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Der Mädchenhirt: Ein Roman
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eBook199 Seiten

Der Mädchenhirt: Ein Roman

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Über dieses E-Book

Fassung in aktueller Rechtschreibung
Während seiner Zeit als Lokalreporter in Prag kam Kisch die Inspiration für seinen Roman aus dem Zuhälter- und Prostituiertenmilieu Prags. Es sollte sein einziger Roman bleiben. Das Buch sollte übrigens schon recht früh als Stummfilm auf die Leinwand kommen.
Kisch, orientiert am "vertikalen Journalismus" eines Kurt Tucholskys, hatte keine Berührungsängste gegenüber den sozialen Außenseitern der damaligen Zeit. Er schilderte das Leben der Nutten, Zuhälter und kleinen Ganoven und des hoffnungslosen Proletariats auf der Suche nach ihrem Stück vom Glück.
Der junge Jarda Chrapot, ein Bewohner des heruntergekommenen Vergnügungsviertels von Prag, sieht vermeintlich nur eine Zukunft als Zuhälter vor sich. Gemeinsam mit seinen besten Freunden sitzt er in der gemeinsamen Lieblingsabsteige und schmiedet Pläne für eine bessere Zukunft. Sie versuchen, Mädchen an Land zu ziehen, Mädchen, die für sie auf den Strich gehen sollen. Sie sind Mädchenhirten.
Kisch schildert die Erlebnisse der Halbstarken und Kriminellen Prags, als hätte er mit ihnen am Tisch gesessen.
Mit 63 Fußnoten
Null Papier Verlag
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum7. Juni 2019
ISBN9783962816735
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    Buchvorschau

    Der Mädchenhirt - Egon Erwin Kisch

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    ERSTES KAPITEL

    Ganz un­ver­mu­tet, ganz plötz­lich platz­te das Ma­no­me­ter.

    Be­vor noch das Ent­set­zen mit sei­nem läh­men­den Arm die Hei­zer zu be­rüh­ren ver­moch­te, barst der Kes­sel mit ei­nem grau­en­haf­ten, die gan­ze Stadt er­schre­cken­den Auf­schrei.

    Auf dem Ver­deck an das Holz­häus­chen ge­lehnt, in dem sich die Schiffs­kas­se be­fand, hat­te En­gel­bert Naak eben zu Karl Duschnitz et­was Be­lang­lo­ses ge­sagt, die bei­den Wor­te »Mu­sik­ka­pel­le spie­len« ge­spro­chen, als die De­to­na­ti­on er­tön­te.

    Im sel­ben Au­gen­blick be­gann das Grau­sen die ra­sends­te Or­gie. Ein Kna­be, die Bo­ta­ni­sier­trom­mel¹ um­ge­hängt, wur­de in schnur­ge­ra­der Li­nie ge­gen ein Haus des Kais ge­schleu­dert, prall­te vom Bal­kon des ers­ten Stock­wer­kes ab und saus­te als Lei­che auf das Trot­toir; um sei­nen ver­stüm­mel­ten Rumpf schlang sich schräg die grü­ne Schlei­fe mit der Bo­ta­ni­sier­büch­se. Auf die Fahr­bahn des Kais fiel der Kopf ei­nes jun­gen Man­nes, in dem man spä­ter Matt­hi­as Blecha er­kann­te. Mar­cel Bley­er, der wohl in un­mit­tel­ba­rer Nähe des schad­haf­ten Kes­sels ge­stan­den war, wur­de in hun­dert Stücke ge­ris­sen. Die meis­ten Leu­te, dar­un­ter Ro­bert von Dirn­böck, den man bald un­ter den zu­sam­men­ge­bro­che­nen Trüm­mern des Damp­fers »Ca­put reg­ni« als Lei­che her­vor­zog, und En­gel­bert Naak, den man erst neun Tage nach der Ka­ta­stro­phe bei Mel­nik aus dem Flus­se fisch­te, wa­ren in das Was­ser ge­schos­sen wor­den. An­de­re ver­brüh­ten sich an den glü­hen­den Dämp­fen, die grau und rot über die Bret­ter des Wracks zün­gel­ten. An­de­ren wur­den die Rip­pen und Glied­ma­ßen ge­bro­chen, als sie in­mit­ten der dich­ten, atem­be­rau­ben­den Rauch­wol­ke, in­mit­ten von Be­sin­nungs­lo­sig­keit, Weh­kla­gen, Hil­fe­ru­fen, Stöh­nen, Wahn­sinn und Schrei­en die schma­le Stein­stie­ge zu er­klim­men ver­such­ten, die vom Lan­dungs­platz des Moldau­ni­ve­aus zum Kai hin­auf­führt. Wie­der an­de­re – Fritz Fritz, der acht Tage spä­ter un­ter gräss­li­chen Fie­ber­qua­len starb, war un­ter die­sen – wur­den von den schwar­zen Trüm­mern des Schiffs­ka­mins ge­trof­fen, die zu­nächst wie aus ei­nem Kra­ter in die Höhe des Kai­ge­län­des em­por­ge­sto­ßen wor­den wa­ren, oben als Pa­pier­schnit­zel im Wir­bel­wind kreis­ten und dann in ei­nem Ver­der­ben brin­gen­den Sprüh­re­gen auf das Wrack, die Lan­dungs­brücke, den An­le­ge­platz und in den Fluss, auf Pas­sa­gie­re und Schiffs­be­diens­te­te in den Qualm zu­rück­fie­len, Köp­fe zer­schmet­ternd, Ge­sich­ter von der Stirn zum Kinn auf­rei­ßend.

    Karl Duschnitz war un­ter den Ge­ret­te­ten. Auch er war in lan­gem Bo­gen aus dem Damp­fer ge­schleu­dert wor­den, mit­ten in den Fluss. Ne­ben der Stel­le, an der er auf­tauch­te, schwamm ein zer­bro­che­ner Tisch des zer­trüm­mer­ten Schif­fes. An die­sem hielt er sich me­cha­nisch acht­und­zwan­zig Mi­nu­ten fest. Wäh­rend die­ser Zeit ver­ge­gen­wär­tig­te er sich gar nicht, was ge­sche­hen war, die Wor­te »Mu­sik­ka­pel­le spie­len«, die En­gel­bert Naak zu­letzt ge­spro­chen hat­te und we­gen ir­gend­ei­nes Lärms nicht zu ei­nem Sat­ze vollen­den konn­te, klan­gen ihm in den Ohren, er wie­der­hol­te: »Mu­sik­ka­pel­le spie­len« und sah ir­gend­ei­ne blau­graue, dich­te Wol­ke auf dem Was­ser. Ganz apa­thisch hielt er sich an der Plan­ke fest, an de­ren Ecke ein in der Hälf­te zer­bro­che­ner Tisch­fuß war. Ihm fiel gar nicht ein, dass er um Hil­fe schrei­en sol­le. Al­ler­dings hät­te ihm dies nichts ge­hol­fen, weil er in der Mit­te des Stro­mes schwamm, zu weit vom Ufer, als dass man in dem Ge­kreisch, Ge­stöh­ne, Ge­äch­ze und Lärm sei­ne Stim­me zu hö­ren, ihn in­mit­ten des To­hu­wa­bo­hus von schwim­men­den Lei­chen, Bal­ken, Bän­ken, Glied­ma­ßen, Tü­chern, Pa­pie­ren und Hü­ten zu se­hen ver­mocht hät­te. Aber er be­dach­te we­der die Zweck­mä­ßig­keit noch die Un­zweck­mä­ßig­keit ei­nes Ver­su­ches, sich be­merk­bar zu ma­chen, son­dern krampf­te sei­ne Hän­de um die Rän­der der Bret­ter und dach­te nach, wie der von En­gel­bert Naak jäh ab­ge­bro­che­ne Satz zu be­en­den sei.

    Duschnitz wur­de ge­ra­de da­durch ge­ret­tet, dass er in der Mit­te der Moldau war. Denn so be­merk­te ihn der Flö­ßer Jo­han­nes Chra­pot, der von sei­nem Häu­schen auf der In­sel Kam­pa, also vom lin­ken, dem ent­ge­gen­ge­setz­ten Ufer, zur Un­glücks­stät­te hin­ru­der­te, zu­erst. Der Flö­ßer pack­te Karl beim Obe­r­arm und ver­such­te, ihn in den Kahn zu zie­hen. Das miss­lang, weil Karl Duschnitz mehr tot als le­ben­dig war und kei­ne An­stren­gung mach­te, sei­nem Ret­ter be­hilf­lich zu sein. Er hielt sich noch im­mer an dem Brett fest. Da zog Chra­pot die Ru­der ein, beug­te sich über den Rand des Kah­nes, pack­te den Halb­to­ten, der nun end­lich die Plan­ke losließ, um die Hüf­ten und hob ihn – fast wäre die Nuss­scha­le um­ge­kippt – in das In­ne­re des Schiff­chens. Dort sank Karl Duschnitz ohn­mäch­tig hin. Chra­pot ru­der­te nun, so schnell er konn­te, zur In­sel Kam­pa zu­rück.

    Hier stan­den schon Hun­der­te neu­gie­rig Er­reg­ter. Gleich nach der un­ge­heu­ren De­to­na­ti­on wa­ren die Be­woh­ner der In­sel Kam­pa na­tur­ge­mäß an das Ufer ge­eilt, wo sich ih­nen ein wei­ter Aus­blick auf das jen­sei­ti­ge Prag und auf den Fluss öff­net. Hier konn­ten sich jene, die schon ein Erd­be­ben, wenn nicht gar das Her­ein­bre­chen des Jüngs­ten Ta­ges an­ge­nom­men hat­ten, über­zeu­gen, dass Prag noch auf dem al­ten Fleck ste­he, und die stei­len Rauch­wol­ken, die sich in der Ge­gend der Palacky­brücke in den Him­mel reck­ten, be­lehr­ten, wo­her der un­heim­li­che, ge­heim­nis­vol­le Krach ge­kom­men war. In die­ser Rich­tung jag­ten die sich auf­bäu­men­den Pfer­de des Lösch­trains, in die­ser Rich­tung fuh­ren auch drü­ben am Kai die Ret­tungs­wa­gen, de­ren Len­ker be­deu­tungs­voll pfif­fen. Die Män­ner stie­gen in ihre Fi­scher­käh­ne und fuh­ren in der Rich­tung der Qualm­wol­ke ab, ihre Wei­ber schri­en ih­nen, stolz, ein­dring­lich und die Auf­merk­sam­keit auf sich len­kend, War­nungs­ru­fe nach. Aber nie­mand wuss­te, was ge­sche­hen sei. Dy­na­mi­tat­ten­tat, Ein­sturz der Palacky­brücke, Brand ei­ner che­mi­schen Fa­brik? Bis end­lich von der Brüs­tung der Karls­brücke ein Kam­pa­be­woh­ner das auf­klä­ren­de Wort hin­un­ter­rief, das ein Feu­er­wehr­mann ei­nem Po­li­zis­ten zu­ge­ru­fen hat­te: Damp­fer­ex­plo­si­on. Nun ge­wan­nen die Mut­ma­ßun­gen greif­ba­re­re For­men. Es muss­te, das war schon nach der De­to­na­ti­on zu schlie­ßen, eine gräss­li­che Ka­ta­stro­phe ge­we­sen sein, der Re­qui­si­ti­on von Feu­er­wehr und Ret­tungs­am­bu­lanz konn­te man ent­neh­men, dass es auch Tote ge­ge­ben habe. Au­ßer­dem war Pfingst­sonn­tag, der rech­te Tag für Aus­flüg­ler – man konn­te sich die Grö­ße der Ka­ta­stro­phe aus­ma­len. Der Er­ör­te­run­gen und Er­wä­gun­gen wur­de erst ein Ende, als man den Flö­ßer Chra­pot has­tig ru­dernd zur Kam­pa zu­rück­kom­men sah und bald dar­auf er­kann­te, dass in sei­nem Kahn ein Mensch lie­ge.

    War schon frü­her die Ge­fahr vor­han­den ge­we­sen, dass von den Neu­gie­ri­gen, die zu Hun­der­ten auf der durch kei­ner­lei Ge­län­der ge­schütz­ten Bö­schung zwi­schen der Ro­land­sta­tue und der Kam­pa-Real­schu­le schräg stan­den, sich quetsch­ten, dräng­ten und stie­ßen, je­mand in das Was­ser ge­sto­ßen wer­de, so stei­ger­te sich die Ge­fähr­lich­keit der Si­tua­ti­on noch, als man des Flö­ßers Chra­pot an­sich­tig wur­de; die Män­ner und Bur­schen woll­ten an den Rand der Bö­schung hin­un­ter, um dem Heran­kom­men­den beim Lan­den be­hilf­lich zu sein, die Frau­en und Kin­der, die vor­ne stan­den, woll­ten teils aus Neu­gier­de nicht Platz ma­chen, teils konn­ten sie sich wirk­lich nicht von der Stel­le rüh­ren, da sie ein­ge­keilt wa­ren. Schließ­lich kam Ord­nung in die wo­gen­den und schie­ben­den Rei­hen, es ge­lang ei­nem Flö­ßer­bur­schen, die am Kiel des Chra­pot­schen Kah­nes hän­gen­de Ket­te zu er­fas­sen und das Boot fest an das Land zu zie­hen.

    Ei­ni­ge wa­ren be­hilf­lich, den Be­wusst­lo­sen aus dem Boot zu he­ben, und tru­gen ihn zu Chra­pots Woh­nung. Dor­thin war in­zwi­schen auch das Weib des Flö­ßers ge­kom­men. Sie sperr­te die Türe zu dem Zim­mer auf, das links ne­ben der Kü­che war, und man leg­te den Frem­den auf den Tisch. Die Stu­be war voll von Neu­gie­ri­gen, und auch auf der Stie­ge dräng­ten sich sol­che. Chra­pot schob al­les zum Hau­se hin­aus und mach­te sich dann dar­an, den Be­wusst­lo­sen zum Le­ben zu er­we­cken. Kaum hat­te er die Schlä­fe Karls ein­ge­rie­ben, als die­ser die Au­gen öff­ne­te und tief auf­at­me­te. »Leg ihn zu Bett und hei­ze ein«, sag­te der Flö­ßer und ent­fern­te sich ei­lig, um von Neu­em zur Un­glücks­stät­te hin­zu­fah­ren. Auf die Wi­der­re­de sei­nes Wei­bes hör­te Jo­hann Chra­pot nicht.

    Frau Chra­pot schloss die Tür, zerr­te des Frem­den Stie­fel von den Fü­ßen, sei­ne Klei­der und Wä­sche vom Lei­be. Karl Duschnitz lag apa­thisch auf dem Ti­sche und ließ al­les mit sich ge­sche­hen. Auch als die Chra­pot mit ih­rem gan­zen Kör­per den Tisch ruck­wei­se bis zum Bett schob, reg­te er sich nicht. Er schau­te mit wei­ten Au­gen auf die Zim­mer­de­cke und at­me­te tief. Als ihn aber das Weib an­pack­te, um ihn ins Bett zu le­gen, schau­te er sich zu­ckend in der Flö­ßer­stu­be um und frag­te: »Was ist?«

    »Ihr seid bei der Damp­fer­ex­plo­si­on ins Was­ser ge­fal­len, und mein Mann hat Euch her­ge­bracht. Das ist un­se­re Woh­nung. Ich will Euch jetzt ins Bett le­gen.«

    Karl Duschnitz drück­te sei­nen lin­ken Zei­ge­fin­ger der Län­ge nach auf die Schlä­fe und starr­te vor sich hin. Er be­sann sich lan­ge. Nach und nach schi­en ihm der Zu­sam­men­hang der Er­eig­nis­se klar zu wer­den. Wie die Ta­fel­run­de auf dem Damp­fer zur Pfingst­fahrt ver­sam­melt, das Schiff zur Ab­fahrt be­reit war, wie En­gel­bert Naak ir­gen­det­was von ei­ner Mu­sik­ka­pel­le sprach, plötz­lich ein bei­spiel­los furcht­ba­rer Knall er­tön­te, wie er sich dann auf dem Was­ser fand, eine Plan­ke um­fass­te und dann von ei­nem frem­den Mann in des­sen Boot ge­zo­gen wur­de.

    »Wo ist Euer Mann?«

    »Der ist fort«, sagt Chra­pots Frau zer­streut. Sie hat den frem­den Herrn, der ein so zar­tes Ge­sicht, so schma­le, durch­schei­nen­de Hän­de und einen teu­ren al­ten Ring auf dem Fin­ger hat, den frem­den jun­gen Herrn, des­sen er­staun­lich fei­ne Wä­sche und Klei­der auf dem Stuh­le lie­gen, un­ver­wandt an­ge­se­hen, wäh­rend er er­wach­te. Da er sie nun fragt und sie ihm ant­wor­tet, weilt ihr Sin­nen an­ders­wo.

    Den Blick fühlt Karl Duschnitz. Er er­wi­dert ihn scheu, ängst­lich und sieht ein jun­ges Weib. Et­was möch­te er sa­gen, ir­gen­det­was sa­gen – das Ge­spräch stockt schon un­heim­lich lan­ge. Müh­se­lig zwingt er sich zu ei­nem Satz, aber wäh­rend er spricht, ist ihm, als ob sein Be­wusst­sein im Was­ser wäre: »Wo­hin – wo­hin ist denn – wo ist denn Euer Mann?«

    »Der ist wie­der zum Damp­fer hin­ge­fah­ren. Auf mich woll­te er nicht hö­ren. Was küm­mert sich der um mein Re­den! Der küm­mert sich gar nicht um mein Re­den …«

    Nur et­was spre­chen, ir­gen­det­was fra­gen, sie sind so un­heim­lich, die­se Ge­sprächs­pau­sen.

    »Ihr – habt auch Kin­der?«

    »Nein, Kin­der ha­ben wir nicht. Mein Mann ist krank …« Die Frau sagt den Satz im Ton­fall der Re­si­gna­ti­on. Dann aber schaut sie auf, als ob sie ihn als Ar­gu­ment auf­ge­fasst wis­sen woll­te. Er­mun­ternd.

    Duschnitz fühlt, wie sein fah­les Ge­sicht jäh von Rot über­strömt wird. Ein jun­ges Weib. Eine der­be Nase, aber kein häss­li­ches Ge­sicht. Ge­wiss nicht. Eher hübsch. Ja, hübsch. Plötz­lich merkt er, und es scheint ihm, als träu­me er das, dass ihre Au­gen die sei­nen be­ob­ach­ten, dass sie er­ken­nen möch­te, wie die Prü­fung ih­res Ge­sich­tes aus­fal­len wer­de. Er­tappt glei­tet sein Blick ab, tas­tet sich müh­se­lig über die in eine blau­ge­streif­te Kat­tun­blu­se ein­ge­zwäng­ten Brüs­te, über star­ke Hüf­ten. Eine dral­le Per­son. Und er ist da al­lein in der Stu­be. Und nackt … Zit­ternd sucht er nach der De­cke. Die Frau hat sich an den Bett­rand ge­setzt und at­met ein hei­ßes Lä­cheln. »Mu­sik­ka­pel­le spie­len«, er­in­nert er sich un­ver­mit­telt. Sei­ne Ge­dan­ken wer­den im­mer wir­rer. Und er zieht die Frau an sich, zieht sie an sich.


    Be­häl­ter zum wis­sen­schaft­li­chen Sam­meln von Pflan­zen  <<<

    ZWEITES KAPITEL

    Man kennt in Prag das Duschnitz­sche Haus. Das große, rote Fir­men­schild des Sel­chers, der heu­te im Duschnitz­schen Hau­se in der Rit­ter­gas­se La­den und Werk­stät­te in­ne­hat, mag die prunk­vol­le Wür­de der Fassa­de stö­ren, die durch Ruß, Staub und Wit­te­rung fast bein­schwarz ge­wor­den ist – es bleibt doch ei­nes der schöns­ten Ge­bäu­de der Stadt. Es hat nicht die höh­nen­den und ein­schüch­tern­den Ka­rya­ti­den ¹ mit Skla­ven­ge­stal­ten, die die Bal­ko­ne der Klein­seit­ner Adel­spa­läs­te auf ih­ren Na­cken hal­ten müs­sen, viel­mehr ist hier der Tor­bo­gen von zwei un­per­sön­li­chen Eck­pi­las­tern flan­kiert, die durch ein Ge­sim­se in der Mit­te un­ter­teilt sind und sich am obe­ren Ende in ein ka­pi­tälar­ti­ges Schne­cken­ge­win­de ein­rol­len. Por­tal, Fens­ter und Fassa­de sind über­strömt von fi­gu­ra­len Zier­ra­ten und von ar­chi­tek­to­ni­schen und Pflan­zen-Or­na­men­ten, die, in aus­drucks­vol­lem, fla­chem, aber kräf­tig ein­ge­schnit­te­nem Re­lief be­han­delt, auf bei­den Sei­ten der Fassa­de, an je­dem Fens­ter und an je­der Hälf­te des To­res ganz ver­schie­den sind. Ein aus dem Vol­len schöp­fen­der Stein­metz hat sich hier, zur­zeit, als nie­der­län­di­sche Kup­fer­sti­che ih­ren Ein­fluss auf die Früh­re­naissance mäch­tig gel­tend zu ma­chen be­gan­nen, im Auf­tra­ge ei­nes rei­chen Bau­herrn künst­le­risch aus­zu­le­ben ver­sucht, wäh­rend die Kunst des Archi­tek­ten vor­nehm­lich aus dem ma­je­stä­ti­schen Gie­bel und aus den Ar­ka­den spricht, die im Hofe das ers­te Stock­werk mit kur­z­en, von Rus­ti­ka­b­än­dern um­wun­de­nen Säu­len ein­schlie­ßen.

    Auch die erb­ein­ge­ses­se­nen Pra­ger, die tau­send­mal an dem Duschnitz­schen Hau­se vor­über­ge­gan­gen sind und der herr­li­chen Barock­häu­ser mehr ken­nen, pfle­gen nie vor­bei­zu­ei­len, ohne mit ei­nem Blick den Skulp­tu­ren an der schwar­zen Front ihre Re­ve­renz zu be­wei­sen.

    Alte Deutsch­pra­ger, de­nen sich die in je­der klei­ne­ren Stadt wu­chern­de An­teil­nah­me, Neu­gier­de und Tratsch­sucht im Lau­fe der Jah­re schon zur Lust am Re­mi­nis­zen­zen­er­zäh­len ge­wan­delt hat, wis­sen, wenn sie am Duschnitz­schen Hau­se vor­bei­kom­men, ih­ren jün­ge­ren Beglei­tern vie­ler­lei His­to­ri­en. Sie be­rich­ten von ei­nem der rei­chen Duschnit­ze, der ein­mal vor hun­dert Jah­ren in der Nacht durch Läu­ten an sei­ner Woh­nungs­tür aus dem Schla­fe ge­weckt wur­de und sich, als er öff­ne­te, dem Kai­ser Franz ge­gen­über­sah, der ei­gens in der Post­kut­sche aus Wien nach Prag ge­kom­men war, um ihn zur Be­wil­li­gung ei­ner Staats­an­lei­he zu be­we­gen, sie er­zäh­len von zwei Brü­dern Duschnitz, die ein­an­der ein­mal auf dem Post­amt be­geg­net wa­ren, da ih­nen bei­den gleich­zei­tig – un­ab­hän­gig von­ein­an­der – der Ein­fall ge­kom­men war, einen aus­wär­ti­gen Kom­mit­ten­ten drin­gend mit dem Ab­schluss ei­nes Auf­tra­ges zu be­trau­en. Auch von dem letz­ten Spros­sen die­ses Alt­pra­ger deut­schen Pa­tri­zi­er­ge­schlechts wis­sen sie, der schon bei Leb­zei­ten sei­ner El­tern durch und durch de­ka­dent und sen­ti­men­ta­lisch und ein ro­man­ti­scher Nichts­tu­er ge­we­sen sei, so­dass sein Va­ter, Ro­de­rich Duschnitz, die Hoff­nung auf­ge­ben muss­te, je­mals in Karl einen Chef des Bank­hau­ses D. Duschnitz zu se­hen, und sich zum Ver­kauf des Ge­schäf­tes an eine Bank ge­nö­tigt sah; kurz nach die­ser Trans­ak­ti­on sei der alte Ro­de­rich ge­stor­ben. Der aus der Art ge­schla­ge­ne Karl Duschnitz be­woh­ne jetzt das Haus in der Rit­ter­gas­se, ohne ir­gend­ei­ner nütz­li­chen Be­schäf­ti­gung zu ob­lie­gen.

    Die jun­gen Leu­te, ehe­ma­li­ge Mit­schü­ler und Stu­dien­ge­nos­sen des Karl Duschnitz, die des­sen Va­ter in das Haus ge­zo­gen hat­te, um dem me­lan­cho­li­schen, grüb­le­ri­schen Karl fröh­li­che Ge­sell­schaft zu sein, hat­ten sich die­ser Auf­ga­be nach al­len Kräf­ten zu ent­le­di­gen ge­sucht, in­dem sie im gast­freund­li­chen Duschnitz­schen Hau­se all­nach­mit­täg­lich und all­abend­lich zu al­ler­hand Spie­len und Spä­ßen und

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