Der Mädchenhirt: Ein Roman
Von Egon Erwin Kisch
()
Über dieses E-Book
Während seiner Zeit als Lokalreporter in Prag kam Kisch die Inspiration für seinen Roman aus dem Zuhälter- und Prostituiertenmilieu Prags. Es sollte sein einziger Roman bleiben. Das Buch sollte übrigens schon recht früh als Stummfilm auf die Leinwand kommen.
Kisch, orientiert am "vertikalen Journalismus" eines Kurt Tucholskys, hatte keine Berührungsängste gegenüber den sozialen Außenseitern der damaligen Zeit. Er schilderte das Leben der Nutten, Zuhälter und kleinen Ganoven und des hoffnungslosen Proletariats auf der Suche nach ihrem Stück vom Glück.
Der junge Jarda Chrapot, ein Bewohner des heruntergekommenen Vergnügungsviertels von Prag, sieht vermeintlich nur eine Zukunft als Zuhälter vor sich. Gemeinsam mit seinen besten Freunden sitzt er in der gemeinsamen Lieblingsabsteige und schmiedet Pläne für eine bessere Zukunft. Sie versuchen, Mädchen an Land zu ziehen, Mädchen, die für sie auf den Strich gehen sollen. Sie sind Mädchenhirten.
Kisch schildert die Erlebnisse der Halbstarken und Kriminellen Prags, als hätte er mit ihnen am Tisch gesessen.
Mit 63 Fußnoten
Null Papier Verlag
Mehr von Egon Erwin Kisch lesen
Hetzjagd durch die Zeit: Reportagen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenEintritt verboten Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMarktplatz der Sensationen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenZwischen Bettlern und Bohème Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDer rasende Reporter Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenEntdeckungen in Mexiko Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenGeschichten aus sieben Ghettos Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDer Fall des Generalstabschefs Redl Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenParadies Amerika Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDer Mädchenhirt – Ein Milieuroman Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDer Mädchenhirt Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWagnisse in aller Welt Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAus Prager Gassen und Nächten Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenSchreib das auf, Kisch!: Das Kriegstagebuch Bewertung: 0 von 5 Sternen0 Bewertungen
Ähnlich wie Der Mädchenhirt
Historienromane für Sie
Das Wunder Winckelmann: Ein Popstar im 18. Jahrhundert Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenQ Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenMein wildes, mutiges Herz Bewertung: 5 von 5 Sternen5/5Metamorphosen - Der goldene Esel Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDas Judenauto Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenVater und Sohn: Die Riesen-Sammlung Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenHistorical Gold Band 251: Im Bann des irischen Kriegers / Eroberung und Verführung / Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDrei Fälle für Dupin: Die Morde in der Rue Morgue - Das Geheimnis um Marie Rogêt - Der gestohlene Brief Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie versteckte Apotheke: Roman | Der New York Times Top Ten Bestseller über Gift, Rache und einen geheimen Frauenbund Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenSchicksale einer Seele von Hedwig Dohm: Geschichte einer jungen Frau aus dem 19. Jahrhundert (Gesellschaftsroman) Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Armee der Schlafwandler Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Judenbuche: Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen Bewertung: 3 von 5 Sternen3/5Walhall: Germanische Götter und Heldensagen Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenGefährliche Liebschaften: Illustrierte Fassung Bewertung: 4 von 5 Sternen4/5Die vierzig Tage des Musa Dagh (Historischer Roman): Eindrucksvolles Epos über die Vernichtung eines Volkes - Der Völkermord an den Armeniern Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenAus dem Leben eines Taugenichts Bewertung: 3 von 5 Sternen3/5Marie Antoinette. Bildnis eines mittleren Charakters: Die ebenso dramatische wie tragische Biographie von Marie Antoinette Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenEin Mann will nach oben Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenErzählungen: Vor dem Gesetz, Das Urteil, Der Landarzt, Ein Hungerkünstler, Blumfeld, Bericht für eine Akademie, Der Jäger Graccus uvm. Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenEine Studie in Scharlachrot: Der erste Roman mit Sherlock Holmes Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDie Räuber Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenNapoleon Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenTill Eulenspiegel Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDas Verlorene Paradies (Illustriert) Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenDer Tod des Vergil Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenWallenstein (Trilogie): Wallenstein - Der Oberbefehlshaber der kaiserlichen Armee (Dramen-Trilogie) Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenRobert Musil - Gesammelte Werke Bewertung: 0 von 5 Sternen0 BewertungenJeder stirbt für sich allein Bewertung: 4 von 5 Sternen4/5
Verwandte Kategorien
Rezensionen für Der Mädchenhirt
0 Bewertungen0 Rezensionen
Buchvorschau
Der Mädchenhirt - Egon Erwin Kisch
https://null-papier.de/newsletter
ERSTES KAPITEL
Ganz unvermutet, ganz plötzlich platzte das Manometer.
Bevor noch das Entsetzen mit seinem lähmenden Arm die Heizer zu berühren vermochte, barst der Kessel mit einem grauenhaften, die ganze Stadt erschreckenden Aufschrei.
Auf dem Verdeck an das Holzhäuschen gelehnt, in dem sich die Schiffskasse befand, hatte Engelbert Naak eben zu Karl Duschnitz etwas Belangloses gesagt, die beiden Worte »Musikkapelle spielen« gesprochen, als die Detonation ertönte.
Im selben Augenblick begann das Grausen die rasendste Orgie. Ein Knabe, die Botanisiertrommel¹ umgehängt, wurde in schnurgerader Linie gegen ein Haus des Kais geschleudert, prallte vom Balkon des ersten Stockwerkes ab und sauste als Leiche auf das Trottoir; um seinen verstümmelten Rumpf schlang sich schräg die grüne Schleife mit der Botanisierbüchse. Auf die Fahrbahn des Kais fiel der Kopf eines jungen Mannes, in dem man später Matthias Blecha erkannte. Marcel Bleyer, der wohl in unmittelbarer Nähe des schadhaften Kessels gestanden war, wurde in hundert Stücke gerissen. Die meisten Leute, darunter Robert von Dirnböck, den man bald unter den zusammengebrochenen Trümmern des Dampfers »Caput regni« als Leiche hervorzog, und Engelbert Naak, den man erst neun Tage nach der Katastrophe bei Melnik aus dem Flusse fischte, waren in das Wasser geschossen worden. Andere verbrühten sich an den glühenden Dämpfen, die grau und rot über die Bretter des Wracks züngelten. Anderen wurden die Rippen und Gliedmaßen gebrochen, als sie inmitten der dichten, atemberaubenden Rauchwolke, inmitten von Besinnungslosigkeit, Wehklagen, Hilferufen, Stöhnen, Wahnsinn und Schreien die schmale Steinstiege zu erklimmen versuchten, die vom Landungsplatz des Moldauniveaus zum Kai hinaufführt. Wieder andere – Fritz Fritz, der acht Tage später unter grässlichen Fieberqualen starb, war unter diesen – wurden von den schwarzen Trümmern des Schiffskamins getroffen, die zunächst wie aus einem Krater in die Höhe des Kaigeländes emporgestoßen worden waren, oben als Papierschnitzel im Wirbelwind kreisten und dann in einem Verderben bringenden Sprühregen auf das Wrack, die Landungsbrücke, den Anlegeplatz und in den Fluss, auf Passagiere und Schiffsbedienstete in den Qualm zurückfielen, Köpfe zerschmetternd, Gesichter von der Stirn zum Kinn aufreißend.
Karl Duschnitz war unter den Geretteten. Auch er war in langem Bogen aus dem Dampfer geschleudert worden, mitten in den Fluss. Neben der Stelle, an der er auftauchte, schwamm ein zerbrochener Tisch des zertrümmerten Schiffes. An diesem hielt er sich mechanisch achtundzwanzig Minuten fest. Während dieser Zeit vergegenwärtigte er sich gar nicht, was geschehen war, die Worte »Musikkapelle spielen«, die Engelbert Naak zuletzt gesprochen hatte und wegen irgendeines Lärms nicht zu einem Satze vollenden konnte, klangen ihm in den Ohren, er wiederholte: »Musikkapelle spielen« und sah irgendeine blaugraue, dichte Wolke auf dem Wasser. Ganz apathisch hielt er sich an der Planke fest, an deren Ecke ein in der Hälfte zerbrochener Tischfuß war. Ihm fiel gar nicht ein, dass er um Hilfe schreien solle. Allerdings hätte ihm dies nichts geholfen, weil er in der Mitte des Stromes schwamm, zu weit vom Ufer, als dass man in dem Gekreisch, Gestöhne, Geächze und Lärm seine Stimme zu hören, ihn inmitten des Tohuwabohus von schwimmenden Leichen, Balken, Bänken, Gliedmaßen, Tüchern, Papieren und Hüten zu sehen vermocht hätte. Aber er bedachte weder die Zweckmäßigkeit noch die Unzweckmäßigkeit eines Versuches, sich bemerkbar zu machen, sondern krampfte seine Hände um die Ränder der Bretter und dachte nach, wie der von Engelbert Naak jäh abgebrochene Satz zu beenden sei.
Duschnitz wurde gerade dadurch gerettet, dass er in der Mitte der Moldau war. Denn so bemerkte ihn der Flößer Johannes Chrapot, der von seinem Häuschen auf der Insel Kampa, also vom linken, dem entgegengesetzten Ufer, zur Unglücksstätte hinruderte, zuerst. Der Flößer packte Karl beim Oberarm und versuchte, ihn in den Kahn zu ziehen. Das misslang, weil Karl Duschnitz mehr tot als lebendig war und keine Anstrengung machte, seinem Retter behilflich zu sein. Er hielt sich noch immer an dem Brett fest. Da zog Chrapot die Ruder ein, beugte sich über den Rand des Kahnes, packte den Halbtoten, der nun endlich die Planke losließ, um die Hüften und hob ihn – fast wäre die Nussschale umgekippt – in das Innere des Schiffchens. Dort sank Karl Duschnitz ohnmächtig hin. Chrapot ruderte nun, so schnell er konnte, zur Insel Kampa zurück.
Hier standen schon Hunderte neugierig Erregter. Gleich nach der ungeheuren Detonation waren die Bewohner der Insel Kampa naturgemäß an das Ufer geeilt, wo sich ihnen ein weiter Ausblick auf das jenseitige Prag und auf den Fluss öffnet. Hier konnten sich jene, die schon ein Erdbeben, wenn nicht gar das Hereinbrechen des Jüngsten Tages angenommen hatten, überzeugen, dass Prag noch auf dem alten Fleck stehe, und die steilen Rauchwolken, die sich in der Gegend der Palackybrücke in den Himmel reckten, belehrten, woher der unheimliche, geheimnisvolle Krach gekommen war. In dieser Richtung jagten die sich aufbäumenden Pferde des Löschtrains, in dieser Richtung fuhren auch drüben am Kai die Rettungswagen, deren Lenker bedeutungsvoll pfiffen. Die Männer stiegen in ihre Fischerkähne und fuhren in der Richtung der Qualmwolke ab, ihre Weiber schrien ihnen, stolz, eindringlich und die Aufmerksamkeit auf sich lenkend, Warnungsrufe nach. Aber niemand wusste, was geschehen sei. Dynamitattentat, Einsturz der Palackybrücke, Brand einer chemischen Fabrik? Bis endlich von der Brüstung der Karlsbrücke ein Kampabewohner das aufklärende Wort hinunterrief, das ein Feuerwehrmann einem Polizisten zugerufen hatte: Dampferexplosion. Nun gewannen die Mutmaßungen greifbarere Formen. Es musste, das war schon nach der Detonation zu schließen, eine grässliche Katastrophe gewesen sein, der Requisition von Feuerwehr und Rettungsambulanz konnte man entnehmen, dass es auch Tote gegeben habe. Außerdem war Pfingstsonntag, der rechte Tag für Ausflügler – man konnte sich die Größe der Katastrophe ausmalen. Der Erörterungen und Erwägungen wurde erst ein Ende, als man den Flößer Chrapot hastig rudernd zur Kampa zurückkommen sah und bald darauf erkannte, dass in seinem Kahn ein Mensch liege.
War schon früher die Gefahr vorhanden gewesen, dass von den Neugierigen, die zu Hunderten auf der durch keinerlei Geländer geschützten Böschung zwischen der Rolandstatue und der Kampa-Realschule schräg standen, sich quetschten, drängten und stießen, jemand in das Wasser gestoßen werde, so steigerte sich die Gefährlichkeit der Situation noch, als man des Flößers Chrapot ansichtig wurde; die Männer und Burschen wollten an den Rand der Böschung hinunter, um dem Herankommenden beim Landen behilflich zu sein, die Frauen und Kinder, die vorne standen, wollten teils aus Neugierde nicht Platz machen, teils konnten sie sich wirklich nicht von der Stelle rühren, da sie eingekeilt waren. Schließlich kam Ordnung in die wogenden und schiebenden Reihen, es gelang einem Flößerburschen, die am Kiel des Chrapotschen Kahnes hängende Kette zu erfassen und das Boot fest an das Land zu ziehen.
Einige waren behilflich, den Bewusstlosen aus dem Boot zu heben, und trugen ihn zu Chrapots Wohnung. Dorthin war inzwischen auch das Weib des Flößers gekommen. Sie sperrte die Türe zu dem Zimmer auf, das links neben der Küche war, und man legte den Fremden auf den Tisch. Die Stube war voll von Neugierigen, und auch auf der Stiege drängten sich solche. Chrapot schob alles zum Hause hinaus und machte sich dann daran, den Bewusstlosen zum Leben zu erwecken. Kaum hatte er die Schläfe Karls eingerieben, als dieser die Augen öffnete und tief aufatmete. »Leg ihn zu Bett und heize ein«, sagte der Flößer und entfernte sich eilig, um von Neuem zur Unglücksstätte hinzufahren. Auf die Widerrede seines Weibes hörte Johann Chrapot nicht.
Frau Chrapot schloss die Tür, zerrte des Fremden Stiefel von den Füßen, seine Kleider und Wäsche vom Leibe. Karl Duschnitz lag apathisch auf dem Tische und ließ alles mit sich geschehen. Auch als die Chrapot mit ihrem ganzen Körper den Tisch ruckweise bis zum Bett schob, regte er sich nicht. Er schaute mit weiten Augen auf die Zimmerdecke und atmete tief. Als ihn aber das Weib anpackte, um ihn ins Bett zu legen, schaute er sich zuckend in der Flößerstube um und fragte: »Was ist?«
»Ihr seid bei der Dampferexplosion ins Wasser gefallen, und mein Mann hat Euch hergebracht. Das ist unsere Wohnung. Ich will Euch jetzt ins Bett legen.«
Karl Duschnitz drückte seinen linken Zeigefinger der Länge nach auf die Schläfe und starrte vor sich hin. Er besann sich lange. Nach und nach schien ihm der Zusammenhang der Ereignisse klar zu werden. Wie die Tafelrunde auf dem Dampfer zur Pfingstfahrt versammelt, das Schiff zur Abfahrt bereit war, wie Engelbert Naak irgendetwas von einer Musikkapelle sprach, plötzlich ein beispiellos furchtbarer Knall ertönte, wie er sich dann auf dem Wasser fand, eine Planke umfasste und dann von einem fremden Mann in dessen Boot gezogen wurde.
»Wo ist Euer Mann?«
»Der ist fort«, sagt Chrapots Frau zerstreut. Sie hat den fremden Herrn, der ein so zartes Gesicht, so schmale, durchscheinende Hände und einen teuren alten Ring auf dem Finger hat, den fremden jungen Herrn, dessen erstaunlich feine Wäsche und Kleider auf dem Stuhle liegen, unverwandt angesehen, während er erwachte. Da er sie nun fragt und sie ihm antwortet, weilt ihr Sinnen anderswo.
Den Blick fühlt Karl Duschnitz. Er erwidert ihn scheu, ängstlich und sieht ein junges Weib. Etwas möchte er sagen, irgendetwas sagen – das Gespräch stockt schon unheimlich lange. Mühselig zwingt er sich zu einem Satz, aber während er spricht, ist ihm, als ob sein Bewusstsein im Wasser wäre: »Wohin – wohin ist denn – wo ist denn Euer Mann?«
»Der ist wieder zum Dampfer hingefahren. Auf mich wollte er nicht hören. Was kümmert sich der um mein Reden! Der kümmert sich gar nicht um mein Reden …«
Nur etwas sprechen, irgendetwas fragen, sie sind so unheimlich, diese Gesprächspausen.
»Ihr – habt auch Kinder?«
»Nein, Kinder haben wir nicht. Mein Mann ist krank …« Die Frau sagt den Satz im Tonfall der Resignation. Dann aber schaut sie auf, als ob sie ihn als Argument aufgefasst wissen wollte. Ermunternd.
Duschnitz fühlt, wie sein fahles Gesicht jäh von Rot überströmt wird. Ein junges Weib. Eine derbe Nase, aber kein hässliches Gesicht. Gewiss nicht. Eher hübsch. Ja, hübsch. Plötzlich merkt er, und es scheint ihm, als träume er das, dass ihre Augen die seinen beobachten, dass sie erkennen möchte, wie die Prüfung ihres Gesichtes ausfallen werde. Ertappt gleitet sein Blick ab, tastet sich mühselig über die in eine blaugestreifte Kattunbluse eingezwängten Brüste, über starke Hüften. Eine dralle Person. Und er ist da allein in der Stube. Und nackt … Zitternd sucht er nach der Decke. Die Frau hat sich an den Bettrand gesetzt und atmet ein heißes Lächeln. »Musikkapelle spielen«, erinnert er sich unvermittelt. Seine Gedanken werden immer wirrer. Und er zieht die Frau an sich, zieht sie an sich.
Behälter zum wissenschaftlichen Sammeln von Pflanzen <<<
ZWEITES KAPITEL
Man kennt in Prag das Duschnitzsche Haus. Das große, rote Firmenschild des Selchers, der heute im Duschnitzschen Hause in der Rittergasse Laden und Werkstätte innehat, mag die prunkvolle Würde der Fassade stören, die durch Ruß, Staub und Witterung fast beinschwarz geworden ist – es bleibt doch eines der schönsten Gebäude der Stadt. Es hat nicht die höhnenden und einschüchternden Karyatiden ¹ mit Sklavengestalten, die die Balkone der Kleinseitner Adelspaläste auf ihren Nacken halten müssen, vielmehr ist hier der Torbogen von zwei unpersönlichen Eckpilastern flankiert, die durch ein Gesimse in der Mitte unterteilt sind und sich am oberen Ende in ein kapitälartiges Schneckengewinde einrollen. Portal, Fenster und Fassade sind überströmt von figuralen Zierraten und von architektonischen und Pflanzen-Ornamenten, die, in ausdrucksvollem, flachem, aber kräftig eingeschnittenem Relief behandelt, auf beiden Seiten der Fassade, an jedem Fenster und an jeder Hälfte des Tores ganz verschieden sind. Ein aus dem Vollen schöpfender Steinmetz hat sich hier, zurzeit, als niederländische Kupferstiche ihren Einfluss auf die Frührenaissance mächtig geltend zu machen begannen, im Auftrage eines reichen Bauherrn künstlerisch auszuleben versucht, während die Kunst des Architekten vornehmlich aus dem majestätischen Giebel und aus den Arkaden spricht, die im Hofe das erste Stockwerk mit kurzen, von Rustikabändern umwundenen Säulen einschließen.
Auch die erbeingesessenen Prager, die tausendmal an dem Duschnitzschen Hause vorübergegangen sind und der herrlichen Barockhäuser mehr kennen, pflegen nie vorbeizueilen, ohne mit einem Blick den Skulpturen an der schwarzen Front ihre Reverenz zu beweisen.
Alte Deutschprager, denen sich die in jeder kleineren Stadt wuchernde Anteilnahme, Neugierde und Tratschsucht im Laufe der Jahre schon zur Lust am Reminiszenzenerzählen gewandelt hat, wissen, wenn sie am Duschnitzschen Hause vorbeikommen, ihren jüngeren Begleitern vielerlei Historien. Sie berichten von einem der reichen Duschnitze, der einmal vor hundert Jahren in der Nacht durch Läuten an seiner Wohnungstür aus dem Schlafe geweckt wurde und sich, als er öffnete, dem Kaiser Franz gegenübersah, der eigens in der Postkutsche aus Wien nach Prag gekommen war, um ihn zur Bewilligung einer Staatsanleihe zu bewegen, sie erzählen von zwei Brüdern Duschnitz, die einander einmal auf dem Postamt begegnet waren, da ihnen beiden gleichzeitig – unabhängig voneinander – der Einfall gekommen war, einen auswärtigen Kommittenten dringend mit dem Abschluss eines Auftrages zu betrauen. Auch von dem letzten Sprossen dieses Altprager deutschen Patriziergeschlechts wissen sie, der schon bei Lebzeiten seiner Eltern durch und durch dekadent und sentimentalisch und ein romantischer Nichtstuer gewesen sei, sodass sein Vater, Roderich Duschnitz, die Hoffnung aufgeben musste, jemals in Karl einen Chef des Bankhauses D. Duschnitz zu sehen, und sich zum Verkauf des Geschäftes an eine Bank genötigt sah; kurz nach dieser Transaktion sei der alte Roderich gestorben. Der aus der Art geschlagene Karl Duschnitz bewohne jetzt das Haus in der Rittergasse, ohne irgendeiner nützlichen Beschäftigung zu obliegen.
Die jungen Leute, ehemalige Mitschüler und Studiengenossen des Karl Duschnitz, die dessen Vater in das Haus gezogen hatte, um dem melancholischen, grüblerischen Karl fröhliche Gesellschaft zu sein, hatten sich dieser Aufgabe nach allen Kräften zu entledigen gesucht, indem sie im gastfreundlichen Duschnitzschen Hause allnachmittäglich und allabendlich zu allerhand Spielen und Späßen und