"Er hatte zwei Märchen. Ein eigenes, von dem niemand wusste. Und ein zweites, das der Großvater erzählte. Am Ende blieb keins übrig. Davon handelt diese Erzählung." "Der weiße Dampfer" ist neben "Dshamilja" eines der wichtigsten und bekanntesten Werke von Tschingis Aitmatow. "Großvater Momun und sein von den Eltern verlassener, von der Großmutter ungeliebter Enkel gehören zu den faszinierendsten Paaren der Weltliteratur. Uralte Naturmythen und eine innig-unpathetische Liebe zwischen diesen beiden verbinden sich zur poetischen Zivilisationskritik." schreibt die Zeitung "Freitag" über das Buch.
Das Buch ist sehr ergreifend und beeindruckend. Ein siebenjähriger Junge lebt bei seinen Großeltern in den kirgisischen Bergen. Die einzige Figur, die den elternlosen Jungen liebt, ist sein Großvater Momun, der ein liebenswerter und guter Mensch ist, doch gerade deswegen von allen verachtet wird,. V.a. sein Schwiegersohn, der Förster Oroskul, schickaniert ihn. Der Junge hörtvon seinem Großvater Märchen und Mythen. Besonders bedeutsam ist die "Gehörnte Hirschmutter", eine Maralkuh, die die kirgisischen Stämme beschützte und vor der Ausrottung bewahrte. Doch der tyrannische Oroskul, materialistisch eingestellt, glaubt nicht an die Legende und als vor der Försterei plötzlich Marale auftauchen, zwingt der herzlose Förster seinen Schwiegervater, die Maralkuh zu erschießen. Die Geschichte ist herzzerreißend traurig und sie hat kein glückliches Ende. Dennoch ist sie zutiefst beeindruckend, denn sie zeugt von Menschlichkeit und Zuneigung in einer hartherzigen Welt.
tangotango-1
Bewertung: 4 von 5 Sternen
4/5
Sep 20, 2014
Was der Autor selbst über sein Buch schreibt, gefällt mir sehr gut: "Er hatte zwei Märchen. Ein eigenes, von dem niemand wusste. Und ein zweites, das der Großvater erzählte. Am Ende blieb keins übrig. Davon handelt diese Erzählung."
Das Buch handelt von einem siebenjährigen Jungen, der in einem abgelegenen Forstbetrieb bei seinem Großvater aufwächst. Die Eltern haben ihn dort zurückgelassen, und in seinen Tagträumen malt er sich ein Wiedersehen mit ihnen aus. Die Realität ist hart, in der kleinen Gemeinschaft aus wenigen Häusern begegnet er Gleichgültigkeit, sogar Hass, Alkoholsucht, der Frustration der kinderlosen Tante und vor allem dem "unermüdlichen Momun", seinem Großvater, gutmütig und ausgenutzt. Durchwoben wird diese reale Geschichte von der Sage der Gehörnten Hirschmutter:
Hier hielt die Blatternarbige Lahme Alte, stellte die Kleinen nebeneinander an den Rand des Abgrunds und sagte, bevor sie sie hinunterstieß: "O großer Fluss Enessai! Stürzt man einen Berg in deine Tiefe, dann verschwindet er wie ein Stein. Wirft man eine hundertjährige Kiefer hinunter, dann trägst du sie fort wie einen Span. Nimm zwei winzige Sandkörnchen in deine Fluten auf - zwei Menschenkinder. Auf Erden ist für sie kein Platz. Muss ich es dir erklären, Enessai? Würden die Sterne zu Menschen, dann würde ihnen der Himmel nicht reichen. Würden die Fische zu Menschen, dann würden ihnen die Flüsse und Meere nicht reichen. Muss ich dir das erklären, Enessai? Nimm sie, trag sie davon. Mögen sie unsere widerwärtige Welt in jungen Jahren reinen Herzens verlassen, mit kindlichem, von keinen bösen Vorsätzen und Taten befleckten Gewissen, auf dass sie nie menschliches Leid erfahren und selber andern keins zufügen. Nimm sie, nimm sie, großer Enessai..."
Das Buch hat mir gut gefallen, vor allem die Erzählweise und Sprache. Aitmatow hat eine archaische Poesie in seiner Erzählung, die doch stets stoisch bleibt, gleich wie sehr die Personen darin leiden oder fehlgehen.