land.

    Und Dorniger sagte:

    „Wie schön müsst sich’s in Graz leben lassen, wenn kein Krieg wär!"

    „Wenn kein Krieg wär!"

    *

    „Hob i kan Regenschirm mit,

    Dann scheint ganz g’wiss ka Sunn!

    Setz i in d’ Lotterie,

    Da kumman d’ Numm’ra g’fehlt —

    I hob holt gor ka Glück

    Auf dera Welt!"

    Der Chorgesang der Soldaten widerhallte von den Wänden der „Schwechater Bierhalle". Wer nicht grad sang, der soff, und war eine Strophe beendet, tranken auch die Sänger. Wenn das Trinken nichts kostete! Freundliche Bürger saßen in der großen Gaststube, stolz darauf, den tapferen Soldaten zahlen zu können.

    „Trinkt’s! Trinkt’s! Wer waß, wann ‘s wieder so saufen könnt’s! Vur an so an Weg muaß ma si stärk’n! — Aber singa müaßt’s a. Dos is soviel scheen, wann die Soldaten singan!"

    Und die Soldaten sangen und tranken, tranken und sangen — und fühlten ihre Bedeutung wachsen, weideten sich an der tragischen Größe ihres Schicksals — waren stolz darauf, nicht solche dicke Wasteln zu sein, wie die weinseligen und zahlungsfreudigen Bürgersleute, die keine andere Kriegshilfe mehr leisten konnten als die, abmarschbereite Frontsoldaten zu bewirten. Und so stiegen die Wogen der Stimmung, schmolzen die Herzen vor Rührung und Stolz, je mehr die Bäuche sich füllten mit Wein und Bier.

    Dorniger, in dessen Kopf es rumorte und wirbelte, wollte sich immer wieder von Kirschenbauer losreißen, der ihn mühsam zurückhielt.

    „Lass mich! Ich muss dem Kerl meine Meinung sagen! Wenn er schon nicht mit hinausgeht, dann soll er wenigstens nicht hierherkonımen. Das ist eine Provokation! Wem verdankt’s denn der Müller, dass er ein Kanzleifuchs geworden ist? Wem denn? Der Frau vom Dienstführenden! Man weiß nicht, hat er sie aufgegabelt oder hat sie sich ihn aufgezwickt . . . und weil der Herr Dienstführende unter ihrem Kommando steht, hat er den Müller in die Kanzlei abgeschoben . . . Bei ihr liegt er im Bett und ihm zahlt er . . . und deswegen braucht er nicht an die Front zu gehen! Ist das eine Gerechtigkeit?"

    „Eine Gerechtigkeit ist’s nicht . . . aber die darfst d’ doch auch nicht beim Militär suchen . . . Aber machen kannst nichts. Geh’, sei g’scheit! Verdirb dir nicht den letzten Abend! Sing lieber mit! Hast doch einen so schönen Bariton!"

    „Da hast d’ recht! Ich hab’ auch immer bei uns mitgesungen bei der Liedertafel . . . und weißt, wir haben eine Vereinigung gegründet gehabt, bei uns in Komotau, die hat in den Spitälern gesungen, damit die armen Soldaten eine Freud haben. Ja, und bei Soldatenbegräbnissen haben wir auch gesungen. Freilich, später nicht mehr — da sind zu viele Begräbnisse gewesen . . . Und jetzt weiß ich nicht . . . weiß ich nicht . . . wer einmal bei meinem Begräbnis singen wird . . . "

    Dorniger kam jetzt in eine weinerliche Stimmung, in der er am liebsten aufgeheult hätte.

    „Trink einen Schwarzen, dann wird dir gleich besser werden!" Und Kirschenbauer rief nach der Kellnerin.

    Toller, übermütiger, wilder wurden die Soldaten. Zotiger wurden ihre Gesänge, derber ihre Scherze, herausfordernder ihre Gebärden. Mit Faustschlägen, die wuchtig auf die Tische niedersausten, und mit taktmäßigen Schlägen der Bajonette begleiteten sie ihre Lieder. Ein paar hatten sich taumelnd erhoben und versuchten miteinander zu tanzen. Die Kellnerin flüchtete. Kopfschüttelnd stand der Wirt in der Türe und sah dem wüsten, wirbligen Treiben, dem hemmungslosen Toben zu. Die Bürger bekamen Angst, zahlten und verschwanden. Ein Rausch war etwas ganz Schönes — aber die Soldaten trieben es doch gar zu bunt. Da war es besser, nun, da man doch schon genug hatte, heimzugehen und ins Bett zu kriechen.

    Aber der turbulente Ausbruch weinerzeugter und angstgeborener Lust war nur Höhepunkt eines Sturmes, dem rasches Abflauen folgte. Nach dem Aufbruch der Bürger standen auch einige Soldaten auf, die nicht so besoffen waren wie die anderen, und mahnten ans Heimgehen. Heimgehen! Das war ein Heimgehen, um fortzugehen! Fast alle begriffen. Die paar Übervollen wurden von den anderen mit aufgerissen und hinausgezerrt ins Freie. Wer nicht allein gehen konnte, wurde von den Kameraden untergefasst und mitgeschleift.

    Dorniger, der nicht mehr fest auf den Beinen war, klammerte sich an den fast nüchternen Kirschenbauer. Und er schwatzte, glücklich lallend, auf den Kameraden ein:

    „So ein schöner Rausch! So ein schöner Rausch! Ich hab doch manche gute Turnerkneipe mitgemacht — aber so ein schöner Rausch — so ein schöner Rausch . . .!"

    Kirschenbauer nahm die Kappe ab und ließ seine Stirne von der kühlen Nachtluft erfrischen. Wie gerne hätte er sich jetzt der Stille hingegeben! Aber wenn schon Dorniger einmal aufhörte, seinen Rausch zu preisen, dann hörte man einen andern singen, immer dieselben Worte, immer die gleiche Melodie: „Do geh’n ma holt zum Maschkeraball, zum Maschkeraball!" So kam Kirschenbauer zu keinem klaren Denken, zerbrachen alle Versuche zu geordnetem Überlegen an dem trunkenen Lärm der Kameraden, und er war froh, als der Trupp endlich, nach stundenlangem Herumtorkeln, bei den Baracken ankam.

    Lachend empfing sie die Lagerwache:

    „Ui jö! Ös habt’s schwer g’laden! Ös seid’s von der Marschkompagnie? Na, da seid’s froh, dass ‘s euch no amol habt’s ansaufen können! Schaut’s nur, dass ‘s eini kummts! Lang wird’ts eh nimmer schlafen können!"

    Kirschenbauer schleppte seinen Gefährten in die Baracke und warf ihn auf den Strohsack. Jetzt aber wurde dem Dorniger übel. Über schreckliches Kopfweh begann er zu jammern. Die anderen, die schlafen wollten, fluchten und schimpften, so dass Dorniger nichts mehr zu sagen wagte. Wimmernd barg er das Gesicht auf der Decke. Plötzlich stieg ein Würgen in seinem Halse hoch — es war ihm, als drängten alle Eingeweide sich im Körper nach oben – mit letzter Anstrengung riss er den Strohsack beiseite — und in gurgelndem Strome entleerte er seinen Mageninhalt auf die Bretter . . .

    *

    Der übliche Morgenruf des Korporals vom Tage brachte heute die Soldaten nicht wie sonst auf die Beine. Und unterstrich er seine Worte durch Püffe und Stöße, so antwortete nur unwilliges Gebrumm. Packte er einen der Schnarcher und schüttelte ihn, so kräftig, wie er auf dem Kirchweihfest einen Nebenbuhler gebeutelt, so stöhnte der nur ein wenig auf und wälzte sich auf die andere Seite, ohne seinen Schlaf zu unterbrechen. Da wusste sich der Arme keinen anderen Rat, als den Feldwebel Kleinmichel gehorsamst davon zu verständigen, dass die Leute nicht wachzukriegen, dass sie dalägen wie Baumklötze.

    Kleinmichel flog in die Baracke, Schaum vor dem Munde, den Kopf gerötet, zitternd vor Wut. In einer Stunde sollte die Mannschaft gestellt sein! Und noch waren die Schweine nicht auf! Das könnt’ ihnen so passen, die ganze Militärzeit und den ganzen Krieg auf den Strohsäcken zu verfaulenzen! Aber schon wurde der Einfall verjagt von boshafter Freude: Wartet nur, ihr Saukerle! Heut’ habt ihr das letzte Mal auf einem Strohsack geschlafen! Denen gönn’ ich’s, den Tachinierern, die einen noch am letzten Tag so ärgern! Aber mit jeder „Marsch hat man den gleichen Ärger. Gottseidank, ich hab schon manche Marschkompagnie zusammengestellt und abmarschieren gesehen — ich hab das Meine geleistet — aber die Saubeuteln werden immer disziplinloser, immer widerborstiger. So was hätt’s während der aktiven Dienstzeit nicht gegeben – da hätt’ man die Leut’ einfach reihenweise angebunden! — Aber in einer Stund soll doch die „Marsch gestellt sein! Herrgottnocheinmal . . .

    Seine Entrüstung hatte den Feldwebel nicht gehindert, gleich beim Eintritt in die Baracke nach einem Verständigungsmittel zu schauen. Am liebsten hätte er die verschlafene Bande mit einem Bajonett wachgekitzelt. Das war nun freilich nicht möglich — bei aller Strenge vergaß er nie, dass gewisse Methoden nicht anwendbar waren. Aber ein Gewehr riss er an sich und boxte mit dem Kolben die wie im Starrkrampf liegenden Schläfer, und jeden Stoß begleitete ein wütend ausgespucktes Schimpfwort — und da mussten die noch immer Rauschbefangenen doch erwachen — und wenn erst ihr Blick auf den tobenden Feldwebel gefallen, schüttelten sie rasch den Schlaf ab, wankten sie hinaus zu den Wasserhähnen und ließen kalte Ströme über die schmerzenden Schädel laufen . . .

    Um sieben Uhr war die Marschkompagnie gestellt. Neben ihr waren auf dem weiten Platze, den die Baracken umsäumten, noch andere Abteilungen aufmarschiert. Wie viele — wer, der im Glied stand, hätte es feststellen können? Man sah nur, soweit man die Blicke wandern ließ, graue Mauern, und hob man sie, dann glitten sie über einen Wald blaugrauer Mützen hinweg. Tausende mochten hier versammelt sein, zum Abmarsch bereit. Bereit gemacht zum Abmarsch. Denn wär es auf die innere Bereitschaft angekommen, dann wäre der Platz wohl leer geblieben, läge jeder Krieger noch schnarchend auf seinem Strohsack und würde morgen und die folgenden Tage

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