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Geschichte der Baustatik: Auf der Suche nach dem Gleichgewicht
Geschichte der Baustatik: Auf der Suche nach dem Gleichgewicht
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eBook3.410 Seiten32 Stunden

Geschichte der Baustatik: Auf der Suche nach dem Gleichgewicht

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Über dieses E-Book

Was wissen Bauingenieure heute über die Herkunft der Baustatik? Wann und welcherart setzte das statische Rechnen im Entwurfsprozess ein? Wir ahnen wohl, dass die Entwicklung von Berechnungsmethoden und -verfahren im engen Zusammenhang mit der Entdeckung neuer Baumaterialien und der Hervorbringung und Entfaltung von Tragformen stehen.
Das vorliegende Buch zeichnet die Entstehung von Statik und Festigkeitslehre als die Entwicklung vom geometrischen Denken der Renaissance über die klassische Mechanik bis hin zur modernen Strukturmechanik nach. Eine Einführung eröffnet mit kurzen Einblicken in zwölf verbreitete Berechnungsverfahren den Zugang zu über 500 Jahren Geschichte der Baustatik aus der Berechnungspraxis der Gegenwart. Beginnend mit den Festigkeitsbetrachtungen von Leonardo und Galilei wird der Herausbildung einzelner baustatischer Verfahren und ihrer Formierung zur Baustatik nachgegangen. Dabei gelingt es dem Autor auch, die Unterschiedlichkeit der Akteure hinsichtlich ihrer technisch-wissenschaftlichen Profile und ihrer Persönlichkeiten plastisch zu schildern und das Verständnis für den jeweiligen gesellschaftshistorischen Kontext zu erzeugen. 243 Kurzporträts maßgeblicher Protagonisten der Mechanik, Mathematik, des Maschinen- und Flugzeugbaus und der Baustatik sowie eine umfangreiche Bibliografie machen das Werk zusätzlich zu einer unschätzbaren Fundgrube.
Mit diesem Buch liegt der Fachwelt das einzige geschlossene Werk über die Geschichte der Baustatik vor. Es lädt den Leser zur Entdeckung der Wurzeln der modernen Rechenmethoden ein. Die 1. Auflage von 2002 war schnell vergriffen. Für die 2. Auflage ergänzte der Autor sein Werk um wichtige Reisen in die Geschichte der Disziplinbildung: Erddrucktheorie, Traglastverfahren, historische Lehrbuchanalyse, Stahlbrückenbau, Schalentheorie, Computerstatik, Finite-Elemente-Methode, Computergestützte Graphostatik, Historische Technikwissenschaft.
SpracheDeutsch
HerausgeberWiley
Erscheinungsdatum14. Jan. 2016
ISBN9783433607503
Geschichte der Baustatik: Auf der Suche nach dem Gleichgewicht

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    Buchvorschau

    Geschichte der Baustatik - Karl-Eugen Kurrer

    Kapitel 1

    Aufgaben und Ziele der Historiografie der Baustatik

    BILD 1-1 Zeichnungen von Edoardo Benvenuto

    Die Geschichte der Baustatik (Bild 1-1) erfuhr bis in die 1990er-Jahre nur geringe Zuwendung durch die Historikerzunft. Auf Tagungen zur Wissenschafts- und Technikgeschichte, aber auch in einschlägigen Zeitschriften und Sammelwerken fanden sich bis dahin nur vereinzelt Beiträge, welche die Ursprünge, die geschichtliche Bewegung, die kulturelle Einbettung und die gesellschaftliche Bedeutung der Baustatik zum Gegenstand haben. Diese Lücke in der Wahrnehmung der Geschichte der Baustatik besitzt passiven Charakter: Noch immer gehen die meisten davon aus, dass Standsicherheit von Bauwerken a priori gewährleistet ist, das baustatische Wissen sich gleichsam naturhaft mit dem Bauwerk verbindet, von ihm absorbiert wird – verschwindet – und damit nicht mehr in Erscheinung tritt. Dies ist keine Verdrängungsleistung der Rezipienten, sondern liegt in der Natur des Bauens begründet, trat doch zu Beginn der Industriellen Revolution die Baustatik mit dem Anspruch auf, eine aus der Natur des Bauens hergeleitete Mechanik [Gerstner, 1789, S. 4] zu sein.

    Nur bei Versagensfällen erinnern sich die öffentlichen Meinungsbildner an die Baustatik. So folgte die geschichtliche Entwicklung der Baustatik den geschichtlichen Spuren des modernen Bauens mit dem Ergebnis, dass der historische Beitrag der Baustatik zur Entwicklung des Bauens in der auf den Konstruktiven Ingenieur orientierten Baugeschichte mehr oder weniger Berücksichtigung fand, mithin von ihr eingeschlossen wurde.

    Auch die Wissenschaftsgeschichtsschreibung behandelt die Geschichte der Baustatik als Ableitung. Sofern ihr die Baustatik als Ganzes ins Blickfeld gerät, ist diese nur einer unter vielen Anwendungsfällen der Mechanik. Den Konstruktiven Bauingenieuren, zu deren Profession die Baustatik als technikwissenschaftliche Grundlagendisziplin gehört, gelingt es nur selten, sich jenseits disziplinärer Grenzen Gehör zu verschaffen.

    Heute ist die Baustatik zum einen mehr denn je dem formalen Operieren mit Symbolen verpflichtet und gerät vielen Nutzern der Statiksoftware aus dem Blick; zum anderen scheitern manche Versuche zur Didaktisierung der Baustatik daran, dass das Wissen um ihre geschichtliche Entwicklung nicht hinreicht, den Gegenstand der Baustatik konkretisierend auf den Begriff zu bringen. So ist die Baustatik ein notwendiges, aber unpopuläres Projekt.

    Gleichwohl formiert sich seit den frühen 1990er-Jahren aus unterschiedlichen Richtungen eine Historiografie der Baustatik, die mit der am 2. und 3. Dezember 2005 von Santiago Huerta organisierten Tagung Historical Perspectives on Structural Analysis in Madrid ihren ersten Höhepunkt erreichte. Damit erblickte die erste Tagung über Geschichte der Baustatik das Licht der Welt. Der hierzu editierte Band (Bild 1-2) zeigt auf, dass die Geschichte der Baustatik bereits wichtige Merkmale einer wissenschaftlichen Disziplin aufweist und sich bereits in ihrer Konstituierungsphase befindet. Auch die von Santiago Huerta 2003 in Madrid begründete Kongressserie International Congress on Construction History mit dreijährigem Rhythmus trägt zur Historiografie der Baustatik wesentlich bei.

    BILD 1-2 Umschlag des Buches zur ersten Tagung über Geschichte der Baustatik (2005)

    Seit 2007 editiert Taylor & Francis alle zwei Monate das International Journal of Architectural Heritage, das sich u. a. aus der Perspektive der Historischen Baustatik mit der Analyse gemauerter Tragstrukturen auseinandersetzt. Zwei Jahre später startete die Londoner Institution of Civil Engineers (ICE) unter dem Dach ihrer Proceedings die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift Engineering History and Heritage, wo auch Aufsätze zur Geschichte der Baustatik veröffentlicht werden. Im deutschen Sprachraum sind es hauptsächlich die von Ernst & Sohn herausgegebenen Zeitschriften Bautechnik, Beton- und Stahlbetonbau und Stahlbau, welche die Historiografie der Bautechnik im Allgemeinen und der Baustatik im Besonderen pflegen.

    Nach der Geschichte der Baustatik (2002) und der wesentlich umfangreicheren Monografie The History of the Theory of Structures. From Arch Analysis to Computational Mechanics (2008) des Autors, legte Max Herzog seine Kurze Geschichte der Baustatik und der Baudynamik in der Praxis vor [Herzog, 2010].

    Die vorgestellten Publikationen zur Geschichte der Baustatik bilden einen der Grundsteine der noch zu schaffenden Wissenschaftsgeschichte des Bauens, die mit der Technikgeschichte des Bauens die wissenschaftliche Disziplin der Bautechnikgeschichte ausmachen könnte.

    1.1 Wissenschaftsinterne Aufgaben

    Wie jedem wissenschaftlichen Erkenntnisprozess, so ist auch dem technikwissenschaftlichen Erkenntnisprozess der Baustatik das Historische insofern eingeschrieben, als durch die ideelle Reproduktion der im Stand der Erkenntnis eines Gegenstandsbereiches aufgehobenen wissenschaftlichen Entwicklung eine notwendige Basis neuartiger wissenschaftlicher Ideen gebildet wird: Wissenschaft ist genuin historisch. Die Reflektion auf die Entstehung und Entwicklung des Gegenstandes der Baustatik wird immer dann zu einem Moment des technikwissenschaftlichen Erkenntnisprozesses, wenn konkurrierende bzw. koexistierende Theorien in einer abstrakteren Theorie – möglicherweise in einer Fundamentaltheorie einer technikwissenschaftlichen Grundlagendisziplin – aufgehoben werden. Deshalb ist die eng mit dieser Erweiterung des Gegenstandsbereiches auftretende Frage nach der inneren Konsistenz der abstrakteren Theorie auch eine Frage nach der historischen Entwicklung. Mit Saint-Venants monumentaler historisch-kritischer Edition [Saint-Venant, 1864] des ersten Abschnitts der zweiten Auflage von Naviers Résumé des leçons aus dem Jahre 1833 [Navier, 1833], erblickte die Historische Elastizitätstheorie als Kern der Historischen Technikwissenschaft in der Mitte der Etablierungsphase der Baustatik (1850–1875) das Licht der Welt [Kurrer, 2012, S. 51–52].

    Der Theoriebildung in der Baustatik ist das Klassifizieren von in theoretischen Modellen widergespiegelten wesentlichen Eigenschaften von technischen Objekten bzw. Objektklassen eigen. Dadurch erwächst insbesondere bei zeitlich sehr trägen baustatischen Theoriebildungsprozessen, wie etwa der Gewölbetheorie, die Aufgabe des historisch akzentuierten Vergleichs und der Kritik der theoretischen Ansätze, der theoretischen Modelle und der Theorien. Als Beispiele hierfür seien Emil Winklers 1879/1880 vorgenommene logisch-historische Analyse der Gewölbetheorien [Winkler, 1879/1880] und Fritz Kötters Entwicklungsgeschichte der Erddrucktheorien [Kötter, 1893] in der Vollendungsphase der Baustatik (1875–1900) genannt.

    In ihrer Geschichte der Festigkeitslehre stellten Todhunter und Pearson nicht ohne Grund die Elastizitätstheorie in den Mittelpunkt [Todhunter u. Pearson, 1886 u. 1893], avancierte sie doch alsbald zum materialtheoretischen Fundament der Technischen Mechanik und der Baustatik in deren Disziplinbildungsperiode (1825–1900) und konnte sie noch in der Konsolidierungsperiode (1900–1950) ihre Position als Fundamentaltheorie beider technikwissenschaftlichen Grundlagendisziplinen behaupten. Die mathematische Elastizitätstheorie entstand 1820 mit Naviers Mémoire sur la flexion des plans élastiques (Bild 1-3), regte u. a. Cauchy zu seinen grundlegenden Beiträgen zum Bau des wissenschaftlichen Gebäudes der Elastizitätstheorie an und induzierte in der Konstituierungsphase der Baustatik (1825–1850) einen Paradigmenwechsel, der in der Mitte der Etablierungsphase der Baustatik (1850–1875) i. W. abgeschlossen war. Ein wichtiges Resultat der Disziplinbildungsperiode der Baustatik (1825–1900) bestand in der Konstitution eines disziplinären Selbstverständnisses ihrer Erkenntnissubjekte, zu dem die Elastizitätstheorie wesentlich beitrug. Damit schuf sich die Baustatik die Voraussetzung, die Entwicklung des Bauens im disziplinären Maßstab bewusst mitzugestalten. Von baukonstruktiver Seite dagegen nähert sich Gustav Lang in seiner entwicklungsgeschichtlichen Darstellung der Wechselwirkung von Tragkonstruktion und Baustatik im 19. Jahrhundert [Lang, 1890] – sie ist die erste Monografie zur Geschichte der Baustatik.

    BILD 1-3 Lithografierte Titelseite von Naviers Mémoire sur la flexion des plans élastiques [Roberts u. Trent, 1991, S. 234]

    Bis in die Konsolidierungsperiode der Baustatik (1900–1950) war den in der entstehenden bauwissenschaftlichen Fachliteratur fixierten baustatischen Theoriebildungsprozessen ein historisches Element eigen, das mehr ist, als das bloße Referieren bereits publizierter Beiträge zum Gegenstand. Es erscheint nachgerade ein Kriterium der Disziplinbildungsperiode der Baustatik, dass die Erfassung des Verhältnisses von Logischem und Historischem ein notwendiges Moment des sich ausformenden technikwissenschaftlichen Erkenntnisprozesses war. Versteht man unter dem Logischen die theoretische Erkenntnis, welche die Gesetzmäßigkeiten des betreffenden Gegenstandes in abstrakter und systematischer Form widerspiegelt, unter dem Historischen hingegen die Erkenntnis und Reproduktion der Entstehung und Entwicklung des Gegenstandes, so kann belegt werden, dass, insbesondere bei Entwicklungssprüngen der Disziplinbildungsperiode der Baustatik, in die theoretische Erkenntnis des Gegenstandes die Erkenntnis seiner historischen Bewegung sekundär mit eingehen musste. Während Pierre Duhem in seinem zweibändigen Werk Les origines de la Statique [Duhem, 1905/1906] den Weg des naturphilosophischen Denkens von der mittelalterlichen Statik bis Ende des 17. Jahrhunderts verfolgt, begründen Mehrtens [Mehrtens, 1900 u. 1905], Hertwig [Hertwig, 1906 u. 1941], Westergaard [Westergaard, 1930], Ramme [Ramme, 1939] und Hamilton [Hamilton, 1952] mit ihren zusammenfassenden Beiträgen zur Disziplingenese der Baustatik die Historiografie der Baustatik in engerem Sinne. Das berühmte Buch von Timoshenko zur Geschichte der Festigkeitslehre (Bild 1-4) enthält Abschnitte zur Geschichte der Baustatik [Timoshenko, 1953].

    BILD 1-4 Buchumschlag von Timoshenkos History of strength of materials [Timoshenko, 1953]

    In der ehemaligen UdSSR trugen Rabinovich [1949, 1960 u. 1969] und Bernstein [1957 u. 1961] zur Historiografie der Festigkeitslehre und Baustatik im Besonderen und der Strukturmechanik im Allgemeinen bei. Von den genannten Monografien ist leider nur die im Sog des Sputnik-Schocks von George Herrmann besorgte Ausgabe in Englisch erschienen [Rabinovich, 1960] – dort umreißt Rabinovich die Zukunftsaufgabe einer Art Universalgeschichte der Strukturmechanik mit folgenden Worten: To the present time (bis Anfang 1957 – d. Verf.) no history of structural mechanics exists. Isolated excerpts and sketches which are the elements do not fill the place of one. There is need for a history covering all divisions of the science with reasonable thoroughness and containing an analysis of ideas and methods, their mutual influences, economics, and the characteristics of different countries, their connection with the development of other sciences and, finally, their influence upon design and construction [Rabinovich, 1960, S. 79]. Leider wurden die sowjetischen Beiträge zur Geschichte der Strukturmechanik in der nichtsozialistischen Welt bis auf die erwähnte Ausnahme nicht rezipiert – dieses Schicksal erlitt auch die von Rabinovich herausgegebene Monografie zur Geschichte der Baumechanik in der UdSSR von 1917 bis 1967 (Bild 1-5).

    BILD 1-5 Schutzumschlag der Monografie Baumechanik in der UdSSR 1917–1967 [Rabinovich, 1969]

    Harold I. Dorn befasste sich in seiner Dissertation The art of building and the science of mechanics mit dem Verhältnis von Theorie und Praxis in der Vorbereitungsperiode der Baustatik (1575–1825) in Großbritannien [Dorn, 1971]. Auf die Disziplinbildungsperiode der Baustatik konzentriert sich Charlton in seinem Buch [Charlton, 1982]. Er schließt die wissenschaftsinterne Sicht auf die Entwicklung der Baustatik insofern ab, als die Historiografie der Baustatik nunmehr in ihre Initialphase eintritt: Schon 1972 setzte Jacques Heyman mit seiner Monografie Coulomb's memoir on statics: An essay in the history of civil engineering [Heyman, 1972/1] nicht nur neue Akzente im Umgang mit und bei der Interpretation von historischen Quellen, sondern zeigte auf, wie die historische Erkenntnis die Ingenieurpraxis befruchten kann: Dies demonstrierte er insbesondere in der baustatischen Analyse gewölbter Steinkonstruktionen [Heyman, 1982 u. 1995/1], die er zu einer Historischen Gewölbetheorie [Kurrer, 2012, S. 52–56] ausbaute. Neun Jahre später folgte ihm Edoardo Benvenuto mit seinem universal angelegten Werk La scienza delle costruzioni e il suo sviluppo storico [Benvenuto, 1981], dessen englische Fassung – leider in stark gekürzter Form – erst ein Dezennium später erschien [Benvenuto, 1991]. Insbesondere die später von Jacques Heyman vorgelegten Monografien – wie beispielsweise Structural Analysis. A historical approach [Heyman, 1998/1] – zeigen auf, dass die Historiografie der Baustatik in der Lage ist, die wissenschaftliche Entwicklung der Baustatik i. S. einer Historischen Baustatik im Rahmen einer Historischen Technikwissenschaft [Kurrer, 2012] voranzutreiben. Zahlreiche Bücher Heymans sind in der von Santiago Huerta begründeten und editorisch betreuten Reihe Textos sobre teoría e historia de las construcciones in spanischer Sprache publiziert worden (s. z. B. Bild 1-6).

    BILD 1-6 Schutzumschlag der spanischen Edition von Heymans Structural analysis. A historical approach [Heyman, 2004]

    1993 startete Benvenuto zusammen mit der belgischen Wissenschaftshistorikerin Patricia Radelet-de Grave den Reigen internationaler Tagungen mit dem Titel Between Mechanics and Architecture, der zum Programm einer Schule avancierte und nach seinem frühen Tod von der Associazione Edoardo Benvenuto unter der Ehrenpräsidentschaft von Jacques Heyman fortgeführt wird. Nur sechs Ergebnisse dieses Programms sollen hier benannt werden:

    – der von Benvenuto und Radelet-de Grave herausgegebene erste Band dieser Reihe mit dem Titel Entre Méchanique et Architecture. Between Mechanics and Architecture [Benvenuto u. Radelet-de Grave, 1995]

    – der von Becchi, Corradi, Foce und Pedemonte herausgegebene Sammelband Towards a History of Construction [Becchi et al., 2002]

    – die von Becchi und Foce mit tiefem Sachverstand kommentierte Bibliografie zur baustatischen und geometrischen Analyse von Gewölben in Vergangenheit und Gegenwart Degli archi e delle volte [Becchi u. Foce, 2002]

    – der von Becchi, Corradi, Foce und Pedemonte herausgegebene Essayband zur Geschichte der Mechanik (Bild 1-7) [Becchi et al., 2003]

    – der von Becchi, Corradi, Foce und Pedemonte herausgegebene Sammelband zum Stand der Bautechnikgeschichte Construction History. Research Perspectives in Europe [Becchi et al., 2004/2]

    – der von Becchi, Corradi und Foce besorgte Nachdruck des Hauptwerkes von Edoardo Benvenuto La scienza delle costruzioni e il suo sviluppo storico [Benvenuto, 2006]

    – sowie der von Anna Sinopoli herausgegebene Sammelband Mechanics and Architecture between Epistéme and Téchne [Sinopoli, 2010].

    Aus der Perspektive des Mathematikhistorikers untersucht Erhard Scholz in seiner Habilitationsschrift den Entwicklungsgang der graphischen Statik [Scholz, 1989]. Dieter Herbert analysiert in seiner Dissertation die Entstehung des Tensorkalküls von den Anfängen der Elastizitätstheorie bei Cauchy (1823 u. 1827) bis zur Verwendung in der Schalentheorie bei Green und Zerna [Herbert, 1991] am Ende der Konsolidierungsperiode der Baustatik. Einen tiefen Einblick in die Geschichte der Kontinuumsmechanik von ihren Anfängen im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts bis zur Jahrtausendwende bietet das zweibändige Werk von Gérard A. Maugin [Maugin, 2013 u. 2014].

    BILD 1-7 Buchumschlag des Essaybandes zur Geschichte der Mechanik [Becchi et al., 2003]

    In den letzten drei Jahrzehnten verzeichnet die Aufarbeitung der Geschichte der modernen Strukturmechanik durch Fachvertreter einen langsam sich beschleunigenden Aufschwung. Die Entwicklung moderner numerischer Ingenieurmethoden war Gegenstand einer vom 13. bis 15. Mai 1987 in Princeton durchgeführten Tagung der Association for Computing Machinery (ACM) [Crane, 1987]. Einen guten Einblick in die zweite Hälfte der Konsolidierungsperiode und der sich anschließenden Integrationsperiode der Baustatik (1950 bis heute) bietet Ekkehard Ramm [Ramm, 2000]. Letzterer betreute als Ordinarius des Instituts für Baustatik der Universität Stuttgart die Dissertationen von Bertram Maurer über Karl Culmann und die graphische Statik [Maurer, 1998] und Martin Trautz über die Entwicklung von Form und Struktur historischer Gewölbe aus der Sicht der Statik [Trautz, 1998]. Nach jahrelangen Forschungen über den Zusammenhang zwischen Tragstrukturentwicklung im Eisenbau und statischem Rechnen konnte Ines Prokop ihre Dissertation über Eiserne Tragwerke in Berlin. 1850–1925 an der Universität der Künste Berlin 2011 abschließen und als Buch publizieren (Bild 1-8).

    BILD 1-8 Cover des Buches Vom Eisenbau zum Stahlbau [Prokop, 2012]

    Die von der sowjetischen Historiografie der Mechanik gepflegte Tradition der Biographik setzte insbesondere Malinin mit seinem Buch Kto jest' kto v soprotivlenii materialov (Who is Who in der Festigkeitslehre) [Malinin, 2000] – hierbei ist auch Grigolyuks Edition S. P. Timoshenko: Zhizn’ i sud'ba (S. P. Timoshenko: Leben und Schicksal) [Grigolyuk, 2002] hervorhebenswert.

    Zur Geschichte der Deformationsmethode liegen Publikationen von Samuelsson und Zienkiewicz [Samuelsson u. Zienkiewicz, 2006] sowie von Kurrer [Kurrer, 2003] vor. Carlos A. Felippa beschäftigt sich mit der Entwicklung der Matrizenmethoden der Strukturmechanik [Felippa, 2001] und der Theorie des schubweichen Balkens [Felippa, 2005]. Die Pioniere der Finite-Elemente-Methoden (FEM) Zienkiewicz [Zienkiewicz, 1995 u. 2004] und Clough [Clough, 2004] dagegen konzentrieren sich auf die Beschreibung der Geschichte der FEM. Notwendig wäre eine zusammenfassende Darstellung der Entwicklungsgeschichte der modernen Strukturmechanik. Erst dann könnte die Historiografie der Baustatik einen Beitrag zu einer noch zu entwickelnden Historischen Technikwissenschaft im Allgemeinen und Historischen Baustatik im Besonderen leisten.

    1.2 Ingenieurpraktische Aufgaben

    Jedes Bauwerk bewegt sich in Raum und Zeit. Die Frage nach den Ursachen dieser Bewegung ist die Frage nach der Geschichte des Bauwerks, nach seiner Entstehungsgeschichte, Nutzungsgeschichte und Naturgeschichte. Während die erste Dimension der Geschichtlichkeit von Bauwerken im Planungs- und Bauprozess besteht, erstreckt sich die zweite Dimension auf die Geschichte des Bauwerks und seiner Wechselwirkung mit der Umwelt. Die Geschichtlichkeit des Wissens um Bauwerke und ihrer Theorie sowie ihr Einfluss auf die Geschichte des Bauwerks bilden die dritte Dimension der Geschichtlichkeit von Bauwerken. Real konstituieren die Entstehungsgeschichte, Nutzungsgeschichte und Naturgeschichte des Bauwerks eine Einheit. Gleichwohl wird die Geschichtlichkeit von Bauwerken noch immer in ihre drei Dimensionen zerlegt: Während sie bei Neubauten in der ersten Dimension gewöhnlich zu Terminplänen der Beteiligten parametrisiert wird, ist die Erfassung der zweiten Dimension ein Gegenstand der Baugeschichte, Denkmalpflege und Bauforschung und der sich formierenden Bautechnik- und Konstruktionsgeschichte. An der Erschließung der dritten Dimension wesentlich mitzuwirken wäre eine Aufgabe der Historiografie der Baustatik, etwa durch Aufbereitung, Anpassung und Neuinterpretation historischer Gewölbetheorien. Die Produktivkraft der Historiografie der Baustatik bei der statischen Beurteilung historischer Tragwerke versteht Stefan M. Holzer mit seinem zweibändigen Werk [Holzer, 2013 u. 2015] auf vorbildliche Weise zu nutzen (Bild 1-9).

    Gleichwohl bleibt die ingenieurpraktische Aufgabe der Historiografie der Baustatik nicht auf den Bereich des expandierenden Bauens im historischen Bestand beschränkt. Das von ihr erarbeitete Wissen könnte zum Funktionselement des modernen Bauprozesses avancieren, da ihm die Einheit der Dreidimensionalität der Geschichtlichkeit von Bauwerken als Antizipation elementar eingeschrieben ist: Denn die technikwissenschaftliche Theoriebildung und Versuchsforschung, der Entwurf, die Berechnung und Konstruktion sowie die Fertigung, Montage und Nutzung können nicht mehr von der Umnutzung, der Bestandssicherung und Erhaltung getrennt werden. Die Aufgabe der Historiografie der Baustatik bestünde nicht nur darin, den Planungsprozess durch Anregungen aus ihrem historischen Wissensfond zu speisen, sondern auch ihre Erfahrungen aus dem Bereich des Bauens im historischen Bestand in den modernen Bauprozess einzubringen. In diesem Sinne könnte die Historiografie der Baustatik zu einer Produktivkraft der Ingenieurarbeit weiterentwickelt werden.

    BILD 1-9 Cover des Buches Statische Beurteilung historischer Tragwerke – Mauerwerkskonstruktionen [Holzer, 2013]

    Entwerfen Bauingenieure ein Gebäude, müssen sie, schon vor Beginn des Konstruktionsprozesses, die Sicherheit haben, dass es – genau wie vorgesehen und vorgeplant – funktionieren wird. Wie dies heute der Fall ist, traf es ebenso zu für Bauingenieure in römischer Zeit, im Mittelalter, in der Renaissance und im 19. Jahrhundert. Was sich geändert hat, sind lediglich die Methoden, mit denen Ingenieure zu dieser Sicherheit gelangen. So entwirft Bill Addis eine Geschichte des Bauingenieurwesens, in deren Zentrum die Entwicklung der Entwurfsmethodiken für Gebäude steht (Bild 1-10).

    BILD 1-10 Titelblatt des Buches von Bill Addis Building: 3000 Years of Design Engineering and Construction [Addis, 2007]

    Unter anderem geht er auf die Entwicklung graphischer und numerischer Methoden sowie auf Modelle zur Analyse physikalischer Phänomene ein, stellt aber auch dar, welcher Methoden sich Ingenieure bedienen, um ihre Entwürfe mitzuteilen. Dies illustriert Bill Addis an Beispielen der Tragwerksplanung, Gebäudetechnik, Akustik und Lichttechnik aus 3000 Jahren Bautechnikgeschichte. Somit dient ihm das von der Historiografie der Baustatik erarbeitete Wissen als einer der Eckpfeiler seiner Entwick-lungsgeschichte der Entwurfsmethoden des Hochbauingenieurs.

    Einen objektorientierten Ansatz verfolgt Roberto Gargiani mit der Edition des Aufsatzbandes über die Stütze (Bild 1-11), deren Wesen und Erscheinung aus der Perspektive der Bau- und Kunstgeschichte, der Bautechnikgeschichte, der Wissenschaftsgeschichte und der Geschichte der Baustatik dargestellt wird. In einem zweiten Band werden von zahlreichen Autoren historische Balken- und Deckensysteme im Einzelnen konstruktions- und wissenschaftshistorisch analysiert [Gargiani, 2012]. In beiden Bänden tritt die disziplinäre Offenheit der Historiografie der Baustatik besonders deutlich zu Tage.

    1.3 Didaktische Aufgaben

    Durch die Arbeit der seit 1893 bestehenden American Society for Engineering Education (ASEE) erfuhren Fragen der Ingenieurerziehung in den USA eine Professionalisierung, die zur Herausbildung der Ingenieurpädagogik als Subdisziplin der pädagogischen Wissenschaften führte. Im vierteljährlich erscheinenden Journal of Engineering Education, dem Organ der ASEE, berichten Wissenschaftler und Praktiker fortlaufend über Fortschritte und Diskussionen im Bereich der Ingenieurpädagogik. So druckte die Zeitschrift den berühmten Grinter Report [Grinter, 1955] nach [Harris et al., 1994, S. 74–94], der als Klassiker der Ingenieurpädagogik bezeichnet werden kann und in dem gefordert wird, dass die künftigen Ingenieure 20 % ihrer Studienleistung in sozial- und humanwissenschaftlichen Fächern, wie z. B. der Geschichte, erbringen sollen [Harris et al., 1994, S. 82]. Vor L. E. Grinter trug mit G. F. Swain ein anderer prominenter Bauingenieurprofessor zur Debatte um die Ingenieurerziehung bei. In seinem Buch The Young Man and Civil Engineering (Bild 1-12) verband Swain die Ingenieurerziehung mit der Geschichte des Bauingenieurwesens in den USA [Swain, 1922].

    BILD 1-11 Buchumschlag des Aufsatzbandes Nouvelle Histoire de la Construction. La Colonne [Gargiani, 2007]

    Gleichwohl erfahren Studenten technikwissenschaftlicher Fachrichtungen noch immer die Gliederung ihres Studiums in Grundstudium, Grundfachstudium und Vertiefungsstudium als Trennung der Grundlagenfächer von den technikwissenschaftlichen Spezialdisziplinen, die oft nur in Form von Anwendungen solcher Fächer wie Mathematik und Mechanik präsentiert werden. Selbst die für viele technikwissenschaftliche Fachrichtungen im Grundstudium obligatorische Technische Mechanik begreifen viele Studenten als umfangreiche Sammlung eherner Sätze, die sich illustrativ an idealen technischen Objekten abarbeiten. In engem Zusammenhang damit steht die Parzellierung der Technikwissenschaften im Vertiefungsstudium; sie werden nicht etwa als durch spezifische innere Zusammenhänge konstituiertes Wissenschaftssystem erlernt, sondern als amorphe Ansammlung voneinander unabhängiger Spezialdisziplinen, die nur einen schmalen Bereich technischer Objekte zum Gegenstand haben. So erscheint der integrative Charakter der Technikwissenschaften in Gestalt der additiven Zusammensetzung verschiedenster einzelwissenschaftlicher Erkenntnisse mit der Folge, dass die technikwissenschaftlichen Grundlagendisziplinen von den Studenten überwiegend rezepturförmig erlernt werden.

    BILD 1-12 Buchumschlag von Swains The Young Man and Civil Engineering [Swain, 1922]

    Aufgabe der Historiografie der Baustatik ist es, an der Aufhebung der rezepturförmigen Aneignung der Baustatik durch die Studenten mitzuwirken. Dabei stellt die Trennung der Statiklehre in die Baustatik für Bauingenieure und Tragwerkslehre für Architekten eine Herausforderung dar, zu deren Überwindung Stefan Polónyi Pionierarbeit leistete. In einem Aufsatz über den Tragwerksingenieur und seine Wissenschaft [Polónyi, 1982] kritisierte er das deduktive Selbstverständnis der Baustatik und entfaltete die Grundrisse einer induktiven Tragwerkslehre [Kurrer, 2014/1] mit der historisch-logischen Methode. Von Polónyis Arbeit angeregt, entwickelte Rolf Gerhardt Vorschläge für eine Didaktisierung der Tragwerklehre durch Historisierung und Modellversuche [Gerhardt, 1989]. Mit der Historisierung des Statiklehrstoffes im Projektstudium in Gestalt einer historisch-genetischen Statiklehre könnten die baustatischen Verfahren als logisch-historisches Entwicklungsprodukt begriffen, erfahrbar, veranschaulicht und damit populärer werden. Ein erstes Konzept hierzu stellte der Autor vor [Kurrer, 1998/3 u. 1999/2], das er später in der 1. Auflage dieses Buches ausdifferenzierte (S. 455–459) und sodann in den neugeschaffenen Rahmen der Historischen Technikwissenschaften integrierte [Kurrer, 2012, S. 57–59]. Im Wintersemester 2013/14 inaugurierte der Inhaber des Lehrstuhls für Bautechnikgeschichte und Tragwerkserhaltung der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus, Werner Lorenz, die Lehrveranstaltung Geschichte der Baustatik, welche in seminaristischer Form für Studierende des Bauingenieurwesens (Bachelor) im fünften Semester durchgeführt wird. Dabei formuliert Werner Lorenz drei Lernziele :

    – Vertieftes Verständnis baustatischer Methoden durch Analyse ihrer sukzessiven historischen Formulierung

    – Historisch-genealogischer Zugang als Ergänzung zur systematischdeduktiven Ableitung in der Baustatik-Grundlehre

    – Grundkenntnisse zur geschichtlichen Entwicklung von Statik und Festigkeitslehre.

    Mit dieser Innovation der Statiklehre im Bauingenieurstudium vollzog Werner Lorenz einen entscheidenden Schritt hin zu ihrer Didaktisierung durch Historisierung. So könnte die Historiografie der Baustatik zur wichtigen Wissensbasis einer sich herausbildenden historisch-genetischen Lehrmethode für die Baubeflissenen werden. Im Rahmen der Historischen Baustatik werden hierzu in Abschn. 14.2.3 Vorschläge entwickelt.

    1.4 Kulturelle Aufgaben

    Es gibt eine Elementarform der gesellschaftlichen Verantwortung des Wissenschaftlers: die Demokratisierung wissenschaftlichen Wissens durch Popularisierung; sie ist Rechenschaftslegung des Wissenschaftlers über seine Arbeit, welche die gesamte Gesellschaft erst ermöglicht. Populärwissenschaftliche Darstellungen haben nicht nur die Aufgabe, in Reflektion auf den gesellschaftlichen Kontext wissenschaftlichen Arbeitens das dadurch entstandene wissenschaftliche Wissen einem Leserkreis jenseits disziplinärer Grenzen nahezubringen, sondern den gesellschaftlichen Diskurs über Weg und Ziel der Wissenschaften anzuregen. Somit besitzt auch die Historiografie der Baustatik kulturellen Eigenwert. Die Schriftstellerin Christine Lehmann publizierte mit ihrem Partner, dem Mathematiklehrer Bertram Maurer, auf dessen Dissertation [Maurer, 1998] fußend, eine Biografie über Karl Culmann (Bild 1-13), wo Forschungsresultate der Historiografie der Baustatik in erzählerischer Weise und schöner literarischer Gestalt dem Laien verständlich nahegebracht werden.

    BILD 1-13 Cover der Biografie über Culmann [Lehmann u. Maurer, 2006]

    Die Einzelwissenschaften der Physik, Biologie und selbst der Chemie überschreiten immer wieder den Rubikon jenseits ihrer Wissenschaftlergemeinschaft. Dies mag an ihrer Rolle als Konstituenten von Weltbildern und der engen Verbundenheit mit der Philosophie und Geschichte liegen. Gleiches gilt nicht für die Technikwissenschaften; selbst technikwissenschaftlichen Grundlagendisziplinen fällt es schwer, ihr disziplinäres Anliegen gesellschaftlich zu deuten. Die Fragmentierung der Technikwissenschaften erschwert die Erkenntnis ihres objektiven Zusammenhangs, ihrer Stellung und Funktion im Ensemble des Wissenschaftssystems und damit ihres Verhältnisses als Gesamtheit zur sie hervorbringenden und sie umgebenden Gesellschaft. Wohl deshalb plädierte der emeritierte Professor für Baustatik Heinz Duddeck in Reden, Aufsätzen und Zeitungsbeiträgen für einen Paradigmenwechsel in den Technikwissenschaften, der im Kern auf eine Verschmelzung der Technik- mit den Humanwissenschaften hinauslaufen würde [Duddeck, 1996]. Da die Historiografie der Baustatik eine disziplinäre Einheit der Baustatik und Technischen Mechanik mit Erkenntnissen der Humanwissenschaften (Philosophie, Allgemeine Geschichte, Soziologie, Wissenschafts-, Technik- und Wirtschaftsgeschichte sowie Konstruktionsgeschichte) bildet, ist sie Element jener Verschmelzung. So kann sie auch ihren Beitrag zur Überwindung der Sprachlosigkeit der Ingenieure [Duddeck, 1999] leisten.

    1.5 Ziele

    Das Ziel der Historiografie der Baustatik besteht deshalb darin, die genannten, wissenschaftsinternen, ingenieurpraktischen, didaktischen und kulturellen Aufgaben zu lösen. Vorliegendes Buch, das aus didaktischer, wissenschaftstheoretischer, wissenschaftshistorischer, bautechnikhistorischer, ästhetischer, biographischer und bibliographischer Perspektive geschrieben ist (Bild 1-14), möchte hierzu einen Beitrag leisten.

    1.6 Einladung zur Suche nach dem Gleichgewicht von Tragwerken in Zeitreisen

    In Franz Kafkas 1915 veröffentlichter Türhüterlegende Vor dem Gesetz (s. z. B. [Kafka, 1970, S. 148–149]) sucht Josef K. vergeblich, Eintritt in das Gesetz über die von einem Türhüter bewachte Tür zu erlangen. Kafkas Protagonist Josef K. könnte ebenso Bauingenieurwesen oder Architektur, studiert haben, dem die Aneignung der Grundlagen der Baustatik gehörig vergällt wurde: Wird doch die Baustatik oft in Gestalt eherner Gesetze vermittelt, ohne Bezug zum Bauen.

    BILD 1-14 Sieben Türen zur Erkenntnis der Geschichte der Baustatik

    Sehr geehrte Leserinnen und Leser! Es gibt die Türen, um die Gesetze der Baustatik freudig zu erkennen (Bild 1-14). Sie wählen, welcher phantasmagorische Türhüter für Sie am einfachsten überwindbar wäre – aber ich sage Ihnen: die Türhüter existieren nicht. Bitte drücken Sie die Klinke einer beliebigen Tür, passieren Sie und lassen Sie sich überraschen, in welcher Gestalt Ihnen die Baustatik erscheint. Sollte Ihre Neugier Sie alle sieben Türen passieren lassen, dann eröffnet sich Ihnen die Herkunft und Zukunft der Baustatik auf ihren Haupt- und Nebenwegen wie in einem Panorama.

    In diesem Sinne möchte ich Sie, liebe Leserinnen und Leser, zur Suche nach dem Gleichgewicht von Tragwerken auf Zeitreisen einladen: Erfahren Sie das Jeweilige und machen es zum Ihrigen und verschenken Sie es.

    Kapitel 2

    Lernen aus der Geschichte: Zwölf Einführungsvorträge in die Baustatik

    Eine der wichtigsten Lehr- und Lernerfahrungen des Autors als Tutor von 1977 bis 1981 am von Professor Gebhard Hees (1926–2009) geleiteten Fachgebiet Statik der Baukonstruktionen der TU Berlin bestand darin, die Grundlehren der Baustatik historisch aufzufassen. Mit der Reise in die Vergangenheit der Baustatik begann eine Zeit jahrelangen Suchens, das sich erst später zu einem Bild formen sollte. In handgeschriebenen Einführungsvorträgen zur Geschichte der jeweiligen baustatischen Verfahren sollten die Kommilitonen begreifen, dass auch die Baustatik Entwicklungsprodukt des gesellschaftshistorischen Lebensprozesses ist, an dem sie selbst teilhaben und den sie in letzter Instanz mitgestalten. Ziel war es, eine tiefer begründete Motivation und Freude am Erlernen der Baustatik zu erzeugen. Es sollte die rezepturförmige Aneignung des Lehrstoffes überwunden werden: Didaktisierung der Grundlehren der Baustatik durch Historisierung. Die aus dem heutigen Stand der Kenntnis bearbeiteten Einführungsvorträge wurden um drei weitere ergänzt. Dabei sei der neue Abschnitt 2.4 über Erddruck hervorgehoben, der aufzeigen soll, dass dieser Gegenstandsbereich noch am Ende der Konsolidierungsperiode der Geotechnik (1950–1975) zum Curriculum der Baustatik gehörte. Die Einführungsvorträge mögen der Leserin und dem Leser einen einfachen Zugang zur Geschichte der Baustatik verschaffen.

    Es lässt sich wohl behaupten, daß die Geschichte der Wissenschaft die Wissenschaft selbst sei. Man kann dasjenige, was man besitzt, nicht rein erkennen, bis man das, was andere vor uns besessen zu erkennen weiß [Goethe, 1808, Vorwort]. Diese Sätze Johann Wolfgang von Goethes (1749–1832) aus dem Vorwort seiner Farbenlehre treffen auch auf die Technikwissenschaften zu, die das Licht der Welt in jener Zeit erblickten, als Goethe für immer die Augen schloss. Da die Baustatik eine technikwissenschaftliche Grundlagendisziplin ist, gilt der Satz: Die Geschichte der Baustatik ist die Baustatik selbst. Auf pädagogischer Ebene bedeutet Lernen aus der Geschichte der Baustatik im Historischen das Logische der Baustatik entdecken, also: Prinzipien, Sätze, Verfahren und Begriffe der Baustatik als Bildungsprozess im wörtlichen Sinn begreifen.

    Das Ziel der folgenden Abschnitte ist es, den Leser mit historischen Elementarformen der Baustatik in Berührung zu bringen. Durch diese Schule der taktilen Erschließung exemplarischer Bildungsprozesse der Baustatik, die mental an den heute üblichen Grundkurs der Statiklehre an den Hochschulen anknüpft, wird die Aneignung der disziplinären Entfaltung der Baustatik im Sinne der Geschichte der Wissenschaft möglich: Dann erst ist dasjenige, was die Baustatiker heute besitzen, rein erkennbar.

    2.1 Was ist Baustatik?

    Um diese Frage in historischer Dimension zu beantworten, wird im ersten Schritt eine Periodisierung der Baustatik mit Binnengliederung in Phasen vorgestellt, die von der Disziplingenese als definiter historischer Prozeß [Guntau u. Laitko, 1987, S. 49ff] ausgeht und eine stadiale Gliederung der Disziplingenese [Guntau u. Laitko, 1987, S. 55ff] ermöglicht. Daran schließen sich in einem zweiten Schritt ausgewählte und kommentierte Zitate aus den jeweiligen Entwicklungsphasen der Baustatik an. Die Zitate und Kommentare sollen nicht nur die Merkmale der einzelnen Entwicklungsphasen veranschaulichen, sondern die historische Bewegung des Begriffs der Baustatik im großen Ganzen konkret aufweisen.

    2.1.1 Vorbereitungsperiode (1575–1825)

    Diese über ca. 250 Jahre sich erstreckende Periode ist durch unmittelbare Anwendung der frühneuzeitlichen Mathematik und Mechanik auf einfache Tragstrukturelemente von Bauwerken charakterisiert. Im Verhältnis von Empirie und Theorie herrscht beim Bauwerksentwurf die Empirie vor; die Theorie verwirklicht sich vornehmlich in Form geometrischer Entwurfs- und Bemessungsregeln. Erst im Übergang zur Disziplinbildungs-periode der Baustatik, der Initialphase (1775–1825), wird die statische Analyse von Bauwerken als eigenständiges Wissen begriffen.

    2.1.1.1 Orientierungsphase (1575–1700)

    Generell ist diese Periode dadurch gekennzeichnet, dass die frühneuzeitlichen Wissenschaften (Mathematik und Mechanik) das Bauen entdecken. Die theoretische Grundlage des Entwerfens von Bauwerken wird noch von der Geometrie beherrscht. Gleichwohl treten in der Mitte der Orientierungsphase mit Galileis Discorsi e dimostrazioni matematiche intorno a due nuove scienze (1638) Elemente der Festigkeitslehre in Gestalt der ersten Balkentheorie auf den Plan, an die Honoré Fabri (1607–1688), Nicolas Titelblatt von Stevins De Beghinselen des Waterwichts (1586) mit dessen Gedankenexperiment über Gleichgewicht der geschlossenen, gleichgliedrigen Kette auf der schiefen Ebene in der Titelvignette François Blondel (1618–1686), Alessandro Marchetti (1633–1714) und Luigi Guido Grandi (1671–1742) unmittelbar anknüpften. Den nächsten Schritt vollzog Robert Hooke (1635–1703) 1660 mit der Entdeckung des später nach ihm benannten Elastizitätsgesetzes, das Christiaan Huygens (1629–1695) bestätigte. Obwohl schon Simon Stevin (1548–1620) mit seinen 1586 publizierten Hauptwerken De Beghinselen des Waterwichts (Bild 2-1) und De Beghinselen der Weeghconst sowohl in der Hydrostatik als auch in der Statik Fortschritte erzielte, finden seine Einsichten zum Prinzip des Kräfteparallelogramms in der Bautechnik erst im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts ihre Anwendung. Die Hegemonie der Geometrie sowie die getrennte Entwicklung von Statik, Festigkeits- und Elastizitätslehre erlaubte nur vereinzelt die Analyse von Tragstrukturelementen.

    BILD 2-1 Titelblatt von Stevins De Beghinselen des Waterwichts (1586) mit dessen Gedankenexperiment über Gleichgewicht der geschlossenen, gleichgliedrigen Kette auf der schiefen Ebene in der Titelvignette

    Sagredo: Während wir, Herr Simplicio und ich, Euch erwarteten, versuchten wir unsere letzten Discussionen uns ins Gedächtnis zurück zurufen und namentlich jene Sätze, die uns dazu dienen sollten, den Widerstand zu erklären, den alle festen Körper gegen ein Zerbrechen derselben ausüben; der Widerstand wurde einem Bindemittel zugeschrieben, welches die Teile zusammenhält, so daß sie nur einer beträchtlichen Kraft weichen und sich von einander trennen. Wir hatten uns gefragt, was das Wesen solcher Kohärenz (= Kohäsion – d. Verf.) sein könne (…); hierdurch entstanden die vielen Abschweifungen, die uns den übrigen Tag beschäftigten, und weit ablenkten von der ursprünglich gestellten Aufgabe, die Bruchfestigkeit aufzuklären.

    Salviati: Kehren wir denn zum Ausgangspunkt zurück: Worin nun auch die Bruchfestigkeit bestehen mag, jedenfalls ist sie vorhanden und zwar sehr beträchtlich als Widerstand gegen Zug (= Zugfestigkeit – d. Verf.), geringer bei einer transversalen Verbiegung (= Biegefestigkeit – d. Verf.) (…). Von dieser letztern Art Widerstand wollen wir sprechen und feststellen, in welchen Beziehungen sie steht in ähnlichen und unähnlichen Prismen und Zylindern, die je nach Länge und Dicke variieren, bei gleichem Stoff. Als bekannt setze ich den Satz vom Hebel voraus (…) [Galilei, 1638/1964, S. 93–94].

    Kommentar: Galilei organisiert seine Discorsi als Gespräch zwischen seinen Freunden Francesco Sagredo (1571–1620), Senator der Republik Venedig und Filipo Salviati (1582–1614), einem reichen Florentiner und im wirklichen Leben Schüler Galileis sowie dem beschränkten Simplicio, einer Kunstfigur, die überholte aristotelische Lehrmeinungen vertritt. Am zweiten Tag des Gespräches entwickelte Galilei die Grundlagen einer neuen Wissenschaft – der Festigkeitslehre; an der Struktur der Balkentheorie als Kern der Festigkeitslehre orientierten sich Beiträge zur Tragstrukturanalyse in der Vorbereitungsperiode. Erst Navier brach in Gestalt seiner Technischen Biegetheorie radikal mit der Galilei-Tradition.

    2.1.1.2 Applikationsphase (1700–1775)

    Die um 1700 neuentstandene Infinitesimalrechnung drängte im 18. Jahrhundert nach Anwendungen in der Astronomie, der Theoretischen Mechanik, der Geodäsie und in der Bautechnik. So trieben Mathematiker und Naturforscher wie etwa Gottfried Wilhelm von Leibniz (1646–1716), die Bernoullis und Leonhard Euler (1707–1783) die Theorie des Balkens und der elastischen Linie voran. In Frankreich entwickelten sich aus den Genie-Korps in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die ersten Ingenieurschulen, deren wissenschaftliches Selbstverständnis auf der Anwendung der Infinitesimalrechnung auf die technische Objektwelt beruhte: Dies sollte sich bis zu Beginn der Konsolidierungsperiode der Baustatik um 1900 nicht wesentlich ändern. So veröffentlichte schon 1729 Bernard Forest de Bélidors (1697–1761) sein Buch La Science des Ingénieurs dans la conduite des Travaux de Fortification et d’Architecture civile (Bild 2-2), das sich in wesentlichen Teilen auf die Infinitesimalrechnung abstützte; ausführlich behandelte Bélidor den Erddruck, das Gewölbe und den Balken: Die Algebra und Analysis bemächtigten sich der Objektwelt der Baubeflissenen im Ingenieurbau in Form von Anwendungen. In der Bauentwurfspraxis herrschten dagegen noch immer geometrische Methoden vor, die aber zunehmend eine statische Deutung erfuhren.

    So groß und wichtig aber der Vortheil war, den die Wissenschaften durch die Mathematische Methode erhalten, eben so groß ist auch der Nutze gewesen, den die mathematische Wahrheiten denen Künstlern erwiesen (…); wir wollen nur der Civil- und Militär-Bau-Kunst (= Bauingenieurwesen – d. Verf.), als solcher Künste gegenwärtig erwehnen, die unserer Absicht näher verwandt sind, und mit wenigen zeigen, was vor Ehre die öfters genannte Mathematik in dieser herrlichen Kunst bereits eingeleget, und künftighin, wie wir hoffen, noch einlegen werde [Bélidor, 1729/1757, Vorrede d. Übersetzers].

    BILD 2-2 Titelblatt von Bélidors La Science des Ingénieurs (1729)

    Kommentar: Der Übersetzer von Bélidors La Science des Ingénieurs begreift Mathematik als unmittelbare Anwendung auf bautechnische Probleme. Ihre Legitimationsfunktion speist die Mathematik aus dem Nutzen, den sie für die nützlichen Künste des werdenden Bauingenieurs stiftet. So erscheint die Mathematik selbst als nützliche Kunst.

    2.1.1.3 Initialphase (1775–1825)

    Mit Charles Augustin de Coulombs (1736–1806) 1773 der Akademie der Wissenschaften zu Paris vorgelegten und 1776 publizierten Memoire Essai sur une Application des Règles de Maximis & Minimis à quelques Problèmes de Statique, relatifs à l’Architecture (Bild 2-3) findet die Behandlung der Balken-, Gewölbe- und Erdrucktheorie durch die Infinitesimalrechnung erstmals eine zusammenhängende Darstellung. Wie kein anderer vor ihm führte er die Extremwertberechnung der Differentialrechnung mit der empirischen Forschung zusammen und methodisierte damit das baustatische Wissen: In Coulombs Memoire findet nicht nur die Applikationsphase ihren konzentrierten Ausdruck, sondern die Baustatik zu ihrem wissenschaftlichen Gegenstand. Auch Ingenieure wie Franz Joseph Ritter von Gerstner (1756–1832) und Johann Albert Eytelwein (1764–1849) betonten deren Eigenständigkeit als Statische Baukunst [Gerstner, 1789] und Statik fester Körper [Eytelwein, 1808]. Gleichwohl verfügte dieses Wissensgebiet noch nicht über eine zusammenfassende und theoretische Konzeption in Gestalt einer Fundamentaltheorie.

    Unter denjenigen Theilen der angewandten Mathematik, welche für den Baumeister als Hülfswissenschaft unentbehrlich sind behauptet die Statik der festen Körper den ersten Rang. (…) Es war nicht möglich, die sämmtlichen Lehren der Statik, so weit sie in der Architektur erfordert werden, ohne höhere Analysis vorzutragen (…) [Eytelwein, 1808, S. III–IV].

    BILD 2-3 Erste Seite von Coulombs Memoire über Baustatik, das dieser am 10. 3. 1773 und 2. 4. 1773 der Akademie verlas

    Kommentar: Die Statik fester Körper wird als eigenständiges Wissensgebiet des Baumeisters verstanden. Im Gegensatz zur Applikationsphase ist die Statik fester Körper nur mittelbar angewandte Mathematik. Die Infinitesimalrechnung avancierte zum integralen Bestandteil der nach 1800 sich konstituierenden höheren technischen Bildung.

    2.1.2 Disziplinbildungsperiode (1825–1900)

    Die in der Vorbereitungsperiode akkumulierten Einzelerkenntnisse werden in der Disziplinbildungsperiode der Baustatik durch die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Frankreich sich herausbildenden Elastizitätstheorie integriert. Vom Dreisprung der Disziplinbildungsperiode schaffte Louis Henri Navier (1785–1836) mit der Formulierung des Programmes der Baustatik und dessen partieller Verwirklichung durch die Technische Biegetheorie in seinen Résumé des Leçons données à l’Ecole Royale des Ponts et Chaussées sur l'Application de la Mécanique à l’Etablissement des Constructions et des Machines (1826) den größten Sprung. Den zweiten Sprung vollzog Karl Culmann (1821–1881) mit dem Ausbau seiner Fachwerktheorie (1851) zur graphischen Statik (1864/1866) als einem Versuch, die Baustatik mathematisch durch die Projektive Geometrie zu legitimieren. Der dritte Sprung schließlich bestand in der konsequenten Aneignung von Elementen der Elastizitätstheorie zur Konstruktion der linear-elastischen Theorie der Stabwerke durch James Clerk Maxwell (1831–1879), Emil Winkler (1835–1888), Otto Mohr (1835–1918), Alberto Castigliano (1847–1884), Heinrich Müller-Breslau (1851–1925) und Viktor Lvovich Kirpichev (1845–1913). Mit seinem Kraftgrößenverfahren – einem allgemeinen Verfahren zur Berechnung statisch unbestimmter Stabwerke – vollendete Müller-Breslau die Disziplinbildungsperiode der Baustatik.

    2.1.2.1 Konstituierungsphase (1825–1850)

    Die von Navier geschaffene Technische Biegetheorie [Navier, 1826 u. 1833] bildete in der Konstituierungsphase den Kristallisationskern der Baustatik (Bild 2-4). In ihr spiegelt sich das Selbstverständnis dieser technikwissenschaftlichen Grundlagendisziplin wider. Mit der Technischen Biegetheorie analysierte Navier zahlreiche Holz- und Eisenkonstruktionen, indem er sie statisch modellierte und die linearisierte Differentialgleichung der Krümmung der Biegelinie unter Berücksichtigung der Rand- und Übergangsbedingungen des gebogenen Stabes integrierte. So wurde die Technische Biegetheorie zur Referenztheorie der Baustatik. In Deutschland ist es Moritz Rühlmann (1811–1896), der Naviers Werk umfassend rezipiert und 1851 die erste Übersetzung unter dem Titel Mechanik der Baukunst [Navier, 1833/1878] veranlasst.

    Die meisten Constructeure bestimmen die Dimensionen der Theile von Bauwerken oder Maschinen nach dem herrschenden Gebrauche und nach dem Muster ausgeführter Werke, sie legen sich selten Rechenschaft ab über den Widerstand, welchen sie demselben entgegensetzen. Dies mag wenig Nachtheile haben, so lange die auszuführenden Werke denen analog sind, welche man zu jener Zeit errichtet hat, und sie, was die Dimensionen und die Belastungen anbetrifft, innerhalb der gewöhnlichen Grenzen bleiben. Aber man kann nicht mehr auf dieselbe Weise verfahren, wenn die Umstände dazu nöthigen, jene Grenzen zu überschreiten, oder, wenn es sich um Bauwerke ganz neuer Art handelt, über welche die Erfahrung noch keine Erfahrung gesammelt hat [Navier, 1833/1878, S. IX–X].

    BILD 2-4 Titelblatt der 2. Auflage von Naviers Résumé des Leçons (1833)

    Die Ingenieure verfolgen, wenn sie die Entwürfe zu den von ihnen geleiteten Arbeiten machen, gewöhnlich einen Weg, wie den, welchen man in der Mathematik die Methode der Regula falsi nennt; d. h. nachdem das Project eines Werkes entworfen und aufgezeichnet ist, untersuchen sie, ob sie allen Bedingungen genügt haben, und verbessern ihren Entwurf so lange, bis dies geschehen ist. Unter diesen Bedingungen ist die Oekonomie eine der wesentlichsten; die Solidität und die Dauerhaftigkeit sind nicht weniger wichtig. Mit Hülfe der Regeln, die in diesem Werke entwickelt sind, wird man in allen Fällen die Grenzen bestimmen können, die man nicht überschreiten darf, ohne das Bauwerk einem Mangel an Solidität auszusetzen. Man darf indess nicht folgern, dass man aus Rücksichten der Oekonomie stets diesen Grenzen nahe kommen müsste. Die Verschiedenheit, welche unter den Materialien herrscht, und auch andere Gründe treten dem entgegen; die Kunst besteht darin, dass man beurtheilt, bis zu welchem Punkte man sich der Grenze nähern darf [Navier, 1833/1878, S.XIII-XIV].

    Kommentar: In seinem Buch referiert Navier nicht nur Festigkeitsversuche, die verschiedene Wissenschaftler und Ingenieure im 18. Jahrhundert an gebräuchlichen Baustoffen durchgeführt haben; vielmehr synthetisiert er diese empirischen Daten – zusammen mit seinen eigenen – mit der Balkentheorie und der Theorie der elastischen Linie zur Technischen Biegetheorie. Nun ist der Bauingenieur in diesem Objektbereich der Technik nicht mehr auf die Tradierung konstruktiv-technischen Wissens allein angewiesen. Er kann das technische Objekt in einem entwurflichen Iterationsprozess auf der Basis einer technikwissenschaftlichen Theorie mit Federkiel, Papier, Rechenhilfsmitteln und Baustofftabellen baustatisch modellieren – mehr noch: er kann technische Objekte ideell vorwegnehmen und im Modell optimieren, um so wirtschaftliche Tragwerke zu konstruieren, die ihre Tragfunktionen erfüllen.

    2.1.2.2 Etablierungsphase (1850–1875)

    Mit der Etablierung des Eisenbrückenbaus nach 1850 etabliert sich in Kontinentaleuropa die Baustatik in Gestalt der Fachwerktheorie und später der graphischen Statik. Das explosive Wachstum der Eisenbahnstrecken treibt den Eisenbrückenbau an; dadurch gerät das Produktionsvolumen des mit dem Puddelverfahren erzeugten zugfesten Schmiedeeisens unter permanenten Nachfragedruck, der bis zur Einführung des Bessemerverfahrens nach 1870 eine Entlastung durch sparsamen Materialeinsatz sucht: So verbinden sich Eisenbrückenbau und Baustatik in der Etablierungsphase symbiotisch – darauf ging Culmann 1866 in seiner Graphischen Statik (Bild 2-5) ein.

    Der Zweck aller Stabilitätsuntersuchungen, aller Ermittelungen der an den einzelnen Constructionen wirkenden Kräfte ist: den beabsichtigten Bau mit einem Minimum von Material auszuführen. Es ist durchaus nicht schwierig, für jedes Brückensystem alle Dimensionen so zu greifen, dass sie sicher genügend sind, und es erfordert gar keine Anstrengung des Geistes, mit einem einzigen Satz über die Grenzen des Nothwendigen hinüber in das Ueberflüssige zu springen. Dies thut z. B. der englische Ingenieur beinahe bei jeder eisernen Brücke, die er entwirft; es charakterisirt gerade die englischen Bauten, dass sie wie gemästet aussehen und dass ihr Anblick selbst im Laien das Gefühl hervorruft: »das hält« (…). Allein was dem reichen Engländer ziemt, der überall das grosse, volle Bewusstsein mit sich herumträgt: »ich bin im Besitz des Eisens und brauche mich nicht mit der Statik zu plagen«, passt weniger für die armen Teufel des Continents; die müssen difteln und probiren, für jede zu bauende Bahn deren viele, viele abstecken und veranschlagen, um die billigste zu finden, und für jede zu bauende Brücke verschiedene Kräftepläne zeichnen, um ja kein Material zu vergeuden und nur das nothwendigste zu verwenden (…). Vom national-ökonomischen Standpunkt aus betrachtet schreitet aber der Amerikaner auf der richtigsten Bahn einher; er wendet nie mehr als das absolut Nothwendige auf, oder lieber noch etwas weniger; das Bauwerk könnte vielleicht doch halten. Das Gefühl der Unsicherheit, das dann bei Einzelnen entstehen kann, beruhigen diese bei Versicherungsgesellschaften verschiedener Art. Wie in Allem, so ist auch hier die Mittelstrasse die beste (…) [Culmann, 1866, S. 527 – 528].

    BILD 2-5 Titelblatt von Culmanns Graphische Statik (1866)

    Kommentar: Wie schon Navier sieht Culmann den Zweck der Baustatik im wirtschaftlichen Einsatz des Materials für Baukonstruktionen, der noch heute zum Selbstverständnis der Baustatik gehört. Seine Bemerkungen über die britischen und amerikanischen Ingenieure speisen sich aus seinen Reisen nach Großbritannien und Nordamerika, welche er 1849 bis 1850 im Auftrag der bayerischen Staatsbahnen unternommen hatte und über die er 1851 und 1852 seine berühmten Berichte publizierte. Dort entwickelte Culmann seine Theorie statisch bestimmter Fachwerke; nun erst können für jede zu bauende Brücke verschiedene Kräftepläne gezeichnet werden: Die Fachwerktheorie und graphische Statik entwickeln sich zur Inkarnation des Eisenbrückenbaus.

    2.1.2.3 Vollendungsphase (1875–1900)

    Die graphische Statik Culmanns erlebte in der Vollendungsphase eine ungeahnte Verbreitung. Für die Analyse statisch unbestimmter Systeme in der Ingenieurpraxis jedoch eignete sie sich weniger. Auf diesem Feld bildeten sich Die neueren Methoden der Festigkeitslehre und der Statik der Baukonstruktionen [Müller-Breslau, 1886] heraus, welche vom Prinzip der virtuellen Kräfte ausgingen und die Statik und Festigkeitslehre in Gestalt der Technischen Elastizitätstheorie zu einer allgemeinen Theorie der linear-elastischen Stabwerke – zur klassischen Baustatik – verschmolz. Den gesamten Wissenskorpus der klassischen Baustatik entfaltete Müller-Breslau in seinem mehrbändigen Werk Die Graphische Statik der Baukonstruktionen (Bild 2-6). 1903 gelang Kirpichev eine formvollendete und gedrängte Darstellung der Theorie statisch unbestimmter Systeme [Kirpichev, 1903].

    In dem vorliegenden Buche werden die von dem Gesetze der virtuellen Verschiebungen (gemeint ist das Prinzip der virtuellen Kräfte – d. Verf.) ausgehenden, hauptsächlich von Mohr, Castigliano und Fränkel begründeten Methoden der Festigkeitslehre im Zusammenhange vorgetragen. Die zur Erläuterung der allgemeinen Beziehungen zwischen den äusseren und inneren Kräften gewählten Aufgaben sind grösstenteils der Statik der Bauwerke und hier wiederum der Theorie der statisch unbestimmten Träger entlehnt worden; sie beziehen sich sowohl auf schwierigere als auch auf solche einfachere Fälle, die in anderer Weise ebenso kurz – und vielleicht noch kürzer – behandelt werden können, die aber mit aufgenommen wurden, weil die Gewinnung bekannter Ergebnisse auf neuen Wegen besonders geeignet sein dürfte, den Leser schnell mit den fraglichen Verfahren vertraut zu machen, wie denn überhaupt sämmtliche Aufgaben vornehmlich darauf hinzielen, die gegebenen Gesetze in möglichst lehrreicher Art zu erklären, nicht aber, die Theorie einer beschränkten Anzahl von Fällen bis ins Einzelne auszufeilen. Es sind deshalb die meisten Aufgaben über statisch unbestimmte Träger nur insoweit durchgeführt worden, bis die statische Unbestimmtheit gehoben war, da gerade die einheitliche Berechnung der an Elasticitätsgleichungen gebundenen äusseren und inneren Kräfte neben einer übersichtlichen Darstellung der Formänderungen das Feld bilden, auf welchem das Vorgetragene erfolgreich zu verwerten ist [Müller-Breslau, 1886, S. III].

    BILD 2-6 Titelblatt von Müller-Breslaus Graphische Statik der Baukonstruktionen. Band I (1887) mit Besitzvermerk

    Kommentar: Im Vorwort seines Buches Die neueren Methoden der Festigkeitslehre und der Statik der Baukonstruktionen formuliert Müller-Breslau den methodischen Anspruch der klassischen Baustatik: Nicht die Lösung von konkreten Aufgaben über statisch unbestimmte Systeme stünden im Mittelpunkt, sondern das aus dem Prinzip der virtuellen Kräfte abgeleitete Verfahren. Damit setzt Müller-Breslau die Idee des operativen Symbolgebrauchs auf einzelwissenschaftlicher Ebene in ihr Recht ein. Avancierte die Technische Biegetheorie Naviers zu Beginn der Disziplinbildungsperiode zum Modell der baustatischen Theoriebildung, so sollte die gesamte klassische Baustatik nach 1900 das Modell für andere technikwissenschaftliche Grundlagendisziplinen bilden.

    2.1.3 Konsolidierungsperiode (1900–1950)

    Eine wesentliche Ausweitung des wissenschaftlichen Gegenstandbereiches auf den gesicherten Grundlagen erfuhr die Baustatik in der Konsolidierungsperiode. Schon 1915 bildete sich aufgrund des expandierenden Stahlbetonbaus die Theorie der Rahmentragwerke und nach weiteren zwei Dezennien die Theorie der Flächentragwerke endgültig heraus. Dem Kraftgrößenverfahren wurde alsbald das Deformationsverfahren an die Seite gestellt, ohne die Führungsposition des Kraftgrößenverfahrens in Frage zu stellen. Auf der anderen Seite verlor die Baustatik in den 1930er-Jahren den innovativen Flugzeugbau, der in wenigen Jahren mit der Flugzeugstatik eine eigenständige technikwissenschaftliche Disziplin hervorbrachte. Mit der Verbreitung des Hochhausbaus in den 1920er-Jahren stießen in der Rechenpraxis nicht nur das Kraftgrößenverfahren, sondern auch das Deformationsverfahren schnell an ihre Grenzen. Abhilfe schafften vorerst Iterationsverfahren wie jenes von Hardy Cross (1930), mit dem die Schnittgrößen hochgradig statisch unbestimmter Systeme auf einfachste Weise zügig bestimmt werden konnten. So entwickelte sich die Rationalisierung des statischen Rechnens zum wissenschaftlichen Gegenstand der Baustatik.

    2.1.3.1 Akkumulationsphase (1900–1925)

    In der Akkumulationsphase dehnte sich die Baustatik auf andere technische Gebiete aus: den Stahlbetonbau, den Maschinen- und Anlagenbau, den Kranbau und schließlich den Flugzeugbau. Die Baustatik setzte damit den universellen Anspruch der Theorie der linear-elastischen Stabwerke nach außen um. Nach innen dagegen realisierte sie ihre Universalität durch Offenlegung der dem Kraftgrößenverfahren zugrunde liegenden Linearen Algebra in Form der Determinantentheorie. Hinzu trat das sich aus der Theorie der Nebenspannungen von Fachwerken entwickelnde Deformationsverfahren. So zeichneten sich schon am Ende der Akkumulationsphase die Konturen der dualen Struktur der Baustatik ab. Ein weiteres Merkmal dieser Phase bestand in der Konstruktion zahlreicher baustatischer Sonderverfahren zur quantitativen Beherrschung mehrfach statisch unbestimmter Systeme. Am Ende der Akkumulationsphase stand der geschlossene und einheitliche Aufbau der Baustatik aus dem Prinzip der virtuellen Verrückungen. Damit vollendete sich die Nobilitierung der Baustatik durch die Angewandte Mathematik und Mechanik, die ihren adäquaten Ausdruck in den Beiträgen von Martin Grüning (1869–1932) und Karl Wieghardt (1874–1924) für die Enzyklopädie der Mathematischen Wissenschaften im Jahre 1914 fand (Bild 2-7).

    BILD 2-7 Titelblatt der Enzyklopädie der Mathematischen Wissenschaften. Band IV/4 (1907–1914)

    Das vornehmste Ziel des Studiums der Statik erblicke ich in der wissenschaftlichen Erkenntnis und der Beherrschung der Theorie, die zur selbständigen Behandlung des Einzelfalles, auch des ungewöhnlichen, befähigt (…). Zur Begründung und Entwicklung der Theorie nutze ich in beabsichtigter Beschränkung allein das Prinzip der virtuellen Verrückungen [Grüning, 1925, S. III].

    Die Statik der Tragwerke stellt (…) zwei zusammenhängende Aufgaben:

    ist die Größe des als Kraft aufgefaßten Widerstandes jedes Gliedes zu berechnen (Schnitt- u. Auflagerkräfte – d. Verf.), der dem Angriff der äußeren Einwirkungen in der Gleichgewichtslage entgegensteht: »Gleichgewichtsaufgabe«;

    ist die Größe der Verschiebungen der Knotenpunkte aus der spannungslosen Anfangslage in die Gleichgewichtslage zu berechnen: »Formänderungsaufgabe«.

    Beide Aufgaben sind so miteinander verknüpft, daß, wenn die eine vollständig gelöst ist, die andere als gelöst angesehen werden kann [Grüning, 1925, S. 7].

    Kommentar: Martin Grünings deduktiver Aufbau der gesamten Baustatik aus dem Prinzip der virtuellen Verrückungen (dem er das Prinzip der virtuellen Kräfte unterordnete) führte zur Erkenntnis des inneren Zusammenhangs zwischen Gleichgewichts- und Formänderungsaufgabe. Äußerer Ausdruck hierfür ist die Tendenz zur Gleichberechtigung von Kraft- und Verschiebungsgrößen in der Praxis des statischen Rechnens: Interessierten früher nur die Kraftgrößen von statischen Systemen, so mussten die Baustatiker der Berechnung von Verschiebungsgrößen größere Beachtung schenken, da sie immer schlanker konstruierten.

    2.1.3.2 Inventionsphase (1925–1950)

    Die Inventionsphase der Baustatik ist durch mehrere Neuentwicklungen gekennzeichnet: Theorie der Flächentragwerke, Entwicklung des Deformationsverfahrens zu einem dem Kraftgrößenverfahren dualen Hauptverfahren der Baustatik, Erfassung nichtlinearer Phänomene (Theorie II. Ordnung, Plastizität), Konstruktion numerischer Verfahren. Mit der durch die Theorie praktisch nicht lösbaren Berechnung hochgradig statisch unbestimmter Systeme rückte die Analyse des statischen Rechnens in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses. Die Auflösung des statischen Rechnens in arithmetische Grundoperationen war hierbei das Ziel; Algorithmisierung ihr inneres und Taylorisierung der Rechenarbeit des Ingenieurs ihr äußeres Merkmal.

    The purpose of this paper is to explain briefly a method which has been found useful in analyzing frames which are statically indeterminate. The essential idea which the writer wishes to present involves no mathematical relations except the simplest arithmetic [Cross, 1932/1, S. 1].

    A method of analysis has value if it is ultimately useful to the designer; not otherwise. There are apparently three schools of thought as to the value of analyses of continuous frames. Some say, »Since these problems cannot be solved with exactness because of physical uncertainties, why try to solve them at all?« Others say, »The values of the moments and shears cannot be found exactly; do not try to find them exactly; use a method of analysis which will combine reasonable precision with speed«. Still others say, »It is best to be absolutely exact in the analysis and to introduce all elements of judgment after making the analysis«.

    The writer belongs to the second school; he respects but finds difficulty in understanding the viewpoint of the other two. Those who agree with his viewpoint will find the method herein explained a useful guide to judgment design.

    Members of the last named school of thought should note that the method here presented is absolutely exact if absolute exactness is desired. It is a method of successive approximations; not an approximate method [Cross, 1932/1, S. 10].

    Kommentar: In der Maiausgabe von 1930 der Proceedings of the American Society of Civil Engineers (ASCE) publizierte Hardy Cross (1885–1959) aus den USA auf zehn Druckseiten das später nach ihm benannte Iterationsverfahren zur Berechnung statisch unbestimmter Systeme (Bild 2-8). Gut zwei Jahre später erschien seine Arbeit in den Transactions of the American Society of Civil Engineers ergänzt durch eine 146 Seiten umfassende Diskussion, an der 38 angesehene Ingenieure teilnahmen.

    BILD 2-8 Erste Seite des bahnbrechenden Aufsatzes von Cross in den Proceedings des ASCE (1930)

    Noch nie löste ein Aufsatz auf dem Gebiete der Baustatik eine derart breite Diskussion aus. In seinem Beitrag formulierte Cross die Abkehr von exakten baustatischen Lösungen und substituierte sie durch schrittweise Annäherung an die Wahrheit. Er präferierte baustatische Analysemethoden, die vertretbare Genauigkeit mit Rechengeschwindigkeit kombinierten. Der im Kalkülzeichen der Infinitesimalrechnung aufgehobene unendliche Progress (i. S. des Grenzwertbegriffes) wird durch den endlichen Progress der lebendigen Arbeit des Rechners ersetzt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch diese Arbeit maschinisiert wird. Nur wenige Jahre später sollte Konrad Zuse (1910–1995) an einer solchen Maschine arbeiten: der Rechenmaschine des Ingenieurs [Zuse, 1936]. Cross steht für die fordistische Produktionsweise statischer Berechnungen im Übergang zur Integrationsperiode der Baustatik. Was Wunder, wenn zu seinem Verfahren bis weit in die 1960er-Jahre unzählige Publikationen erscheinen?

    2.1.4 Integrationsperiode (1950 bis heute)

    Auch die Flugzeugstatik geriet mit den aus der Baustatik adaptierten Verfahren und ihrer Ergänzung durch die Leichtbaustatik schon bald an ihre Grenzen. Zur Berechnung hochgradig statisch unbestimmter Systeme, d. h. zum Zwang der Rationalisierung des statischen Rechnens, trat im Flugzeugbau noch ein weiteres Problem: die Flugzeugstruktur bestand aus Stäben, Platten und Schalen geringen Gewichtes, welche als Ganzes dynamischer Einwirkung ausgesetzt war und deshalb große Verformungen zeigte. Was lag näher, als das Ganze in Elemente zu zerlegen, diese an und für sich mechanisch zu betrachten, und unter Beachtung der Übergangsbedingungen wieder zusammenzusetzen, wie es die Schöpfer der Methode der Finiten Elemente Turner, Clough, Martin und Topp 1956 taten? Was lag näher, als die formale Eleganz des Kraftgrößen- und Deformations-Verfahrens zu nutzen, um die gesamte Baustatik aus der Perspektive der Matrizentheorie zu reformulieren, wie dies Argyris 1956 tat? Perspektivisch konnte die gesamte Disziplin auf den Computer in Form von Programmsystemen implementiert werden! Damit sprengen die traditionellen technikwissenschaftlichen Grundlagendisziplinen ihre disziplinären Grenzen. Mit dem Computer entsteht in der ersten Hälfte der Integrationsperiode die moderne Strukturmechanik, als deren Subdisziplin die Baustatik heute erscheint. Nach der Integrationsperiode formiert sich die Computational Mechanics, welche den Gegenstandsbereich der Strukturmechanik mit umfasst. Was der Inhalt der Initialphase der Vorbereitungsperiode der Baustatik vor ca. 250 Jahren ausmachte, nämlich die bewusste Anwendung der Infinitesimalrechnung zur Untersuchung von Tragstrukturen, wiederholt sich auf höherer Stufe durch bewusste Anwendung einer Finitesimalrechnung. Stehen die Computational Mechanics bzw. Strukturmechanik und die in ihr aufgehobene Baustatik vor einer Disziplinbildungsperiode anderer Art? Lösen sich die genannten Disziplinen in einer universellen Technischen Physik auf? Werden sie integraler Bestandteil einer die mathematischen Grundlagen betonenden Ingenieurinformatik (Computational Engineering) [Pahl u. Damrath, 2001]?

    2.1.4.1 Innovationsphase (1950–1975)

    Die Innovationsphase ist auf theoretischer Ebene durch die Entstehung der modernen Strukturmechanik und auf praktischer Ebene durch die Automatisierung des statischen Rechnens charakterisiert. Gegenüber anderen numerischen Ingenieurmethoden gewinnt die Finite-Elemente-Methode (FEM) zunehmend an Boden: Ray William Clough gibt ihr 1960 den Namen, während Oligierd Cecil Zienkiewicz (1921 – 2009) und Yau Kai Cheung sie 1967 erstmals in einer Monografie zusammenfassen (Bild 2-9).

    A method is developed for calculating stiffness influence coefficients of complex shell-type structures. The object is to provide a method that will yield structural data of sufficient accuracy to be adequate for subsequent dynamic and aeroelastic analyses. Stiffness of the complete structure is obtained by summing stiffnesses of individual units. Stiffness of typical structural components are derived in the paper. Basic conditions of continuity and equilibrium are established at selected points (nodes) in the structure. Increasing the number of nodes increases the accuracy of results. Any physically possible support conditions can be taken into account. Details in setting up the analysis can be performed by nonengineering trained personnel; calculations are conveniently carried out on automatic digital computing equipment. (…) It is to be expected that modern developments in high-speed digital computing machines will make possible a more fundamental approach to the problems of structural analysis; we shall expect to base our analysis on a more realistic and detailed conceptual model of the real structure than has been used in the past. As indicated by the title, the present paper is exclusively concerned with methods of theoretical analysis; also it is our object to outline the development of a method that is well adapted to the use of high-speed digital computing machinery [Turner et al., 1956].

    BILD 2-9 Titelblatt des Buches The Finite Element Method in Structural and Continuum Mechanics (1967) von Zienkiewicz und Cheung

    Kommentar: Die im Flugzeugbau und Bauingenieurwesen tätigen Autoren schlagen ein grundlegendes Konzept der strukturmechanischen Analyse vor, das wenige Jahre später den Namen Methode der Finiten Elemente tragen wird. Alsbald stellte sich heraus, dass mit dieser Methode prinzipiell sämtliche Feldprobleme gelöst werden können. In der Methode der Finiten Elemente verschmolz die epistēmē mit der technē: Theorieentwicklung steht nunmehr in unmittelbarem Zusammenhang mit der computergestützten Rechenpraxis.

    2.1.4.2 Diffusionsphase (1975 bis heute)

    Durch Einführung von Personalcomputern, Computernetzwerken und schließlich des Internets wurde das computergestützte statische Rechnen zur Selbstverständlichkeit. Das Erkenntnisinteresse der Baustatik verlagerte sich von der Automatisierung des statischen Rechnens und seinem theoretischen Hintergrund zum Kontextualen. Tragwerkplanung wird zunehmend als systemintegrierter Prozess begriffen wie die BIM-Technologie (Building Information Modeling) zeigt (Bild 2-10). Der Aufhebung der Baustatik in der modernen Strukturmechanik folgt die Neubestimmung des statischen Rechnens in der Kette vom Entwurf, Rechnen, Bemessen, Konstruieren, Zeichnen über das Fertigen und Montieren bis hin zum Nutzen, Umnutzen, Reparieren und Entsorgen. Damit müsste auch ein grundsätzlicher Wandel der traditionellen Ingenieurmathematik einhergehen, da der Ingenieur zunehmend mit Problemen wie der Koordination von Planungsprozessen bis hin zum Dokumentationsmanagement konfrontiert ist.

    In der Baustatik hat sich in den letzten Jahren durch den Computer ein grundlegender Wandel vollzogen. Für den Praktiker ist die eigentliche Rechnung – früher Kernstück des Statikers – in den Hintergrund getreten. Die bisherige Erfahrung zeigt, daß selbst ausgefeilte Rechenprogramme ein erhebliches Basiswissen über die Hintergründe und Annahmen der Methode und zur Beurteilung der Ergebnisse erfordern.

    Stabtragwerke sind naturgemäß methodisch und programmtechnisch am weitesten entwickelt. Erweiterungen auf der Berechnungsseite erfassen derzeit zusätzliche Effekte wie zeitabhängige und zyklische Beanspruchungen, Nichtlinearitäten, lokale und globale Versagensphänomene, Kopplungsprobleme wie Bauwerk-Boden-Interaktion, stochastische Probleme. Die Integration der Strukturanalyse in die gesamte Tragwerksplanung (Konstruieren, Berechnen, Bemessen, Zeichnen) ist weit fortgeschritten. Wenig wird bisher der eigentliche Entwurfsprozeß durch Software unterstützt. Es ist deshalb zu erwarten, daß zukünftige Entwicklungen gerade in diesem Bereich stattfinden. Hierzu gehören die Strukturoptimierung, Sensitivitätsanalysen (»was, wenn«-Studien), automatische Untersuchung von Tragwerks- und Werkstoffalternativen einschließlich Detailplanungen und wissensbasierte Systeme. Das mechanische Modell stellt in diesen Untersuchungen den Kern dar [Ramm u. Hofmann, 1995, S. 340].

    BILD 2-10 Cover des Sonderheftes BIM – Building Information Modeling (2014)

    Kommentar: Die Autoren reflektieren die Berücksichtigung physikalischer Effekte, die aufgrund der begrenzten Rechnerkapazität bei der Analyse von Tragstrukturen bislang eher randständig waren; bei der Tragstruktursynthese im Entwurfsstadium dagegen stellen sie Forschungslücken fest. Die Schaffung einer entwurfsorientierten Baustatik auf der einen und einer konstruktionsorientierten Baustatik auf der anderen Seite könnte zu einer verbesserten computergestützen Kooperation des Entwerfens, Rechnens, Bemessens, Konstruierens und Zeichnens beitragen.

    2.2 Vom Hebel zum Fachwerk

    Schon Archimedes (267–212 v. u. Z.) wollte mit dem Hebel die Welt aus den Angeln heben: Faß an und Du wirst sie bewegen heißt es auf der Titelvignette zu Pierre Varignons (1654–1722) 1687 erschienener Schrift Projet d'une nouvelle mécanique (Bild 2-11), den Ausspruch Archimedes' illustrierend: Am Anfang der Baustatik stand das Hebelgesetz.

    BILD 2-11 Archimedes mit dem Hebel – die Welt aus den Angeln hebend [Rühlmann, 1885, S. 20]

    Bis zum Aufkommen der Festigkeitslehre Galileis im Jahre 1638 beherrschten das Hebelgesetz, das Prinzip der virtuellen Verschiebungen und das Kräfteparallelogramm die historisch-logische Entwicklung der Statik. Eine vortreffliche, kurze Zusammenfassung der Rezeption der Prinzipien der antiken Statik durch Wissenschaftler der frühen Neuzeit gab Massimo Corradi [Corradi, 2005].

    Auf der Ebene der Statik starrer Körper beschritten die kinematische und geometrische Richtung der Statik bis zur analytischen Synthese von Lagrange im Jahre 1788 eigene Wege. Erst mit der Verschmelzung von Statik und Festigkeitslehre zur Baustatik im 19. Jahrhundert eroberte das Energieprinzip und das Prinzip der virtuellen Kräfte im letzten Jahrhundertdrittel die Analyse deformierbarer Tragstrukturen. Das Prinzip der virtuellen Verschiebungen dagegen verlor in dieser Zeit für die Baustatik an Bedeutung.

    2.2.1 Hebelgesetz nach Archimedes

    Der aus der hellenistischen Wissenschaftstradition ragende Mathematiker Archimedes (267–212 v. u. Z.) entfaltet das Hebelgesetz in seinem Buch De aequiponderantibus in drei Axiome [Mach, 1912, S. 10]:

    Gleichschwere Körper an gleichen Hebelarmen sind im Gleichgewicht (Bild 2-12a):

    Gleichschwere Körper an ungleichen Hebelarmen sind es nicht (Bild 2-12b):

    Wenn sich zwei Körper an gewissen Hebelarmen im Gleichgewicht befinden und F1 oder F2 verändert werden, so muss die

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